Stück
Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder
von Boris Nikitin
Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)
Assoziationen: Dramatik
Früher haben wir über den Container gelacht,
heute sitzen wir alle drin.
Die Namen der Charaktere sind der ersten Staffel der Reality-Show „Big Brother“ aus dem Jahr 2000 entnommen.
Erster Akt
Prolog
Heute ist Tag 65.
Es geht mir den Umständen entsprechend gut.
Gestern gab es einen Streit mit –.
Da ist was unglücklich gelaufen.
Morgen ist wieder Sonntag. Ich bin nominiert und
es könnte sein, dass ich das Haus verlassen muss.
Vielleicht wär das gut.
Wieder ein normales Leben führen.
Im Café sitzen.
Echte Menschen.
Aber ob das noch gehen wird?
Das hier verändert uns.
Ich weiß gar nicht, zu wem ich eigentlich spreche.
Spreche ich überhaupt zu jemandem?
Ihr da draußen denkt: Die armen Schweine, was machen die.
Ihr da draußen denkt, ihr wärt sicher da draußen.
Aber niemand ist sicher, niemand.
Dieses Draußen
gibt es nicht mehr.
Einblendung
Es ist der Jahreswechsel 1999 / 2000. Der Millennium-Crash ist nicht eingetreten. Computer, das Internet, Überwachungskameras – alles läuft weiter. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Vize Joschka Fischer gehen in ihr zweites Amtsjahr. Die US-amerikanische Sängerin Britney Spears führt mit dem Song „Oops, I did it again“ die Charts an. Mohammed Atta, ein junger Student aus Saudi-Arabien, ist in Hamburg an der Technischen Universität eingeschrieben und beschäftigt sich mit Maschinenbau. Und in einer unbedeutenden Stadt in Deutschland ziehen zehn unbekannte Menschen in einen Container, um sich für eine TV-Show während hundert Tagen rund um die Uhr von einer ganzen Bevölkerung bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachten zu lassen: Zähneputzen, Kartenspielen, Schlafen, Duschen, Smalltalk, Essen, Sex.
Alle Tätigkeiten der Bewohner*innen werden rund um die Uhr von Videokameras gefilmt und ins Internet übertragen. Das Ganze ist zugleich ein Wettkampf, bei dem nach und nach die einzelnen Kandidat*innen vom Fernsehpublikum aus dem Container gewählt werden. Sechs dieser Kandidat*innen werden heute durch Schauspieler*innen des Nürnberger Staatstheater-Ensembles repräsentiert.
Das Konzept der TV-Show ist neuartig. Sowas habe es hier noch nie gegeben, verlautbaren die Leitmedien der Bundesrepublik.
Die Show hat den Charakter eines sozialen Experiments: Was genau passiert, wenn eine Handvoll Menschen sich über längere Zeit einen Wohnraum teilen muss, ohne diesen verlassen zu können? Was passiert, wenn sie dabei permanent beobachtet werden? Wie würden sich die Personen verhalten? Wie auf die Situation reagieren?
Ohne dass die Produzent*innen und Kandidat*innen es ahnen, wird damit ein neues Zeitalter eingeläutet. Das Zeitalter der Reality. Wissenschaftler*innen werden später behaupten, dass in dieser Reality unbewusst sämtliche Mechanismen des Populismus im 21. Jahrhundert angelegt wurden.
Dies ist eine Rekonstruktion.
Bei den Texten handelt es sich zu 100% um Originaldialoge aus der Show.
Sie sind komplett erfunden.
1.
Vor dem Container.
John: Mach bei mir direkt 80 drauf. 80.
Alex: Mach 60.
Jürgen: Mach einfach zwei 10er.
Alex: Ihr Freaks, ihr.
John: Ach was heißt hier Freak? Ich sag mal, ich hab mir einfach für hier drin soweit vorgenommen, dass ich sage: Die Zeit hast du ja, dann wärst du ja schön doof, verstehst du?
Jürgen: Ja, irgendwo schon.
John: Auch wenn nicht, ich mein, du wirst dich einfach irgendwann ärgern, wenn du sagst: Die ollen antrainierten Titten weg, der Bauch raus, und jetzt sind die hundert Tage abgelaufen, weißt du? Jürgen: Klar, die Zeit musst du produktiv machen.
Alex: He, Andrea. Du schaust besorgt aus. Traurig?
Andrea: Irgendwie seltsam. Ich hab das Gefühl, dass ich hier drin schneller altere als draußen. Schaut mal.
Jürgen: Drück ein paar Gewichte, das hält fit. Nur die Fitten überleben.
Andrea: Die Angepasstesten. Die Angepasstesten überleben. Das hat mit Kraft nichts zu tun. Schaut euch mal diese Haut an. Kann doch nicht wahr sein, diese Struktur. Muss Krebs sein oder sowas. Was ist mit diesem Körper los?
Alex: Hast wieder schlecht geschlafen diese Nacht?
John: Ich schlaf hier wie ein Baby.
Andrea: Ich wundere mich, dass ich überhaupt bis hier überlebt hab. Bin ein schlechter Schläfer, seit ich mich erinnern kann, schon als Kind. Hab ich immer Stunden gebraucht, bis ich eingeschlafen bin. Eigentlich keine so guten Voraussetzungen für dieses Leben.
Jürgen: Das ist natürlich scheiße, sowas. Ein guter Freund von mir leidet unter Schlaflosigkeit, der pennt dafür am Tag einfach so ein, und stell dir vor, manchmal, wenn er dann aufwacht, weiß er nicht, wo er ist. Das ist wie Schlafwandeln. Anscheinend steigt da im Gehirn eine Funktion aus, die den Körper mit dem Raum verbindet. Verrückt, oder?
Alex: Was hast du denn in der Zeit gemacht, in der du nicht einschlafen konntest?
Andrea: Nachgedacht.
Jürgen: Worüber denkt ein kleines Mädchen nach, wenn es nicht einschlafen kann?
Andrea: Alles Mögliche. Das, worüber alle Kinder dieser Welt nachdenken.
Alex: Und was ist das?
Andrea: Wie komm ich von hier weg?!
John: Klingt wie bei uns früher im Osten.
Alex: Gleich gibt es essen.
Andrea: Ich hab auch echt Hunger.
Alex: Das wichtigste beim Grillen: Wenn du mit Kohle arbeitest, brauchst du Briketts und Kohle. Briketts, damit es länger hält. Is’ so!
Jürgen: Ich hör dir ja zu. Alex: Dann machst du dir einen Kreis aus Kohle. Einen Kranz. Das nennt man den Kohlekranz. Sieht aus wie ein kleiner Vulkan. Machst du Brennspiritus. Außen rum. Dann kommst du ran mit dem Feuerzeug, zündest an. Jetzt arbeitet sich das Feuer, arbeitet sich in die Mitte zu den Briketts, die fangen dann an zu glühen und das ist wichtig: Wenn’s glüht – weg, denn dann wird’s richtig heiß.
John: Die Kohle brennt, dann glüht sie und dann erst ist es heiß?
Jürgen: Jetzt kommt die Preisfrage. Pass auf. Jetzt ist das Fleisch auf dem Grill. Jetzt brennt das Fleisch. Das Fett.
Alex: Ja, tropft runter. Und brennt. Jürgen: So. Ablöschen mit Bier oder nicht?
Andrea: Hübsches Tattoo, übrigens. Wollte ich dir schon seit Wochen sagen.
John: Danke.
Andrea: Ich hab auch zwei.
Alex: Die hast du aber gut versteckt. Ich dachte, hier würde einem nichts entgehen.
Jürgen: Sie ist eben ein diskreter Mensch.
Alex: Diskrete Menschen sind mir suspekt. Sind höflich, haben ein freundliches Lächeln, strahlen genug menschliche Wärme aus, dass man ihnen das Herz ausschüttet, bevor sie einen dann von hinten erstechen.
Andrea: Hast wohl schlechte Erfahrungen gemacht, draußen.
Alex: Draußen. Drinnen. Da gibt es keinen Unterschied.
Jürgen: dreht sich auf dem Liegestuhl. So, das Hähnchen wendet sich.
Andrea: Hat es denn eine spezielle Bedeutung, dein Tattoo?
John: Hab ich mir vor zwölf Jahren zum Geburtstag in Leipzig stechen lassen, als Erinnerung an die NVA.
Alex: Ein Grenzer.
John: War da mit einem Kumpel eine Woche auf Wache stationiert, im Winter. Hat mehrere Tage durchgeregnet. Überall nur vernebelte, graubraune Wiesen, kackbrauner Matsch und Stacheldraht. Eines Morgens hat sich ein krankes Reh darin verrannt. Mein Kumpel und ich versuchten es aus dem Draht raus zu flechten, aber da war nichts zu machen. War ziemlich deprimierend. Ein paar Tage später ist er durchgedreht.
Andrea: Was ist passiert?
John: Er griff zu einer Glock und hat sich bei blassem Mondschein selbst ein Genickschuss versetzt. Da wusste ich: Es ist vorbei. Ein Land, dass sein Volk nicht liebt, ist dem Untergang geweiht.
Jona kommt aus dem Container raus.
Jona: Morgen!
Andrea: Bist du nicht etwas zu jung, um bei der NVA gewesen zu sein?
Alex: Der erzählt nur Geschichten. Du erzählst nur Geschichten.
Andrea: Gefällt dir, dass man bei dir nie weiß, woran man ist?
John: Ist eine Frage des Standpunktes. Bist du immer ehrlich?
Andrea: Immer. Ich hab dich letzte Woche nominiert.
John: Und warum?
Andrea: Ich konnte mich nicht entscheiden. Hab eine Münze geworfen.
John: Ich dachte, sowas tut man nur in der Armee.
Alex: Das hier ist ja auch sowas wie ein Bunker.
John: Du hast mich nominiert, weil du mich magst.
Andrea: Dich zu mögen, ist meine letzte Sorge hier.
Einblendung
Im Container herrschen verschiedene Regeln. Zentraler Bestandteil der Show ist z. B. die vollständige Isolation der Bewohner*innen. Sie sind über die Dauer ihres Aufenthaltes im Container von der Außenwelt abgeschnitten. Es besteht strikte Informationssperre.
Die wichtigste der im Container herrschenden Regeln betrifft das Selektionsverfahren. Alle zwei Wochen nominiert jede*r Bewohner*in zwei andere Mitspieler*innen. Das Fernsehpublikum entscheidet im Verlauf der folgenden Woche per Telefon-Abstimmung, wer von den Nominierten das Haus verlassen muss. Den abstimmenden Zuschauer*innen winkt als Preis ein DVD-Player der Marke Grundig im Wert von 3000 Mark. Von den am Ende übrig bleibenden drei Kandidat*innen wird schließlich eine Person als Gewinner*in gewählt. Die Gewinnsumme beträgt 250000 Mark.
2.
Vor dem Container. Jona und Jürgen. Die anderen sind im Container.
Jona: zu den Hühnern
Putt putt putt putt! Na guten Morgen ihr kleinen Mistviecher. Habt ihr gut geschlafen in eurer kleinen, verbarrikadierten Scheißkiste? Ihr habt’s gut, euch ist das alles egal, was? Checkt gar nicht, was mit euch passiert. Könnt von Glück sprechen, dass ihr nicht beim Schlachter gelandet seid; habt die philosophische Dimension eurer Existenz hier noch gar nicht richtig überblickt, was?
Wusstet ihr, dass der Mensch das erfolgreichste Säugetier ist, rein von der Verbreitung her auf dem Planeten. Gefolgt vom Schwein und vom Hund.
Jürgen: Ziemlich professionell sieht das aus.
Jona: Das sieht nicht nur professionell aus, das ist professionell. Meine Mutter ist auf einem Bauernhof groß geworden, mit allem drum und dran, Schweine, Kühe, Hühner, tiefster urdeutscher Protestantismus. Viele Geschwister. Männer die ihre Frauen schlagen. Habs von meinen Großeltern gelernt.
Jürgen: Das Schlagen?
Jona: Wie man mit Tieren umgeht. Ist eine Welt für sich. Füttern, pflegen, waschen, paaren. Schlachten.
Jürgen: Hast du das schon mal gemacht? Ich meine das Schlachten.
Jona: Ich kann dir einen kompletten Hasen ausnehmen.
Jürgen: Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich hab mal im Fernsehen eine Dokumentation über einen Schlachthof gesehen. Das war ziemlich brutal.
Jona: Das sind die industriellen Schlachtereien. Bei meinen Großeltern ist das noch Handarbeit. Dafür braucht es Präzision und Feingefühl, fast wie bei einer Beschneidung.
Jürgen: Du meinst wie bei den Juden?
Jona: Im Grunde ist es ganz einfach: Du nimmst den Hasen an den Hinterläufen, legst die Ohren nach vorne und streichelst ihm noch ein bisschen über den Kopf, damit er sich entspannt. Das ist wichtig für die Konsistenz des Fleisches später. Dann nimmst du ein Stück Holz und haust ihm das Genick ab.
Jürgen: Das ist wirklich besonders feinfühlig und präzise.
Jona: Du nimmst ein Messer und stichst dem Hasen in den Hals hinein, sodass er ausblutet. Danach hängst du ihn an den Hinterläufen mit zwei Schnüren am Türstock fest und schneidest auf Höhe der Achillessehne rund um den Lauf links und rechts das Fell ein. Dann schneidest du weiter, dem Lauf entlang zum After, links und rechts, brichst vorsichtig das Becken und beginnst von den Hinterläufen das Fell entlang der Bauchdecke abzuziehen, bis über die Ohren. Dann fährst du bei den Vorderläufen mit dem Daumen in die Achseln hinein, um die Vorderläufe zu befreien, und ziehst das Fell komplett hinunter. Sogleich, knix, knax, brichst du die Vorderläufe ab, schneidest den Kopf ab, das fällt dann alles in den Kübel. Am Ende musst du vorsichtig die Bauchdecke öffnen, wobei man dabei aufpassen muss, dass man nicht die Galle erwischt, weil sonst würde das Fleisch bitter werden.
Jürgen: Du solltest Arzt werden.
Jona: Für mich ist das ganz normal.
Jürgen: Als ich ungefähr zehn war, ist meine Großmutter gestorben. Ich weiß noch, dass ich überhaupt nicht traurig war und aber das Gefühl hatte, dass das alle irgendwie von mir erwarteten. Also hab ich versucht zu weinen. Ist mir aber nicht gelungen. Ich glaub, ich hab so ein Problem mit den Tränendrüsen. Ist eine anatomische Anomalie. Und ich habe eine Armspanne von zwei Metern. Das ist ebenfalls anatomisch ziemlich speziell. Als ich 16 war, durfte ich bei den Passionsspielen bei uns im Dorf Jesus spielen. Bei der Kreuzigungsszene ging ein Raunen durchs Publikum, das ist mir bis heute in den Ohren. Ich bin berühmt als Jesus mit den längsten Armen. Die Leute im Dorf sprechen heute noch heute davon. Bist du gläubig?
Jona: Nein. Meine Eltern sind 68er. Weg vom Land, weg vom Patriarchat.
Jürgen: Verstehe. Der Himmel ist leer.
Jona: Wenn ich eine Kirche betrete, dann find ich das von der Architektur her beeindruckend, aber hier drinnen spür’ ich nichts.
Jürgen: Ja, das muss von innen kommen.
Jona: Bist du gläubig?
Jürgen: Ich bin Rheinländer.
Jona: Deswegen bist du immer so gut gelaunt.
Jürgen: Absolut bibelgeprüfte Fröhlichkeit. Meine Lieblingsstelle in der Bibel ist, wenn Jesus am Kreuz sagt: Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?
3.
Sabrina im Confessions-Room
Sabrina: Lach ich oder nicht?
Und jetzt?
Und jetzt?
Und jetzt?
Das war alles nicht so geplant, nicht wahr?
Darauf müssen wir uns jetzt einstellen, hier drin. Das müssen wir lernen, daran müssen wir uns gewöhnen, und das bedeutet, Dinge so oft zu wiederholen, bis wir sie verstanden haben.
Und es ist erstaunlich, wie schnell das geht.
Vor ein paar Tagen musste eine Person das Haus verlassen, die mir nahe stand.
Es ist klar, dass sie von den anderen nominiert wurde, weil sie Dinge angesprochen hat, die ungemütlich sind und anecken.
Und manche können damit eben nicht umgehen.
Wir sind hier in so einem Konstrukt, dem wir zugestimmt haben und dessen Spielregeln wir kennen. Und nominiert und rausgewählt wirst du, wenn du für die anderen nicht mehr funktionierst.
Aber du darfst das nicht persönlich nehmen.
Das weiß ich aus Erfahrung, von meinem Dachdeckerbetrieb, draußen.
14 Angestellte hab ich gehabt.
Aber die sind jetzt alle weg.
Was hier drin niemand weiß. Das wisst nur ihr.
Nichts darf man persönlich nehmen. Das ist eine Frage der Professionalität. Wenn ich rausgewählt werde, dann werde ich rausgewählt.
Ich muss niemandem was beweisen.
Und deswegen werde ich hier als Gewinnerin rausgehen.
Zweiter Akt
4.
Alle zusammen im Wohnzimmer des Containers.
Alex: Is’ so! Das war in Brasilien. Da hatte jeder sein Kindermädchen, da gab’s ein Fahrer, da gab’s Wachpersonal.
Andrea: Wie lange warst du da? Zehn Jahre?
Alex: Bis zu meinem zehnten Lebensjahr. Mit zehn bin ich nach Deutschland gekommen, nach Bonn.
Andrea: Da war alles vorbei.
Alex: Wenn du im Ausland bist, ist das natürlich geil, kannst deine Kinder abgeben, verdienst viel mehr, deutsches Gehalt, das war dann hier vorbei.
Sabrina: Warst du auf einer deutschen Schule?
Alex: Ich war in einer Grundschule in São Paulo. Eine brasilianische Schule, aber etwas für die gehobeneren Ansprüche. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich immer eine Uniform anhatte, ein Käppi, und da war so’n Hof innen, und die Klassenzimmer waren aussen rum gebaut, wie ’ne Parkanlage. Richtig geil. Total geschützt.
Jürgen: Eine Campus-Schule.
Alex: Die Klassenzimmer waren in den Hof. Da gab es keine Wände. Vorne und hinten und links hatte es Schränke für die Taschen, und da hast du dann ins Freie gekuckt.
Sabrina: Schön, wenn die Unis so sind.
Alex: Das war eine Grundschule. Kindergarten und Grundschule.
Sabrina: Als ich zur Schule ging, hab ich mich immer gefreut, wenn wir wieder weggezogen sind. Ich sah sehr brav aus, von außen. Das war aber nicht die Realität. Nach zwei Jahren konntest du wieder umziehen und hattest die reine Weste.
Jürgen: Und hinter dir verbrannte Erde.
Sabrina: Ich konnte nichts dagegen tun, dass die Leute mich falsch einschätzten. Es ist ein Fluch. Du wirst einmal angeschaut, und, zack, schon haben sie das Urteil über dich gefällt. Die können das gar nicht steuern. Die haben das nicht unter Kontrolle.
Alex: Das hat niemand unter Kontrolle.
Jona: Das blöde war bei mir, dass das immer mitten in den Schuljahren passiert ist.
Sabrina: Da haben meine Eltern immer aufgepasst. Mein Vater ist immer gependelt.
Jona: Dann war das auch meistens Bundesland übergreifend. Immer total aus der Bahn geworfen hat mich das. Scheiß Hippie-Eltern eben.
Sabrina: Wenn ich neue Leute treffe, merke ich mittlerweile, dass es mich sehr müde macht, diesen ganzen Small-Talk und dieses ganze Kennenlernen auf ein Neues durchzukauen. Ich bin immer sofort direkt und manche Menschen fühlen sich dann völlig überfahren.
Andrea: Ich finde das gut.
Alex: Ich find das auch gut.
John: Das hab ich damals auch im besetzten Haus gemerkt. Du kannst vielen Leuten sehr schnell auf die Füsse treten, wenn Du direkt bist. Damit kommen nicht alle klar.
Jürgen: Wieviel Leute hattet ihr da?
John: Im letzten, in dem ich gewohnt hab, 45. In einem Haus.
Jona: Das könnte ich nie!
Sabrina: Ich auch nicht.
Alex: Ich auch nicht.
John: Und da hast manchmal welche dabei, die ziehen ein, weil sie denken, sie könnten die Sau rauslassen. Die kommen so an den Tisch: „He, ich dreh mir mal eine, wa!“ Oder: „Machste mal ein paar Nudeln mit?“ Die schlängeln sich überall so durch. Und wenn du das ansprichst, wird alles geleugnet. Andrea: Ehrlichkeit ist nicht besonders populär. Meine Eltern zum Beispiel haben sich 30 Jahre lang gegenseitig etwas vorgespielt, um sich nicht ihre gescheiterte Ehe eingestehen zu müssen.
Sabrina: Warum haben sie sich nicht einfach getrennt?
Andrea: Weil sie Angst davor hatten. Das war der einzige Grund, weswegen die zusammengeblieben sind.
John: Da wächst zusammen, was nicht zusammengehört.
Jürgen: Tut mir leid für deine Eltern.
Andrea: Das einzige, was sie noch miteinander teilen konnten, war, andere beim Scheitern zu beobachten. Das verschaffte ihnen Erleichterung.
Sabrina: Typisch deutsch.
Andrea: Man sagt, die drei Dinge, die einen Menschen beruhigen, sind das Betrachten des Feuers, das Fließen eines Flusses und andere Menschen bei der Arbeit. Aber ich glaube, was den Leuten am meisten innere Ruhe verschafft, ist, den Menschen, die ihnen am allernächsten sind, beim Scheitern zuzuschauen.
Jona: Ein Freund von mir hat einmal gesagt: Immer wenn einem Freund etwas gelingt, zerbricht etwas in mir.
Andrea: Einen ziemlich ehrlichen Freund hast du.
Sabrina: Ok! Wir spielen ein Spiel! Es ist ein sehr einfaches Spiel. Es ist simpel. Alles was wir tun, fühlen, denken hängt damit zusammen. Hab es von meiner Schwester.
Alex: Hast du nicht gesagt, du bist Einzelkind?
Sabrina: War gelogen. Du hast zwei Optionen. Ich sage zwei Wörter und du wählst. Ich sage also zum Beispiel: Rot oder blau? Und du wählst aus und antwortest also:
Alex: Rot.
Sabrina: Genau.
Jona: Das ist alles.
Sabrina: Das ist alles. Sommer oder Winter?
Jona: Wer jetzt, ich?
Sabrina: Ja.
Jona: Ich weiß nicht. Sommer natürlich.
Sabrina: Nicht mehr sagen als das Wort!
Jona: Sommer.
Sabrina: Herbst oder Frühling.
Jona: Herbst.
Sabrina: Boris Becker oder Boris Jelzin.
Jona: Boris Jelzin.
Sabrina: Boris Jelzin oder Vladimir Putin.
Jona: Jelzin. Was soll’s.
Sabrina: Kalter Krieg oder heißer Krieg?
Jona: Kalter Krieg.
Sabrina: Krieg der Sterne oder Krieg der Welten?
Jona: Krieg der Sterne.
Sabrina: Warum?
Jona: Weil das ein guter Film ist.
Sabrina: Warum?
Jona: Wegen der Macht.
Sabrina: Ok. Schröder oder Fischer?
Jona: Fischer.
Sabrina: Soft-Sex oder Hardcore?
Jona: Soft-Sex.
Sabrina: Warum?
Jona: Dafür muss ich nicht extra in die Videothek.
Sabrina: Interessant.
Sabrina: Gemeinsam verhungern oder alleine überleben?
Andrea: Alleine überleben.
Sabrina: Gemeinsam verhungern oder alleine überleben und für immer allein bleiben? Ganz allein.
John: Töten oder getötet werden?
Sabrina: Töten.
Sabrina: Du oder ich?
Jona: Du.
5.
John im Confessions-Room.
Im Moment bin ich ein bisschen aufgebracht.
Es gab heute einen kleinen Streit.
Nichts Dramatisches eigentlich, Alltagskram.
Aber manchmal spitzen sich die Dinge hier drin eben zu.
Ich finde, wenn man in einer Gruppe ist, muss man sich auch anpassen können.
Man muss mit anderen Leuten vernünftig umgehen.
Man muss einen Plan machen, sonst funktioniert das nicht.
Wenn jeder seiner eigenen Laune entsprechend handelt, herrscht Chaos.
Ansonsten … Das Rauchen wird langsam ein Problem.
Ja klar.
Weil ihr die Rationen halbiert habt.
Das weckt Begehrlichkeiten und führt zu Spannungen.
So läuft das.
Das ist ja auch ein bisschen der Sinn des Ganzen, oder?
Das ist ja das Spiel.
Jeder will gewinnen.
Es gibt halt diese Intrigen manchmal. Und ich bin eher so der direkte Typ.
Ich sag, was ich denke.
Natürlich sagt man mal, wenn du mir hier hilfst,
helfe ich dir da.
Ich würde das jetzt nicht Manipulieren nennen.
Aber man muss schon ehrlich sein.
Einblendung
Für die Zeit im Container brauchen die Bewohner*innen keine Ausbildung oder irgendein besonderes Talent vorzuweisen. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als sie selbst zu sein.
Es ist eine Umdeutung körperlicher Arbeit. Zentraler Gegenstand dieser neuen Form von Arbeit ist es, sichtbar zu sein und auf sich aufmerksam zu machen.
6.
Nacht. Im Container. Jona im Badezimmer, er putzt sich die Zähne. Alex auf der Toilette. John kommt dazu.
John: Ist das Klo besetzt?
Jona: Ist jmnd drn. Musst eine Nummer ziehen.
John: Haha.
Alex kommt aus dem Klo heraus.
John will rein. Alex: Ich würd noch ein Moment warten.
John: Schon ok, ich will’s nicht so genau wissen.
Alex: Sparsam mit dem Klopapier. Es ist kaum mehr welches über.
Sabrina: Gute Nacht.
Alex: Nacht.
Jona: Gute Nacht.
John: Gute Nacht.
Jona: Ich vermisse echt meine elektrische Zahnbürste. Kann gleich zum Zahnarzt gehen, wenn ich wieder draußen bin.
Alex: Hat jemand mein Deo gesehen?
John: Das ist das Problem: Willst du gute Zähne oder hier reich werden und ein Maul voller Karies?
Jona: Nee, is’ wichtig, auf die Zähne achtzugeben. Sind das, woran sie später deine Identität feststellen können.
zu John, der in den Spiegel schaut
Was du da siehst, ist die Zukunft, mein Freund.
John: blickt in den Spiegel
Ich seh’ nix.
Jona: Schau genau hin. Was siehst du?
John: Gleichgültige spiegelglatte Leere.
Jona: Immerhin besser als totales biografisches Scheitern.
John: Dafür wäre es auch ein bisschen zu früh. Benutze das Material, das du bist.
Jona: Der Spiegel ist etwas staubig. Wer hatte als letztes Dienst?
Alex: Worüber redet ihr eigentlich?
Jona: Er will sich selbst als Material benutzen.
Alex: Willst du ins Pornogeschäft einsteigen?
John: Da bin ich doch schon drin. Hast du nicht mitgekriegt? Der Kapitalismus hat gesiegt. Deutschland, Deutschland, über alles. Alle legen sich hin, schlafen.
Intermezzo
Die Bewohner schliefen in dieser Nacht sehr unruhig. Sie verfielen in heftige Träume, von der Art, von der man nicht weiß, ob dies, was einem träumt, nicht doch auch tatsächlich widerfährt. Ihr Unterbewusstsein mischte sich mit ihrem Bewusstsein, so als ob sie etwas Toxisches zu sich genommen hätten. Als sie aufwachten, es war früh morgens, die Sonne war schon aufgegangen, fühlten sie, wie ihr Denken eine Dreidimensionalität angenommen hatte. Sie standen auf, wuschen sich, kochten sich Kaffee und blickten aus dem Fenster über die langsam erwachende Natur. Die Luft schien ihnen sehr klar, während das frische Tageslicht seine Schlagschatten warf.
Sie hatten das Gefühl, sie könnten durch die Wirklichkeit hindurchschauen.
7.
Vormittags im Container. Andrea und Alex in der Küche, Jürgen und John im Schlafzimmer, Sabrina und Jona im Wohnzimmer.
Andrea: Ich hab die Nacht geträumt, dass sie mich aus dem Haus rausschmeißen würden.
Alex: Was? Wer?
Andrea: Die hatten jetzt das Gefühl, ich muss jetzt raus. Dann lauf ich durch die Küche. Jürgen ist gerade am Saugen, John liegt da und macht sein Training. Ich sage: Ich muss weg. Und ihr sagt: Na dann. Tschüss. Dann gehe ich raus und bekomme eine totale Panik. Ich gehe durch die Tür direkt auf die Straße, aber da ist kein Mensch. Alles ist ganz grau und trist und schrecklich. Ich sage: Ich möchte wieder ins Haus, bitte lasst mich rein. Dann komm ich wieder rein, hab zwei Kinder mit dabei. Die waren total link. Die sind euch an die Handtücher. Die haben auch gekniffen.
Dann hab ich das eine Kind gepackt und die Hand gequetscht. Was du kannst, das kann ich auch.
Alex: Und dann hast du sie mit dem Kopf an die Wand gestellt.
Andrea: Ich schick die dann wieder raus und sage: Hey, ich darf jetzt doch weiterspielen. Darauf sagt Ihr einfach nur: Ja und, ist doch ok. So als ob es keinen kümmern würde.
Alex: Und dann wachst du auf.
Andrea: Und dann wach ich auf.
Alex: Und befindest dich hier in diesem Haus hier und denkst: In welchem Traum bin ich denn jetzt gelandet.
Andrea: Ich bin aufgewacht und dachte, jetzt bin ich wieder zu Hause. Verstehst du das?
Alex: Ich versteh so einiges nicht. Andrea: Hast du Kinder? Alex: Ja, eins. Lebt bei ihrer Mutter.
Andrea: Hm. Du bist nicht besonders gesprächig, weißt du das.
Alex: Es wird genug geredet und das wenigste bedeutet was. Wenn es wichtig sein wird, werde ich es ansprechen.
Andrea: So funktioniert das aber nicht. Manchmal musst du was sagen, auch wenn es keine Wichtigkeit hat. Sonst wirst du vergessen.
Jürgen und John im Schlafzimmer.
Jürgen: Da musst du dich mal drauf achten. Bei kleinen Schauspielern, z.B. bei Sylvester Stallone oder bei, na, wie heißt er, bei Jean-Claude van Damme, die sind ja beide nicht sehr groß. Wird immer von unten nach oben gefilmt, musst du dich mal drauf achten.
John: Die werden immer auf ein Treppchen gestellt.
Jürgen: Der Jean-Claude van Damme ist glaub ich nur 1.63.
John: Der Schwarzenegger ist auch nicht so groß. Das ist ein kleiner Mann.
Jürgen: Ne!
John: Doch. Schwarzenegger ist ein kleiner Mann. Schwarzenegger ist klein.
Jürgen: Ne!! Schwarzenegger ist nicht klein. Was ist für dich klein?
John: Na unter mir.
Jürgen: Ne!
John: Natürlich. John: Schwarzenegger ist unter 1.80.
Jürgen: Schwarzenegger ist mindestens 1.90.
John: Ja, denkt man auch, das kommt so rüber. Aber Bodybuilder hätten mit 1.90 niemals eine Chance, Mr. Universum zu werden.
Jürgen: Die könnten sich tot trainieren.
John: Ja. Is’ so. Der Typ is’ wirklich original. Der mag zwar vielleicht einer der größten Bodybuilder sein, die überhaupt mal was geworden sind. Aber der ist unter 1.80.
Jürgen: Also den Typ find’ ich super. Ich bin auch davon überzeugt, dass der in zehn Jahren Präsident von Amerika wird. Glaub’ ich! Glaub’ ich!
John: Ist dem durchaus zuzutrauen, ja. In Amerika ist alles möglich. Da war ja schon mal –
Jürgen: – der Reagan.
John: Reagan.
Jürgen: Was war mit dem Reagan?
John: Reagan war auch ein Schauspieler. Der war erfolgreich und beliebt, weil er seine Botschaft überzeugend verkaufen konnte. Er hat einfach immer so getan, als würde er gerade eine Rolle in irgendeinem Hollywoodfilm spielen. Das verstanden die Leute.
Jürgen: Schwarzenegger ist auch politisch engagiert. Der hat ’ne Kennedy geheiratet. John: M-hm.
Jürgen: Also, was weiß ich, über wie viele Ecken …
John: Ne Cousine.
Jürgen: Ja. Der ist voll politisch integriert. Und da glaub ich voll dran, dass der in zehn Jahren in Amerika Präsident ist.
Sabrina und Jona im Wohnzimmer.
Jona: Husten.
Sabrina: Husten oder Gliederschmerzen?
Jona: Husten.
Sabrina: Pest oder AIDS?
Jona: Pest, natürlich.
Sabrina: AIDS oder Selbstmord?
Jona: denkt nach AIDS.
Sabrina: Ein schnelles Leben und tot mit 30 oder ein langes langweiliges Leben?
Jona: denkt nach Ein langes langweiliges Leben.
Sabrina: Wieso?
Jona: Es macht einfach mehr Sinn.
Sabrina: Interessant. Weggehen und neu beginnen oder den Rest deines Lebens mit deiner jetzigen Familie verbringen.
Jona: Das ist hart. Mit den Leuten von jetzt.
Sabrina: Warum?
Jona: Ich weiß es nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Sabrina: Die Hoffnung stirbt zuletzt?
Jona: Ja.
Sabrina: Wie kannst du hoffen, wenn du bereits weißt, dass sich nie etwas ändern wird?
Jona: Weiß nicht, vielleicht kann man auch im Bestehenden neu beginnen.
Sabrina: Das sagt man, aber es ist eine Lüge.
Jona: Warum?
Sabrina: Weil du nicht selbst bestimmen kannst, wer du bist. Die anderen bestimmen das. Die anderen. Sie werden es aber niemals zulassen, dass du dich änderst. Das ist ein Naturgesetz.
Wenn du dein Leben ändern möchtest, musst du sie loswerden. Ewiger Kampf oder Kapitulation?
Jona: Bist du eigentlich immer so?
Sabrina: Wie?
Jona: Irgendwie krass.
Sabrina: Ich bin nicht krass. Ich bin Realistin.
Jona: Also gut. Real und traurig oder glücklich in der Illusion?
Sabrina: Das sind aber keine Optionen. Es gibt kein Glück in der Illusion. Dort gibt es bloß die Illusion von Glück. Aber das ist etwas völlig anderes. Das Meer oder die Berge?
Jona: Das Meer.
Sabrina: Warum?
Dritter Akt
8.
Alex im Confessions-Room.
Es ist Dienstag. Oder Mittwoch.
Es passt eigentlich.
Ich wart ab, was hier passiert.
Ich hab ganz klare Grenzen gesetzt, und das werden einige Leute zu spüren kriegen.
Ich bin von draußen an Wettkämpfe gewohnt.
Das gehört zum Leben und macht mir nichts aus.
Ich mag den Jürgen. Mit Jona hab ich auch kein Problem. Andrea ist für mich neutral.
Ich hoffe, wir werden mal irgendwann den Zeitpunkt finden, wo sie mir das sagen will, was sie mir schon seit 6, 7 Wochen sagen will; was für ne Art Typ ich bin.
Ich lass mich mal überraschen. Aber ich glaube, sie weiß gar nicht, was für ein Typ ich bin.
Weil, das weiß keiner, außer meine Freunde.
Meine wahren Freunde.
Deswegen, ja, manchmal ist man hier drin schon ein bisschen allein.
Es gibt hier drin mittlerweile zwei Gruppen, wie alle ja bestimmt mitbekommen haben.
Ich glaub, dass da gerade eine Art von kollektiver, gegenseitiger Gehirnwäsche stattfindet. Und ich das Gefühl habe, dass die gar nicht mehr reflektieren, was hier abgeht.
Die sehen das anders.
Die sind woanders. Reden die ganze Zeit.
Ich hab da den Überblick verloren.
Ich denke schon, dass die Leute ihre ganz eigenen Antennen ausfahren und beginnen, sich zu kontrollieren. Was passiert wann? Wer mit wem?
Der Gedanke kommt schon mal vor. Hier rauszugehen. Ich weiß nicht, dass kann man gar nicht kontrollieren.
Es gibt schon Momente, wo es alles ein bisschen zu viel wird.
Du hängst hier ja die ganze Zeit rum mit den gleichen Leuten.
Normalerweise geht man ja mal raus, irgendwohin, oder halt zur Arbeit, da siehst du dann andere Leute und wenn man dann abends nach Hause kommt, dann ist das ok. Dann ist das das Zuhause. Aber hier siehst du jeden Tag, jede Stunde, jede Minute immer die gleichen Gesichter
Da wird man aggressiv.
Dann möchte ich schreien, in mich hinein.
Dann gibt es einen großen Hall in mir drin.
Einblendung
April 2000. Tag vor der nächsten Nominierung. Die Sonne scheint. Die Wetterdienste melden den bisher heißesten April-Tag seit Beginn der Aufzeichnungen. Einige der Bewohner*innen haben an den Gartenzaun ein Transparent angebracht: Sabrina halt’ die Gosch’n!
9.
Vor der Nominierung. Alle draußen. Sabrina liegt im Gras, liest ein Buch.
Andrea: Redet sie jetzt nicht mehr mit uns? Ist etwas passiert? Ist sie sauer?
Jürgen: Quatsch! Die muss auch mal abschalten. Die lädt grad neu.
Andrea: Komisch kommt mir das vor.
Jürgen: Jetzt geht das schon wieder los mit der Cliquen-Bildung.
Andrea: Jetzt geht das schon wieder los.
Jürgen: Redest du nicht mehr mit uns, nur weil wir das da an den Zaun geschrieben haben? Redest nicht bis sechs Uhr, oder wie. Bis sechs Uhr haben wir frei, oder was.
Andrea: Wenn sie ruhig ist, kann er’s auch nicht lassen.
Jürgen: Ist die bockig, eh! Machst du hier jetzt das große Schweigen oder was? Ich brauch kein schlechtes Gewissen haben. Ich hab das nicht da dran geschrieben. Das war sie.
Andrea: Und auf wessen Anweisung hab ich es dran geschrieben?! Du standest ja schon wieder mit dem Messer hinterm Rücken.
Jürgen: Auf Johns. Ich hab damit nichts zu tun. Ey Sabrina, willste ’n Schluck? Was ist den los mit euch allen? Es ist doch wieder ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Wir haben es hier gut.
John: Drehst du jetzt durch, oder was?
Jürgen: Dreh mir mal bitte eine Zigarette, ja?
Andrea: Ich komm hier nicht zu Ruhe. Ich komm hier nicht zu Ruhe.
Jürgen: Ich weiß echt nicht, was euer Problem ist! Ich sag euch, ihr Menschen werdet mit allem fertig, nur nicht mit euch selbst.
Andrea: Amen!
John: Der rastet hier grad völlig aus. Der Jürgen.
Jürgen: Da laufen auch immer so Bräute herum. Spanische Bräute. Hola. Tequila. Que tal. Ich muss schwer aufpassen, wie mir das wieder ausgelegt wird hier. Ich bin voll im Fadenkreuz der Presse draußen.
Andrea: Hoffentlich. Hoffentlich.
Jürgen: Ne, weißt du, was ich jetzt gerne essen würde. Vielleicht könnte mir das jetzt einer machen.
Andrea: Der träumt. Ich weiß nur nicht wovon.
Jürgen: Nein, pass auf. Das ist doch nur eine Kleinigkeit.
Andrea: Jetzt lass mal gut sein. Verpiss you!
Jürgen: Ich mach doch auch alles für euch. Pass auf: Vanillepudding. Mit Erdbeeren. Mit Erdbeeren!
Andrea: Ja, geh pflücken.
Jürgen: Vielleicht können wir uns das auch bestellen. Dann schön kalter Vanillepudding mit heißen Erdbeeren. Ja, so, wie wär’s jetzt mit einem Vanillepüddingchen. Da könnte man auch Kiwi reinschneiden.
Andrea: Du kannst doch lesen.
Jürgen: Lesen?
Andrea: Du nimmst dir eine Packung Vanillepudding, guckst drauf, und dann weißt du, wie es geht.
Jürgen: Also, wer macht den Vanillepudding. Wer meldet sich freiwillig. Sonst muss ich noch einen bestimmen.
Andrea: Wenn du rauskommst, geht es dir so schlecht. So schlecht. Du hast keine Frau mehr, die ist dir weggelaufen. Du hast keine Wohnung mehr. Keine Freunde. Alles weg.
Jürgen: Ja klar.
Andrea: Bist auch selber schuld. Was gehst du fremd, wenn du es keine paar Wochen aushältst.
Jürgen: Woah! Ich werde hier diffamiert. Das kommt mir vor wie früher. Reichskristallnacht. Ehrlich. Was hier gegen mich aufgebaut wird. Hier ist ein Intrigenspiel im Gange und ich merk es nicht mal.
Andrea: Der ist echt ein Vollprolet.
Jürgen: Überhaupt nicht. Das ganze Leben ist ein Geben und ein Nehmen.
John: Ist ja gut. Jetzt reg dich mal ab.
Jürgen: Ja, immer in der Defensive bleiben. Bloß nicht in Konflikt gehen.
John: Wohl ein bisschen zu viel Sonne gehabt.
Jürgen: Alles gut hier, ja. Das ist unser John. Der gute John. So wird das dann „ausgelegt“. Immer tiefstapeln und die anderen dominant erscheinen lassen. Eine ziemlich schlaue Strategie. Aber ich kenne das präzise. Das entgeht mir nicht. Das fliegt immer auf.
John: Ja ja, ist schon gut.
Jürgen: Ich muss wirklich aufpassen hier, bei euch. Aber ich meine, das ist doch interessant. Dieses Dominieren.
Andrea: Wovon spricht er?
Jürgen: Man kann die Menschen in zwei Gruppen aufteilen. In diejenigen, die dominieren, und jene, die dominiert werden. Jene, die viel Macht haben, und jene, die wenig oder keine Macht haben. Jäger, Beute. Subjekt, Objekt.
Andrea: Ich geh rein.
Jürgen: Ne ne, jetzt hört mal zu. Das ist nämlich wichtig. Alles geht letztlich darum, nicht auf der Objekt-Seite zu stehen. Das ist doch verständlich. Darum geht’s doch. Nicht zu denen zu gehören, die jeden Tag aufs Neue erniedrigt werden, weil ihnen zu verstehen gegeben wird, dass sie keine Relevanz haben. Oder dass man von ihnen nichts erwartet, außer dass sie in dem ihnen vorgegebenen Rahmen zu funktionieren haben. Für eine kleine Überweisung aufs Bankkonto. Bitte danke. Aber ohne Liebe. Und dann gehen sie nach Hause, in ihre möblierte Mietwohnung, setzen sich auf ihr Sofa und starren an die Wand, aber eigentlich starrt die Wand sie an, weil die Wand mittlerweile mehr „Ich“ hat als diese Menschen. Denn die sind zum reinen Objekt geworden, das keinerlei Effekt mehr hat auf die Wirklichkeit. Weil es der Welt nämlich scheißegal ist, ob sie hier sind oder nicht hier sind. Weil sie ein austauschbares Produktionsmittel geworden sind. Hast du gehört, John? Das ist nämlich Marxismus dingsbums.
John: Präzise.
Jürgen: Weil sie nämlich zu denen gehören, die keine Macht haben. Weil sie zu denen gehören, deren Körper zurückweichen, wenn andere den Raum betreten; zu denen, die innerlich immer zusammenzucken, wenn sie von jemandem angesprochen werden, weil sie Angst haben, dabei ertappt zu werden, wie sie sich tagtäglich abmühen, nach außen hin zu erscheinen, als gehörten auch sie zu jenen, die es „verstanden haben“.
John: Wir haben es verstanden.
Jürgen: Tiefstapler sind sowas von ein Trauerspiel, John. Und abends sitzt du dann zuhause vor deinem Spiegelei und vor dieser leeren, dich anstarrenden Wand, überwältigt von einer Müdigkeit, die das Resultat ist all der Anstrengungen, auch heute gerade nochmal davon gekommen zu sein. Und dieser Zustand der vollkommenen Wirkungslosigkeit, diese Depression, das ist nichts Klinisches, das ist etwas Politisches!
Denn irgendwann kommt der Moment, an dem du feststellst, dass vielleicht gar nicht du das Problem bist, sondern dass man dich einfach komplett entmündigt und zum Schweigen gebracht hat, und sie haben es mit einer solch umfassenden Effizienz getan, dass sie es sogar geschafft haben, dass du ihnen glaubst, dass du das Problem seist.
John: Wer sind denn ‚die‘? Is‘ gut jetzt?
Jürgen: Nee nee. Es geht noch weiter. Denn ohne dass du es bemerkt hättest, haben sie das bereits so oft wiederholt, dass du das für die Wahrheit hältst, dass du dich schämst. Denn das ist ihr Geniestreich, weil sie wissen, dass du immer versuchen wirst, diese Scham vor den anderen zu verstecken, und dass du deswegen gar nicht anders kannst, als immer in Deckung zu gehen.
Und ohne dass du es gemerkt hast, bist du komplett unsichtbar geworden.
Ich war mein ganzes Leben lang nie wütend! Ich war immer nur traurig! Aber ich kann nicht weinen!! Ich kann einfach nicht weinen. Aber jetzt, jetzt verspüre ich zum ersten Mal so etwas wie Zorn. Und das tut gut. Und normalerweise würde sich alles in mir mobilisieren, um diesen Zorn zu beseitigen. Aber dieses Mal wird das nicht passieren. Dieses Mal nähere ich mich meinem Zorn an!
Sabrina: Wieviel Biere hat der denn gehabt seit heute Nachmittag?
Jürgen: Genau ein halbes.
Sabrina: Das muss aber stark gewesen sein.
Jürgen: Ich sag euch eins: Ich will selber nicht wissen, wen ich nominiere. Ich hab mir da was ausgedacht. Weil ich nie jemanden von euch nominieren würde. Bei mir seid ihr Menschen, die sein können, wie sie wollen. Wen jemand ehrlich und nicht hinterfotzig ist, kann er von mir aus sein, wie er will. Er kann grob sein, wie er will. Mir ist lieber, jemand sagt die Wahrheit und ist ehrlich. Das ist für mich das wichtigste an Menschen. Deswegen sind ja auch die anderen rausgeflogen. Die waren nicht ehrlich.
10.
Jürgen im Confessions-Room
Also ich wollte euch nur sagen, dass ich das hier alles vorausgesehen hab, das ist so ‘ ne Gabe Gottes, die der mir gegeben hat, und für die ich ihm unheimlich dankbar bin.
Ich hab euch auch schon mal gesagt, dass hier alle am Anfang himmelhochjauchzend waren, und im Moment sind unheimlich viele betrübt.
Und das wusste ich.
Vor zwei Wochen haben noch alle hier drin gesagt: Was kann uns schon passieren?
Wir verstehen uns doch so gut, läuft doch alles gut, wir treffen uns mal irgendwann alle zusammen.
Ja, und das funktioniert eben nicht. Das wussten einige nicht. Aber ich wusste das.
Ich wusste auch, dass irgendwann auch mal dieser Tag kommen wird.
Und ich wusste auch, dass an diesem Tag die Sonne besonders grell scheinen wird.
Ganz komisch irgendwie.
Macht mir selber manchmal Angst.
Einblendung
April 2000. Tag der Nominierung. Vor dem Container versammeln sich hunderte von Menschen. Eine Moderatorin rennt mit einem Mikrofon herum und fragt die Menschen, wer ihre Favorit*innen sind. Sie wirkt überdreht.
Im Studio spricht der Moderator der Big Brother-Show mit Frau Bartolomei-Pfost. Sie ist Psychologin. Sie unterhalten sich über Alex’ Geldschulden von insgesamt über 35.000 DM. Der Moderator fragt Frau Bartolomei-Pfost, wie es denn sein könne, dass Alex dies bisher niemandem im Container erzählt hat. „Wird er das von sich aus im Haus zu Sprache bringen?“, fragt er sie. „Das ist schwer vorauszusehen, aber ich glaube nicht. Wir können leider nicht in Alex‘ Kopf hineinschauen. Wir können es bloß von außen interpretieren“, so die Psychologin.
Jürgen nominiert Alex und Sabrina
Andrea nominiert Jürgen und Alex
John nominiert Sabrina und Jürgen
Sabrina nominiert Alex und John
Alex nominiert Jürgen und John
Jona nominiert Alex und Andrea.
Jürgen und Alex sind die Nominierten. Das Publikum wird aufgefordert, sich innerhalb der darauffolgenden Woche für einen der beiden zu entscheiden. Verlost werden dieses mal 100 Tage kostenloses Surfen im Internet. Inklusive Telefongebühren. Sponsered by Otelo online.
Außerdem: Der ehemalige Kandidat Zlatko hat einen Schlager veröffentlicht. Der Titel des Songs lautet „Ich vermiss’ dich wie die Hölle“. Der Song steigt auf Platz 23 in die Charts ein und schafft es bis auf Platz 5.
Eine Woche später wird Alex aus dem Container herausgewählt. Am Tag darauf wird den Bewohner*innen der Auftrag erteilt, ein Streitgespräch zu führen. Die Frage lautet „Würdet ihr im Dienst töten?“
11.
Alle außer Alex im Wohnzimmer des Containers.
Sabrina: Meiner Meinung nach müssten diejenigen Leute, die was zu sagen haben, wie früher aufs Feld, zehn Meter auseinander, und die können sich dann die Köpfe einschießen. Warum muss das gemeine Volk, das überhaupt keine Ahnung hat, was da oben abläuft –
Jona: – die Scheiße von den Politikern ausbaden.
Sabrina: Das ist schon mal grundsätzlich falsch. Aber wenn es halt so ist, wie es eben ist, kann eine Frau genauso den Dienst an der Waffe ausüben.
Andrea: In Israel müssen die Frauen auch an die Front. Aber die leiden da echt. Das ist jetzt eine unpopuläre Meinung, aber rein physisch sind Frauen nun mal nicht so kräftig wie Männer.
Sabrina: Wer sagt das denn? Das ist doch eine reine Erziehungssache.
Andrea: Es ist auch Gen-Sache. Auf jeden Fall.
Jona: Solange sie es freiwillig tut –
Andrea: – freiwillig ist es ja nicht.
Jürgen: Du meinst jetzt in Israel.
Andrea: In Israel.
John: Hier in Deutschland kann eine Frau freiwillig zum Bund gehen –
Andrea: – ist ja ok, jeder wie er will – John: – und kann auch Dienst an der Waffe leisten.
Jona: Ich kenne nur ganz wenige Frauen, die das machen würden. Eine ganz geringe Zahl, glaub ich, die da sagen: Ich möchte –
Sabrina: Ich möchte ja nicht, aber in der Not würde ich es tun. Weil ich grundsätzlich gegen das Töten bin, aber da plötzlich so ein Typ mit einer MG vor dir –
John: Glaub mir, du kannst keinen Menschen dazu bringen, sich zuzutrauen, jemanden anderes umzubringen. In dem Moment, in dem ich das unterschreibe, mach ich das aber. In dem Augenblick unterschreib ich ein Todesurteil. Für irgendjemanden.
Sabrina: Wir haben da ohnehin gar nichts zu sagen. Es heißt ja immer „das Volk“, aber wer dienen muss, sind die Leute, die am wenigsten zu sagen haben. Die wissen doch meistens nicht mal, warum das um sie herum überhaupt alles geschieht, und werden dann gezwungen, auf dem Feld gegen Menschen zu kämpfen, die sie überhaupt nicht kennen; die sie lieben oder mit denen sie in einer anderen Welt befreundet sein können, wer weiß das schon, und müssen sie dann töten.
Jona: Und vielleicht gefällt es ihnen dann auch, wenn sie erstmal damit angefangen haben.
Sabrina: Genau, da tritt dann eine ganz eigene Logik in Kraft, wenn die Blutlust erstmal losgeht. Da bricht dann die ganze Zivilisation im Kopf zusammen. So wie im Jugoslawien-Krieg. Oder Ruanda. Wo dann ganz normale Menschen, die bis eben noch Nachbarn waren, auf einmal komplett außer Kontrolle geraten und sich dann gegenseitig die Kehle durchschneiden. Die meisten werden vorher auch nicht gewusst haben, dass sie dazu fähig sind. Jona: Naja, wenn es um Frieden geht, sind wir Deutschen ja auch echt Experten.
Schweigen
Jürgen: Der Maschendrahtzaun.
Jona: Was?
Jürgen: Der Maschendrahtzaun. Der Knallerbsenstrauch. Das ist typisch deutsch. Wie kann man um so eine kleine Sache so ein Riesentohuwabohu machen?
Jona: Wovon redest du?
Sabrina: Die Ordnungsliebe ist typisch deutsch, wenn wir schon davon sprechen wollen.
Jona: Ich bin auch sehr ordnungslieb.
Sabrina: Du bist auch sehr deutsch.
Jona: Warum glaubst du geht es hier in Deutschland der Wirtschaft so gut im Vergleich mit den meisten anderen?
Andrea: Dadurch sind die Deutschen aber auch ganz schön humorlos geworden.
John: Typisch deutsch ist, dass er sich immer von oben was sagen lässt und dem dann hinterherrennt. Es gibt kein Widersprechen. Was von oben kommt, wird einfach hingenommen. In anderen Ländern wird vielmehr auf die Straße gegangen. Hier wird das alles nach oben delegiert. Das ist so ein Untertanen-Verhalten.
Jürgen: Kartoffelkopf. So nennen die Italiener uns. Wie wir Spaghettifresser sagen, sagen die Kartoffelkopf zu uns.
Andrea: Eisbein. Bier.
Jona: Lederhosen.
Jürgen: Schrebergärten.
Sabrina: Warst du schon mal in Italien. Das Land besteht zu 80 % aus Schrebergärten.
John: In’ Urlaub fahren ist typisch deutsch.
Andrea: Mercedes Benz. Autowaschen. Ein-Kind-Familie.
Jürgen: Super-Samstag bei Lidl. Baumarkt. Und Hausmeister. Hausmeister ist typisch deutsch. Hausmeister. Gibts im Ausland überhaupt Hausmeister?
John: Ausländer ist typisch deutsch.
Jona: Die Deutsche Bank ist typisch deutsch.
Sabrina: Die deutsche Mark ist auch typisch deutsch.
Andrea: Arbeiten ist auch typisch deutsch.
Jona: Karl Marx.
Andrea: Karl Marx.
Jürgen: Adolf Hitler.
Sabrina: Peter Alexander. Hannelore Kohl.
John: Ich finde typisch deutsch ist, dass der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht darüber reden würde. Und der Deutsche muss sich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Deutscher. Ich denke, dass ein bisschen Nationalstolz auch in Ordnung ist. Dass man mit gutem Gewissen sagen kann, ja, ich bin Deutscher.
Jürgen lässt einen Teller auf Johns Fuß fallen.
Andrea: Jürgen, hast du wieder gesoffen?
Jürgen: Schau doch mal da rein?
Andrea schaut in den Kühlschrank.
Andrea: Es sind nur noch vier Bier da. Leute, ich find das nicht in Ordnung, dass hier einfach getrunken wird.
Jürgen: Ich find das auch scheiße, dass Alex hier geht und noch kurz das Bier mitnimmt. Ja, die Leute haben gesehen, dass der das Bier eingesteckt hat, deswegen ist er auch draußen.
John: Grad noch so die Kurve gekriegt.
Sabrina: Ich find das nicht okay, dass jemand hier Bier und Wein wegsäuft. Und alle anderen halten sich an die Regeln. Das ist purer Egoismus.
Jona: Aber Alex ist doch jetzt eh raus.
Sabrina: Ich hab da so ’ne Ahnung, wer sich da vergreift.
John: Das ist auch typisch deutsch.
Jürgen: Verdächtigen.
Jona: Das sieht richtig lecker aus. Was ist das?
Jürgen: Linseneintopf.
Jona: Sogar vegan. Was ist vegan?
Jürgen: Können wir beim Essen jetzt einfach mal fünf Minuten die Klappe halten?
Sabrina: Warum bist du denn jetzt so aggressiv? Jürgen: Einfach mal die Klappe halten. Das fänd’ ich so schön.
Andrea: Es muss auch immer alles nach deiner Pfeife tanzen.
Sabrina: Das ist so typisch deutsch.
Jürgen: Ich geh ins Schlafzimmer und ess’ da meinen Eintopf.
Jona: Was passiert denn jetzt?
Sabrina: Du bist einfach ekelhaft.
Jürgen: Ich steh den ganzen Tag in der Küche.
Andrea: Und trinkst vier Bier dabei.
Jona: Hä, wie ist dass denn jetzt passiert?
Andrea: Da sind nur noch vier drin, da waren acht drin.
Jona: Ich mein nicht das Bier. Eben noch gesellig über Tote im Ruandakrieg geredet. Spaß gehabt und jetzt heulen alle rum.
Jürgen: Es war das letzte Mal, dass ich koche.
John: Aber es war lecker, Jürgen.
Sabrina: Das nächste Mal könntest du mehr Gewürze benutzen.
John: Boah Sabrina.
Sabrina: Was soll ich denn sagen?! Soll ich lügen?! Soll ich sagen: Es war super lecker.
Andrea: Ich find Ehrlichkeit ist eine total wichtige Sache.
Jürgen: Ich mach gar nichts mehr.
Sabrina: Der hat zu viel Bier gesoffen.
Jona: Gute Nacht.
Andrea: Halt, stopp! Man soll nicht ins Bett gehen, bevor man nicht alles geklärt hat.
Jona: Als ob wir jetzt noch was klären würden.
12.
Andrea im Confessions-Room.
Andrea: 14 Wochen.
Ist ziemlich gut.
Letzte Woche musste Alex gehen. Das war für mich in Ordnung.
Ich finde auch, dass jetzt in unserer Gruppe eine andere Dynamik drin ist.
Also ich bin ja sehr harmoniebedürftig.
Es sieht zwar nicht so aus, aber es ist wirklich so.
Es bringt mich aus meinem inneren Gleichgewicht
Ich habe auch Alex nominiert.
Ich hab in dem Fall wirklich kein schlechtes Gewissen. Ich hab oft ein schlechtes Gewissen, was ich nicht immer den besten Weg finde, aber bei Alex hatte ich nie das Gefühl, dass er sich hier wohl fühlt.
Ich denk überhaupt nicht mehr über die Zuschauer nach.
Es beeinflusst auch gar nicht mehr den Alltag.
Nicht bei jedem. Ich weiß es nicht. Bei mir nicht.
Es ist eher die Gruppendynamik.
Ich glaube, die wenigsten machen etwas speziell für die Kamera. Also die, die jetzt noch da sind. Das fällt ja auch auf. Ich meine, die ersten, die rausgeflogen sind, bei denen war das offensichtlich.
Vielleicht hilft es mir, dass ich nicht so offensiv bin
und mich oft zurückhalte.
Das hilft wahrscheinlich.
Weil ich mir die Dinge erstmal anschaue.
Und nicht so in einen Konflikt gehe.
Vielleicht …
Ich denke gerade …
Es könnte ja sein, dass draußen vor einiger Zeit ein Krieg ausgebrochen ist und dass wir das alles nicht mitgekriegt haben, weil man es bewusst unterlassen hat, uns zu informieren, um wenigstens einen Ort aufrechtzuerhalten, indem sowas wie Alltag existiert.
Wir sind von der Welt abgeschnitten.
Oh Gott.
Dann wären wir ja das Spaßprogramm im Krieg. Aber ihr würdet uns ja dann Bescheid sagen, nehm ich an.
Der Gedanke macht mich jetzt völlig fertig.
Darüber hab ich ja gar nicht nachgedacht. Ich vermisse es, einfach mal in eine Straße reinzugehen. Normale Menschen zu sehen, die einfach unterwegs sind, die einkaufen, die in Restaurants sitzen, Ich denke gar nicht darüber nach, dass irgendwas passiert sein könnte.
Ist irgendwas passiert?
PAUSE
Vierter Akt
Einblendung
Mai 2000. Vor einer Woche ist Jona aus dem Container gewählt worden. Übrig bleiben Sabrina, Andrea, John und Jürgen. Die Einschaltquoten steigen, je mehr sich die Show ihrem Ende nähert. Ebenso steigen die Temperaturen. Die Sonne scheint durchgehend. Es ist schon jetzt der wärmste Frühling seit Beginn der Aufzeichnungen.
13.
Neunzehnvierundachtzig
Sabrina: Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gezogen, um dem scheußlichen Wind zu entgehen, schlüpfte rasch durch die Glastüren der Victory Mietskaserne, wobei er nicht verhindern konnte, dass mit ihm auch ein riesiger Staubwirbel hereinwehte.
Der Flur roch nach Kohlsuppe und Flickenteppichen. An einem Ende hatte man ein Farbplakat an die Wand gepinnt, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht eines etwa 45-jährigen Mannes mit wuchtigem schwarzen Schnurrbart und kernig-ansprechenden Zügen.
Winston steuerte auf die Treppe zu. Es mit dem Lift zu probieren, war zwecklos. Selbst zu günstigen Zeiten funktionierte er selten, und momentan wurde der Strom abgestellt. Das war Teil der Sparsamkeitskampagne zur Vorbereitung der Hasswoche.
Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der 39 war und über dem rechten
Fußknöchel ein Krampfadergeschwür hatte, ging langsam und verschnaufte unterwegs mehrmals.
Auf jedem Treppenabsatz starrte dem Liftschacht gegenüber das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die einem mit einem Blick überallhin zu folgen scheinen. Ein Gesicht wie ein Traumbild, nicht unansehnlich, irgendwie schön genug, dass man Lust hatte, es die ganze Zeit anschauen. Unter dem Gesicht stand eine Zeile: Der große Bruder sieht dich.
In der Wohnung verlas eine sonore Stimme eine Zahlenstatistik, bei der es irgendwie um Roheisenproduktion ging. Die Stimme kam aus einer länglich-rechteckigen Metallplatte, die wie ein blinder Spiegel in die Wand zur Rechten eingelassen war.
Winston drehte an einem Knopf. Die Stimme klang gedämpfter, blieb aber dennoch verständlich. Man konnte das Gerät, den sogenannten Teleschirm, zwar leiser stellen, aber ganz ausschalten ließ es sich nicht.
Er trat ans Fenster: eine schmächtige Gestalt, deren Magerkeit durch den blauen Overall der Parteiuniform nur noch betont wurde. Sein Haar war hellblond, sein Gesicht von Natur aus rötlich, seine Haut rau von scharfer Seife, stumpfen Rasierklingen und der Kälte des eben zu Ende gegangenen Winters.
Draußen sah die Welt sogar durch das geschlossene Fenster kalt aus. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Staub und Papierfetzen in Spiralen hoch, und obwohl die Sonne schien und der Himmel grellblau war, wirkte doch alles außer den überall angeklebten Plakaten farblos. Das schwarzschnurrbärtige Gesicht starrte von jeder dominierenden Ecke herab. Eines hing an der Hauswand unmittelbar gegenüber. Der große Bruder sieht dich, verkündete die Unterzeile, und die dunklen Augen blickten tief in Winstons Augen.
In der Ferne glitt ein Helikopter zwischen den Dächern herunter, schwebte für einen Moment lauernd wie eine Schmeißfliege und schwirrte dann in einem weiten Bogen wieder ab. Es war die Polizeistreife, die an den Fenstern der Leute schnüffeln kam. Die Streifen waren jedoch nicht weiter schlimm. Schlimm war bloß die Gedankenpolizei.
In Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Teleschirm noch immer von Roheisen und der Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm war Sende- und Empfangsgerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flüstern hinausging, würde registriert werden; außerdem konnte er, solange er in dem von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, ebensogut gesehen wie gehört werden.
Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht.
Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig alle beobachtete. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten. Man musste folglich in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die einem zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man verursachte, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde. Winston kehrte dem Teleschirm weiter den Rücken zu. Es war sicherer so; obgleich, wie er sehr wohl wusste, selbst ein Rücken verräterisch sein konnte.
John: 8 Uhr morgens: aufstehen.
8 Uhr 15: duschen, Zähne putzen, das Gesicht überprüfen. Dabei die anderen mitdenken.
8 Uhr 30: Frühstück zubereiten.
9 Uhr: Sport. 30 Runden im Garten joggen. Anschließend: Gewichte heben. Zum Abschluss: Stretching nicht vergessen. Dabei die anderen mitdenken.
10 Uhr 30: Gemeinsame Lagebesprechung über den Tagesablauf. Dabei die anderen mitdenken. Anschließend: Nachdenken über die Nominierung. Unweigerliches Nachdenken über die anderen.
12 Uhr: Mittagessen vorbereiten. Die anderen.
12:45 Uhr: Mittagessen.
14:00 Uhr: Besprechung über den Verlauf des Nachmittags mit den anderen. Dabei sich selbst nicht vergessen.
15 Uhr: Was zum Teufel mach ich hier eigentlich?
15:30 Uhr: Geben und Nehmen. Nachdenken über die anderen. Die anderen. Die anderen. Die anderen. Die anderen. Die anderen. Die anderen.
16 Uhr: Tagesaufgabe erfüllen.
17 Uhr. 18 Uhr. 19 Uhr. 20 Uhr. 21 Uhr. 22 Uhr. 23 Uhr. 0 Uhr. 1 Uhr. 2 Uhr.
Es … ist … meine … Hoffnung, einen … Blick … entwickeln … zu können, der so präzise ist, … dass ich die Dinge, die passieren … unterscheiden … und benennen kann. Und dass ich mich … in Räumen aufhalten kann … in denen ich sicher bin.
Andrea: Ok, guys, I’m now going to show you our little house, our gorgeous house. I really love this house. It has a unique ambience. It’s small, but so convenient.
This is our oven. Even in summer we use this oven. It’s warm and cozy. I love the oven. It’s so great! It’s the greatest oven you can have.
This is our bedroom. And this is my bed and my cover. I really love the bedsheets, because they are so clean and so white. My bedsheet is so white. It’s the whitest bedsheet you can imagine. I love white.
This is the bathroom. I love this mirror.
I like to look at myself in this mirror. Mirrors a great.
They create this intimacy which is so special.
They tell me who I am.
I like this plant. I love plants. This one is not real, but i love it.
Plants are so important as they give us what is the most important for our lives:
oxygen!
You can just breathe.
I love breathing.
And this is our kitchen. Here we cook our food.
This is our coffee machine. I love coffee. Without coffee I am a nothing.
Look at the coffee powder. It sais: The Heavenly.
lässt den Kaffee fallen
Oops, the coffee fell down. How could this happen!
Oops, again it feel down.
Oops, again it feel down.
Oops, I did it again.
That is so fascinating.
That’s reality: repetition.
I love repetition. You do it once, you do it twice, you do it three times, and it has already become normal. Isn’t that fascinating?
Chaos becomes normal.
Jürgen: Guten Abend. Mein Name ist Stefan Grünewald, Medienpsychologe vom Rheingold-Institut für Medienanalyse. Das Rheingold-Institut beschäftigt sich mit Medienphänomenen rund um die Jahrtausendwende. In den vergangenen zwei Jahren hat es sich unter anderem mit mit dem Tod von Lady Di beschäftigt, mit dem Tamagotchi-Wahn und mit der Parteispenden-Affäre. Und jetzt also Big Brother.
Bei Big Brother hat das Publikum gehofft, einen göttlichen Blick einzunehmen. Die Menschen haben gehofft, Sodom und Gomorrah verfolgen zu können. Diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Dann hat man aber gemerkt, dass die Banalität des Alltags auch eine Faszination ausübt. Als Medienpsychologe bin ich gespannt, was als nächstes kommt, weil, was wir beobachten, ist, dass die Hoffnungen, die die Menschen haben – Alltagskompetenz, Beziehungen besser pflegen können, psychologisch kompetent zu sein – all diese Hoffnungen erfüllen sich ja nicht. Ich bleibe ein ganz normaler Alltagsmensch. Es besteht eine gewisse Gefahr, dass die Zuschauer diese Hoffnung in ein nächstes, extremeres Format verschieben und irgendwann nicht mehr zwischen Show und ihrem eigenen Leben unterscheiden können. Schauen Sie. Hier!
Andrea: Ich bin kein starker Mensch. Die Leute denken das vielleicht, weil ich manchmal so scheine, als hätte ich eine klare Meinung, auch weil ich mich vielleicht nicht so in den Vordergrund stelle. Die halten das für Coolness, aber ich fühle mich dabei –
Jürgen: Die Schauspieler lernen Text. Sie lesen ihre Scripts und lernen sie auswendig. Später wird man gar nicht wissen: Sind es echte Menschen oder Menschen, die dafür bezahlt werden, echt zu wirken? Die Gefahr dabei ist, dass irgendwann das Vertrauen in Information kollabiert – weil die Menschen sich gegenseitig unterstellen, dass sie die jeweilige Realität nur deswegen so konstruieren, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Schauen Sie genau hin!
John: Ich finde typisch deutsch ist, dass der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht darüber reden würde, obwohl die doppelt so viel Menschen auf dem Gewissen haben, in der gleichen Zeit. Kann man den letzten Satz streichen? Dann hat man inhaltlich noch alles, aber diese Holocaust-Relativierung raus.
Jürgen: Nein.
14.
In der Küche
Andrea: Ich bin kein starker Mensch. Die Leute denken das vielleicht, weil ich manchmal so scheine, als hätte ich eine klare Meinung, auch weil ich mich vielleicht nicht so in den Vordergrund stelle. Die halten das für Coolness, aber ich fühle mich dabei –
Sabrina: Deswegen bist du vielleicht noch hier.
Andrea: – nicht stark. Vielleicht hab ich auch einfach nur Glück gehabt, dass es mich auch dieses Mal nicht erwischt hat.
Sabrina: Du bist klug. Die Klugen überleben. Außerdem: Wir hätten Jona auch als Gruppe ausstoßen können, aber das haben wir nicht gemacht. Wir brauchen uns nichts vorzuwerfen.
Jürgen: Das würde es bei mir auch niemals geben.
Andrea: Bei mir auch nicht.
Sabrina: Bei mir auch nicht.
Jürgen: Aber wenn er geblieben wäre, dann wäre diese Woche auch nicht so schön gewesen. Das war eine der schönsten Wochen hier. Es gab auch andere schöne Wochen, aber das war eine der schönsten hier, die wir bis jetzt hatten.
Andrea: Stimmt. Das war wirklich eine der schönsten Wochen hier. Ein bisschen tat er mir aber schon auch leid. Hat ihn ja ziemlich mitgenommen, als es rauskam.
Jürgen: Ja, schon. Andererseits hat er sich schon auch irgendwie ein bisschen zu sehr zurückgehalten, wenn ihr mich fragt. So insgesamt. Man muss sich halt in einer Gruppe schon auch beteiligen.
Andrea: Das fällt aber nicht allen leicht.
Sabrina: Das fällt nicht allen leicht. Gibst du mir mal die Zwiebeln.
Andrea: Und der Alex, der hat auch zuviel nachgedacht, wenn ihr mich fragt.
Jürgen: Ja, der überlegt vieles kaputt.
Andrea: Ja, er überlegt vieles kaputt. Das hab ich ihm aber auch gesagt. Aber ich glaub, dass er seinen Weg machen wird. Er gibt sich ja auch sehr viel Mühe. Ich hab ja Alex am Anfang ganz anders eingeschätzt. Ich dachte, er wäre viel stärker. Ich hätte nie gedacht, dass der eigentlich so ein ganz Introvertierter ist. Bei John versteh ich das. Der ist ja anscheinend total arbeitslos. In der Baubranche ist das nicht mehr so – Sabrina: Hat er das gesagt? Aber normal gibt es keine arbeitslosen Zimmermänner. Normal gibt’s das nicht. Das sag ich dir ganz ehrlich. Wenn du das auf’m Bau sagst, dann lachen die sich kaputt.
Jürgen: Ja?
Sabrina: Natürlich! Dachdecker gibt’s auch nicht arbeitslos. Und Zimmermänner schon gar nicht.
Jürgen: Das hab ich mir auch gedacht. In Berlin –
Sabrina: – da wird gebaut ohne Ende. Da muss irgendwas sein. Entweder steckt er seine Ansprüche zu hoch –
Jürgen: Da ist doch jede Firma glücklich, wenn die den hat. Das ist doch so ein Malocher, ist das.
Sabrina: Dachdecker oder Zimmermann. Gibt’s normalerweise nicht arbeitslos.
Andrea: Willst du die Wurst?
Sabrina: Ne. Aber ein Bier wär super.
John kommt aus dem Bad.
Jürgen: John, du hast geschwindelt.
John: Wieso?
Jürgen: Die Sabrina sagt, es gibt keine arbeitslosen Zimmermänner.
Sabrina: Oder Dachdecker.
Jürgen: Ich hab gesagt, jede Firma kann sich doch glücklich schätzen, wenn sie dich als Arbeiter hat.
John: Das sieht im Osten aber ein bisschen anders aus.
Jürgen: Die sagt, bei ihr auf’m Bau würde man dich auslachen.
Sabrina: Ja, bei uns gibt es sowas nicht.
John: Ich sag dir doch: Bei uns sieht das etwas anders aus auf dem Arbeitsmarkt. In Berlin hast du einfach mal eine andere Arbeitsbranche.
Sabrina: Ich hab ja in Berlin auch gearbeitet. Auch in Brandenburg. Du müsstest dann eventuell umziehen. Wenn du sagst, du möchtest nur innerhalb von 50 km. Aber ansonsten kriegst du was angeboten.
John: Ja, innerhalb von 50. Ich hab eine Familie zu Hause. Dann zieh mal spontan um wegen einem Job, der zwei Monate dauert. Sabrina: Das ist eine Einstellungsfrage. Wenn du sagst, ich möchte, dass ich für eine Firma arbeite, dann arbeite ich zwei Monate da.
Andrea: Wieso zwei Monate?
John: Also ich zieh sicher nicht wegen einer Firma um.
Sabrina: Wenn du keine Arbeit findest; was willst du tun?
John: Dann muss ich umstrukturieren. Ich will doch nicht die Familie aus dem Umfeld rausreißen.
Sabrina: Wenn du keine Arbeit findest, was willst du denn da machen?!
John: Hab ich doch gesagt: umstrukturieren.
Andrea: Umschulen, oder was?
John: Irgendwas halt. Ich halt doch nicht meine Familie da raus. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Es ist nur so, bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus.
Sabrina: Natürlich Polen und Belgier. Die machen die ganzen Preise kaputt. Natürlich. Polen in Waggons hier.
John: Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drüber.
Sabrina: Ich sag, du bräuchtest gar kein Scheiß zu arbeiten.
John: Ja. Aber das sehen die Firmen heutzutage anders. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zimmermann für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Arschtritt.
Jürgen: Das war bei dir so.
John: Das is’ immer so. Ist eine Baustelle fertig, baff, weg. Brauchen sie den nicht mehr.
Jürgen: Aber da ändert sich doch schon was jetzt mit dem Schröder.
John: Schröder. Die interessieren sich nicht für Leute wie uns, wenn ihr mich fragt. Das hast du doch gesehen, mit dem Lafontaine und dem Schröder. Für den bist du ja kein Arbeiter, sondern ein Projekt.
Jürgen: Das war halt bei dir so!
Sabrina: Essen ist fertig.
Andrea: Wer spricht das Tischgebet?
John: Ich mach das. Lieber Gott, bitte mach, dass diese naiven Wessis endlich verstehen, dass im Osten –
Sabrina: Komm schon!
John: Ne, das ist immer so! Schröder. Lafontaine. Die sagen, mach was aus dir, bau dir was auf, denk über deine Zukunft nach. Wir suchen ’nen Zimmermann für immer und kaum ist die Baustelle fertig, biste weg. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Es ist nur so, dass – bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt eben etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir da nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drüber. Für Schröder bist du nur ein Projekt. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zimmermann für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig, zack, kriegst ’nen Arschtritt. Deswegen zieh ich sicher nicht um. Weil, bei uns ist Polen um die Ecke. Bei uns ist Tschechei um die Ecke. Bei uns ist Belgien um die Ecke. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Zimmermann für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig, kriegst ’nen Arschtritt.
Leider Gottes ist das so. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drüber. Es ist nur so, dass bei uns ist Polen um die Ecke, bei uns ist Belgien um die Ecke. Das ist so typisch deutsch, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Russe überhaupt nicht darüber reden würde. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Bei uns sieht der Arbeitsmarkt etwas anders aus. Bei uns ist halt Tschechei um die Ecke. Und kaum ist die Baustelle fertig, kriegst ’nen Belgier. Bei uns sieht das nunmal so aus. Bei uns ist die Arbeitslage halt ein bisschen anders. Es ist so typisch deutsch, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Als Deutscher musst du dich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Deutscher. Ich denke, dass ein bisschen Nationalstolz auch in Ordnung ist. Dass man mit gutem Gewissen sagen kann, ja, ich bin. Und deswegen zieh ich sicher nicht um! Deswegen zieh ich garantiert nicht um! Vergesst es! Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen drüber. Aber das sehen die Firmen heutzutage anders. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Leider Gottes ist das so. Heutzutage. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Belgier für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Polen. Deswegen zieh ich sicher nicht um.
Bei uns sieht der Pole halt anders aus. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ein Job alleine reicht dann oft schon nicht mehr aus. Die stellen dich an, sagen, jo, alles easy, toll, wir suchen ’nen Russen für immer und so und kaum ist die Baustelle fertig kriegst ’nen Schröder. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Geld nach Hause zu bringen. Du brauchst mir echt nix zu erzählen. Ich finde typisch deutsch ist, das der Deutsche immer noch 50 Jahre später der Meinung ist, sich für irgendwelche Sachen entschuldigen zu müssen, die wahnsinnig lange her sind. Wo der Pole überhaupt nicht darüber reden würde. Und der Russe muss sich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ich bin Tscheche. Ich denke, dass ein bisschen Stolz auch in Ordnung ist. Ich finde, das ist so typisch deutsch, dass der Arbeitsmarkt nunmal anders aussieht. Ihr seid da ziemlich naiv, aber bei uns sieht es nun mal so aus. Ihr braucht mir nix zu erzählen. Ich hab für sämtlichen Scheiß gearbeitet, um Lafontaine nach Hause zu bringen. Aber das sehen die Firmen heutzutage anders. Als Pole musst du dich überall im Ausland immer irgendwie schuldig fühlen. Ich denke mal, es ist an der Zeit, einfach wieder mal zu sagen, ja, ich bin John. Ich denke, dass ein bisschen, so ein bisschen Identitätsstolz auch in Ordnung ist.
15.
Sabrina und Andrea liegen im Schlafzimmer.
Sabrina: Ich hatte den Unfall nachts um zehn gehabt. Davor hatte ich den Arbeitsunfall gehabt. Ich war sehr angespannt. Ich stand sehr unter Leistungsdruck. Dass ich die Arbeit nicht fertig kriege, dass ich meine Leute nicht bezahlen kann. Alles zusammen, weißte. Und da hatte ich grad schön das Boot wieder am fahren. Hab alles schön aufgefangen – da mach ich diesen Autounfall. Arbeitsunfähig.
Dachte ich, mein Gott, kannste mal sagen? Ich stand da so: Lieber Gott, was hab ich getan? Kannste mir das mal sagen?! Denk ich so: Warum?! Das war so eine Art Schockzustand nachts, wenn es dunkel wurde, du musst dir vorstellen … Ich hab das keinem gesagt, ich war gar nicht in der Lage, mit irgend jemandem darüber zu reden, nicht vor meinen besten Leuten hab ich darüber gesprochen, gar nichts. Hab ich immer gekuckt, dass ich vor der Dunkelheit zu Hause war. Hab ich echt Angst gehabt, im Dunkeln zu fahren! Ich war so um halb zehn, weißt du, hab ich so richtig die Angst … Weißt du, so richtig so hoch … Hab ich mir immer so die Kippen gelegt, nur damit ich nicht in der Dunkelheit nach Hause komme. Da schlug mein Herz auf der … Autobahn, ich musste ja zu einem Kunden fahren … Das war so ein richtiger Kampf und ich sag immer wieder … Was willst du denn von mir?! Was soll ich tun, damit du diese Angst von mir nimmst?! Ist das jetzt der Moment? frag ich. Echt jetzt? War’s das? War’s das?
Andrea: Am Ende bist du immer allein. Am Ende musst du selbst für dich schauen. Besonders als Frau. Sabrina: Ja, genau, als Frau. Sag ich, schick mir ein Zeichen, ich hab’s doch bis hierher geschafft, hab mir so viel Mühe gegeben, soviel Anstrengungen auf mich genommen. Ist es immer noch nicht genug? Reicht dir das immer noch nicht? Und dann schrei ich so: Was zum Teufel willst du denn von mir? Warum muss immer alles so scheiße laufen im Leben?
Andrea: Alles. Die wollen alles. Irgendwie diese Woche hat es wieder angefangen, dass ich so scheiße schlafe. Schon wieder diese Nominierung. Ich meine, es ist ja eigentlich scheiß egal.
Sabrina: Ja, du hast recht. Da sind diese Gedanken. Ich verdränge das immer bis zu dem Tag. Ich versuche, nicht darüber zu denken, weil ich auch ein sensibler Mensch bin. Und wenn ich dann da drin bin und die da draußen mich fragen, wen ich jetzt nominiere, dann sag’ ich halt was. Aber in unsere Köpfe können die ja trotzdem nicht reinkucken, obwohl wir hier viel preisgeben von uns.
Andrea: Ich meine, die Köpfe, da weiß niemand, was sich da spinnt.
Sabrina: Die müssten erst unsere Schädeldecken aufknacken und in unseren Gehirnwindungen rumwühlen. Weißt du, Das größte Glück besteht darin, die Wahrheit zu sagen, ohne damit jemandem weh zu tun.
Andrea: Ja, vielleicht. Aber vielleicht muss es manchmal auch schmerzen. Es bringt ja nichts, wenn sich die Leute etwas vormachen. Manchmal verstehst du’s nur, wenn es körperlich schmerzt. Ist am Ende besser so. Für alle.
Sabrina: Weißt du was, ich glaube du hast recht.
Einblendung
Tag 81. Tag der Nominierung. In der Live-Show besucht eine Moderatorin die Familie von John, die alle auf einem Sofa sitzen. Auf die Frage, wer denn am Ende gewinnen werde, antworten alle: „Ich weiß es nicht.“
Außerdem werden in der Show 55.000 DM gespendet. Dieses Geld werde notleidenden Menschen in Äthiopien zugutekommen, „denn dort herrscht seit über 15 Jahren Krieg“. Eine Frau mit Namen Maike Just vom Deutschen Roten Kreuz erklärt im Studio, wie das Geld verteilt wird. Es handle sich um einen Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Eritrea, erläutert Frau Just, die erst seit wenigen Monaten beim DRK arbeitet. Erschwerend komme hinzu, dass es seit zwei Jahren nicht geregnet habe, weswegen die Ernten ausfielen und das Vieh gestorben sei. Und dann kam auch noch die Seuche dazu, sagt die junge Frau und blickt dabei betroffen in die Kamera.
Ein weiterer Gast ist Stefan Grünewald, Medienpsychologe am berühmten Rheingold-Institut für Medien- und Marktanalysen. Das Rheingold-Institut beschäftigt sich mit Medienphänomenen rund um die Jahrtausendwende. Grünewald bezeichnet die Show als eine „Puppenstube für Erwachsene“. In der Show könne man den banalen, authentischen Alltag verfolgen. Interessant sei, dass die Beteiligungsquote höher sei als die Einschaltquote. Die Menschen schauten nicht unbedingt immer zu, aber sie unterhielten sich darüber bei der Arbeit, in der U-Bahn, beim Stammtisch, in der Schule. Überall. „Die ganze Bundesrepublik spricht über die Show“, so Grünewald.
Die Leute bekämen dabei das Gefühl, selbst zu Expert*innen zu werden. Man mache Prognosen und Analysen, spreche über Verhalten. „Die Menschen spüren, dass sie in einer Welt leben, die sie nicht mehr verstehen. Wir leben in einer Welt der Wirtschaft, in einer Welt der Börsenkurse, auf die wir keinen Zugriff mehr haben“, sagt der Medienpsychologe vom berühmten Rheingold-Institut. „Hier hingegen haben wir eine Containerwelt, die wir überschauen können, die wir verstehen können, die wir mit gestalten können.“ Bei der Show erlebten die Zuschauer*innen eine Art Wiederauferstehungsgefühl, so der Mann vom Rheingold-Institut. Die Show sei ein Format, bei dem der psychologische Tiefgang durch das eigene Hinzutun entstünde. Es ist ein Format, das sich eigentlich nicht im Fernseher abspielt, sondern im dem ganzen Drumherum. Die Zuschauer sind die eigentlichen Helden.
Andrea nominiert Jürgen und John
John nominiert Andrea und Sabrina
Jürgen nominiert Andrea und Sabrina
Sabrina nominiert zunächst John und Jürgen.
Es stellt sich heraus, dass die Kandidat*innen sich abgesprochen und die Nominierungen so verteilt haben, dass alle gleich viele Stimmen erhalten würden. Die Entscheidung soll ganz an das Publikum abgegeben werden. Noch in der Kabine ändert Sabrina jedoch plötzlich ihre Meinung. Nominiert sind auf einmal John und Sabrina.
In der nächsten Runde wird Sabrina vom Publikum aus dem Container herausgeworfen. Eine Woche darauf gewinnt John die Show. Zweitplatzierte wird Andrea. Der Moderator überreicht ihr einen Gutschein für eine Thailand-Reise. „Damit du mal ein bisschen braun wirst“, sagt er und lacht in die Kamera.
Von Mitteleuropa aus verbreitet sich das Format in den folgenden Jahrzehnten über die ganze Welt. Überall werden Container aufgestellt, in welche bisher unsichtbare Menschen einziehen, um sich in ihrem Alltagsleben beobachten zu lassen – in der Hoffnung auf Ruhm, Anerkennung und Bedeutung. Es ist ein globaler Triumphzug.
Expert*innen werden sich über den Einfluss von Big Brother uneinig bleiben. Die einen sagen, dass die Menschen allmählich die Fähigkeit verlieren würden, zwischen Privatem und Öffentlichem und zwischen Spiel und Ernst zu unterscheiden. Andere wiederum werden versichern, dass der Einzug der gewöhnlichen Menschen in die Container ein wichtiger Schritt in der Demokratisierung der globalen Gesellschaft war.
Einig sind sich alle in der Auffassung, dass der erste Container aus dem Jahre 2000 ein historisches Ereignis darstellte, das den Lauf der Geschichte wie eine Axt in zwei Teile teilte: Die Welt vor und die Welt nach der ersten Staffel.
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Auszug aus „1984“ von George Orwell © Ullstein Verlag 2019