Das hervorrufende Sprechen
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Das hervorrufende Sprechen holt eine abwesende Wirklichkeit auf die Bühne, indem es Vorstellungen von dieser Wirklichkeit sprechend imaginiert. Wir finden diese Sprechweise im Botenbericht und in der Mauerschau. Vergangene oder im Moment beobachtete Ereignisse, die auf der Bühne nicht dargestellt werden können oder sollen, werden sprechend hervorgerufen. Das Geschehen entsteht, indem es erzählt wird, vor dem inneren Auge der Zuhörer. In einem in der sprecherzieherischen Arbeit oft und gern verwendeten Text aus dem Stück „Penthesilea“ lässt Heinrich von Kleist im 1. Auftritt (vgl. Kapitel Odysseus/Penthesilea/Kleist) die Figur des Odysseus öffentlich den Kampf zwischen Griechen, Trojanern und Amazonen in einer Weise berichten, die die Vorgänge für die Zuschauer erlebbar macht. Die Zuschauer werden über das Geschehen, das sie nicht sehen können, in Kenntnis gesetzt, um die Geschichte zu verstehen und ihr im weiteren Verlaufe der Handlung folgen zu können. Ihre Vorstellungskraft ist gefordert. Das Zuschauen wird zu einem aktiv mitzufabulierenden Prozess.
Odysseus, der die Geschichte erzählt, befindet sich nicht mehr oder nur zum Teil in der erzählten Situation. Die erzählende Situation ist durch seine Motive, die Geschichte zu erzählen, und die Handlungsabsichten bezüglich seiner Kommunikationspartner bestimmt. Diese situativen Merkmale beeinflussen die Art und Weise, wie er die Geschichte erzählt. Er verhält...