Theater der Zeit

Thema

Material als Zeitreise

Zwei Stücke für vergessene Figuren

Neue Inszenierung – neues Material. Das ist der Normalfall. Was aber passiert, wenn für ein Projekt auf altes, bereits geformtes Puppen-Material zurückgegriffen wird? Welche Wege in die Vergangenheit eröffnen sich durch die Re-Aktivierung? Frank Soehnle erlebte eine unerwartete Zeitreise, als er mit dem figuren theater tübingen ein Marionetten-Ensemble von Fritz Herbert Bross aus den 1950er Jahren wieder auf die Bühnen brachte.

von Frank Soehnle

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Baden-Württemberg Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater

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Ein Zufall brachte uns zu Marionetten aus den 50er Jahren. Gebaut wurden sie von Fritz Herbert Bross für seinen Schüler Albrecht Roser. Die meisten der 13 Figuren wurden nie gespielt, teilweise wurden sie für Fortbildungen benutzt, einzelne Charaktere hatten kurzzeitig Auftritte in Rosers Soloprogramm. Zwei szenische Grundideen, für die sie entstanden sind, waren uns bekannt. Ein „Totentanz“ und eine „Kriminalgeschichte“.

Die sechs geschnitzten Charaktere für den Totentanz bestechen neben ihren technischen Qualitäten durch ihre außergewöhnliche Ausstrahlung. Die gedrechselten Figuren der Kriminalgeschichte sind eher festgelegte Typen und überraschen durch Trickqualitäten. Gebaut zwischen 1956 und 1961 präsentierte sich das Ensemble in einem guten Zustand. Dennoch waren Materialien wie Schaumstoff und Leder brüchig, Textilien der Kostüme teilweise angegriffen. Mit Vorsicht wurde erneuert und ersetzt.

Erst beim Zerlegen und Erneuern der Figuren wurde uns bewusst, welcher Schatz an Erfahrungen und Entwicklungen im Bereich des Marionettenbaus vor uns lag. Fritz Herbert Bross war ein Meister der Balance. Seine Berechnungen für die passenden Schwerpunkte, die präzisen Fadenansatzpunkte und die Lösungen der Spielkreuze erlauben ein sehr feines Animieren. Ein präzise gesetzter Impuls bewirkt eine organische Bewegung aus der Körpermitte der Figur. Bei aller Begeisterung für dieses Ensemble fiel es uns nicht leicht, mit der Typisierung der Geschlechterrollen aus den 50er Jahren klarzukommen. Szenische Lösungen fanden wir im Inszenierungsprozess durch das Verhältnis zur animierenden Person oder weiteren Mensch-Puppe- oder Puppe-Objekt-Beziehungen. Ein neues Wahrnehmen wurde durch einen erweiterten Umgang möglich. Die Figuren dürfen Figuren sein, Zitate aus einer anderen Zeit, über die sie erzählen.

So erarbeiteten wir mit den Bross-Figuren zwei Stücke, die unter dem Titel „strings up!“ an einem Abend gezeigt werden. Der Totentanz setzt als erster Teil Menschen und Figuren in Beziehungen in einer Choreografie zu Max Richters Vivaldi-Neukomposition. Der zweite Teil „krimi lounge“ präsentiert die Figuren in einer „lecture demonstration“ zu Jazzmusik.

Erstaunlich beim Improvisieren und Erspielen der Marionetten war, wie viel Geschichte in ihnen gespeichert ist. Plötzlich wurden Gefühle und Emotionen der 50er Jahre spürbar. Die Figuren erzählen im Spiel von der Zeit, in der sie gebaut wurden. Wie Instrumente, die eine vergangene Zeit zum Klingen bringen, öffneten uns diese Marionetten ein Fenster in eine andere Zeit. Ich bilde mir ein, etwas über die Generation meiner Eltern verstanden zu haben, das mir nicht bewusst war. Ein Verständnis jenseits der Worte. Ein emotionales Geschichts-Verständnis.

Durch einen offeneren Umgang mit den Marionetten entstand eine neue ästhetische Linie. Sie werden als Zitate wahrnehmbar und erzeugen Reibung im Aufeinandertreffen mit den realen Menschenkörpern und verkleinerten Objektfiguren. Sie erzählen von einem Zeitsprung. Vom Abschiednehmen und Erwachsenwerden, vom Heimkehren und Verschwinden. Eine sinnliche Begegnung mit einer anderen Generation wird möglich.

Wäre das mit neu gebauten Figuren ebenso möglich gewesen? Wir nennen diese Form der Inszenierung in unserem Repertoire „retro-creation“, da sie gleichzeitig zurück und kreativ nach vorne sieht.

www.figurentheater-tuebingen.de

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