2.2 Immersives Theater im engen Sinn
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Im Folgenden möchte ich Einblick in jenen bereits erwähnten Korpus immersiver Theateraufführungen geben, der sich formal – und damit auch wirkungsästhetisch – von all den anderen gesichteten Arbeiten abgehoben hat (Kap. 2.2.1). Ihn als immersives Theater im engen Sinn separat zu betrachten und einer Analyse zu unterziehen, ist dabei weniger als Abgrenzung denn als Spezifizierung gemeint. Denn auch in diesen Arbeiten manifestiert sich das in Kapitel 2.1 erläuterte, veränderte immersive Theaterdispositiv.
Die Besonderheit immersiven Theaters im engeren Sinn ist die Einbindung der teilnehmenden Zuschauer*innen in eine szenografisch durchgestaltete Repräsentation einer fiktiven Lebenswelt. Die formale Grundanlage der Inszenierungen arbeitet mit dem, was Stephan Günzel »notwendige Immersion« (Günzel, 2015, S. 70) nennt, d. h., dass der Unterschied zwischen Bild und Nicht-Bild bzw. für das Theater zwischen Fiktion und Wirklichkeit »allein gewusst, nicht aber mehr gesehen werden kann« (ebd.). Mit Betreten des Aufführungsraums werden Zuschauer*innen nicht mehr als Theaterzuschauer*innen, sondern in einer der fiktiven Weltversion entsprechenden Funktion – als Gast, Patient*in, Angestellte*r oder Besucher*in – adressiert. Die Szenografie des immersiven Environment sorgt als dominantes Wahrnehmungsdispositiv dafür, dass die Zuschauer*innen – ob sie wollen oder nicht – dem Aufführungsgeschehen nicht mehr distanziert gegenübersitzen (können), sondern buchstäblich komplett von ihm ein- und umschlossen werden.
Nach einer kurzen Einführung in diesen engen Aufführungskorpus immersiven Theaters (2.2.1) werde ich formale Besonderheiten wie die (z. T. hyperrealistische) szenografische Gestaltung der Weltversionen sowie dominante Strategien der Fiktionalisierung und Rahmung mit Rekurs auf zwei historische Vorläufer-Formate aus der bildenden bzw. installativen Kunst – die »totale Installation« und »fiktive Institutionen« – herausarbeiten. Es wird sich dabei zeigen, dass mit Blick auf die Wirkungsästhetik immersiven Theaters zentral ist, dass es für Zuschauer*innen hinsichtlich Wahrnehmung und Erfahrungsschatz zu einer symptomatischen Verflechtung von fiktiver Weltversion und geteiltem Aufführungsgeschehen kommt. Im Anschluss an den in Kapitel 1 vorgestellten Immersionsdiskurs und der herauspräparierten Genealogie von immersiven Bewegungssimulatoren, über Themenpark-Weltversionen, populäre Simming-Angebote bis zum Worldbuilding virtueller Simulationen schlage ich deshalb vor, Aufführungen immersiven Theaters im engeren Sinn als Wirklichkeitssimulationen zu bezeichnen (2.2.2).
Wie die Analyse der verschiedenen Publikumsinvolvierungsstrategien im immersiven Theater anhand meiner Aufführungsbeispiele in Kapitel 4 zeigen wird, zielt die Einbindung der Zuschauer*innen als Mitwirkende der Wirklichkeitssimulationen auf (ver-)einnehmende und vereinnahmende Dimensionen ab. Kapitel 2.2.3 führt in das zentrale Konzept der Vereinnahmung ein und zeigt, worin das Potential dieses Begriffs mit seiner produktiv-ambivalenten Semantik für die Analyse der Publikumsinvolvierung in immersivem Theateraufführungen liegt. Zu guter Letzt möchte ich die sechs Aufführungsbeispiele von SIGNA, Punchdrunk, Paulus Manker und Scrugss/Woodard, die in den Analysen im Mittelpunkt stehen werden, bündig vorstellen (2.3).