Theater der Zeit

Theater und Territorium

Zuhören. Eine radikal-politische Erfahrung

Dokumentartheater über die Gewalt im Baskenland

María San Miguel leitet seit 2012 das Ensemble Proyecto 43-2, mit dem sie die Trilogie „Rescoldos de paz y violencia“ ins Leben gerufen hat – eine theatrale Auseinandersetzung mit der baskischen Zeit­geschichte und deren biografische Auswirkungen. In diesem Artikel beschreibt sie die Etappen und die künstlerischen und persönlichen Schlussfolgerungen dieser Reise.

von María San Miguel

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)

Assoziationen: Europa Dossier: Spanien

„Viaje al fin de la noche“ von Proyecto 43-2, Text und Idee von María San Miguel in der Regie von Pablo Rodríguez am Teatro de La Abadía. Foto Alba Muñoz
„Viaje al fin de la noche“ von Proyecto 43-2, Text und Idee von María San Miguel in der Regie von Pablo Rodríguez am Teatro de La Abadía.Foto: Alba Muñoz

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Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Dokumentartheater-Trilogie über die Gewalt im Baskenland, an der ich nun schon seit zehn Jahren arbeite. Von sämtlichen Fragen, die in dieser Zeit aufkamen und die sich jedes Mal aufs Neue stellen, wenn wir uns zu einer Probe treffen oder ein Stück zur Aufführung bringen (denn diese intensive Beziehung zum Theater und zum Leben beginnt immer wieder von vorn und endet nie), ist sie die einzige, auf die ich nach all den Jahren eine klare und konkrete Antwort habe: Ja, es gibt mehr Dinge, die uns mit anderen verbinden, als solche, die uns von ihnen unterscheiden.

Ich bin geradezu besessen von der Vorstellung, das Alltägliche, das meist unbemerkt bleibt und uns dennoch grundlegend prägt, auf die Bühne zu bringen. So ist auch dieses akademische Forschungsprojekt entstanden, das sich schließlich zu einer Theatertrilogie entwickelt hat. Ich wollte herausfinden, wie der Alltag aussieht, nachdem in den Nachrichten über einen Mordfall berichtet wurde, wollte erfahren, was nach solch einem Anschlag geschieht. Wie eine betroffene Familie nach einem derartig traumatischen Ereignis weiterleben kann. Wie es sein kann, dass die Gewalt das soziale Leben bestimmt. Dass einige tradierte Vorstellungen wichtiger erscheinen als das Recht auf Leben. Und warum die nackte Angst schwerer wiegt als die Kraft der Worte.

Vor allem aber wollte ich wissen, was mit all dem geschieht, was ungesagt bleibt.

Denn es gibt immer etwas, was nicht erzählt wird, was nicht Bestandteil der offiziellen Berichterstattung ist, welche wir schließlich stillschweigend als die ganze, einzige Wahrheit akzeptieren, ohne uns dessen bewusst zu werden. Dabei steckt in genau diesen übersehenen Details in der Regel das Leben selbst – oder es öffnet sich zumindest eine Tür, die den Raum für Widersprüche und andere mögliche Überlegungen zur vermeintlichen Realität freigibt, die jeweils vom Mainstream nicht thematisiert werden. Denn der Mainstream wird im Film nie Zweifel säen, was den Bösewicht betrifft; für ihn wird dieser immer böse sein. Er führt uns auch nicht den unermesslichen Schmerz vor Augen, der uns so ­fragil und verletzlich macht. Weil es einfacher ist, sein Leben zu leben, ohne um ihn zu wissen. Weil uns die Erinnerung an das, was wir sind, zermartert. Und weil diese manchmal zu schmerzhaft ist.

Deshalb habe ich dieses Ensemble gegründet. Um das auf die Bühne zu bringen, was bislang niemanden interessiert hat. Um das zu erzählen, was nicht en vogue war, „denn dafür war es noch zu früh“.

Mit einer Mischung aus Neugier, wilder Intuition und prägender Bildung (bereits lange vor meiner Geburt hat politisches Engagement in meiner Familie eine besondere Rolle gespielt; ich studierte Theaterwissenschaft an der Universidad Carlos III in Madrid, wo Domingo Ortega uns lehrte, die Darstellenden Künste, ganz im Sinne Federico García Lorcas und des von ihm geleiteten Wandertheaters La Barraca, buchstäblich unter das Volk und an die soziale Peripherie der Gesellschaft zu bringen) beschloss ich, genau das zu ergründen, was mein soziales und kulturelles Umfeld ausmachte.

Ich gehöre zu jener Generation, die morgens zu der Radiomeldung über einen weiteren ETA1-Anschlag aufwachte und später herausfand, dass der Rechtsstaat (unser eigener, der uns ja eigentlich schützen sollte) Folterungen durch Sicherheitskräfte und Morde durch die GAL2 veranlasst hat. Deren Opfer im Übrigen bis heute nicht vom Staat als solche anerkannt worden sind.

Die Interviews, die Beobachtungen und der direkte Umgang mit einer heterogenen Gruppe von Menschen, die im Rahmen des sogenannten baskischen Konflikts sehr unterschiedliche Gewalterfahrungen gemacht haben oder dies weiterhin taten, bilden die Grundlage der gleichermaßen dokumentarischen wie politischen Arbeit, um die es in „Rescoldos de paz y violencia“ („Spuren von Frieden und Gewalt“) geht. Anfangs war mir eines nicht klar: Das, was wir machten, sprich aus dem gesamten, während der Treffen entstandenen Material, ein Stück und eine Inszenierung zu entwickeln, war Dokumentartheater. Ein sehr politisches noch dazu. Ich musste herausfinden, was abseits der Medienberichterstattung und der wenigen Bücher (vorwiegend Essaybände), die dort 2009 auf Spanisch (und nicht auf Baskisch) veröffentlicht worden waren, vor sich ging. Deshalb beschloss ich, ausgestattet mit freier Zeit und einem Tonbandgerät, ins Baskenland zu fahren.

Dieses intuitive Bedürfnis hatte ich (das wurde mir erst später klar) meinem journalistischen Studienabschluss zu verdanken. Der Unterricht von José María Calleja und weiterer Dozierender in meinem geistes- und politikwissenschaftlichen Studium hatte mich nachhaltig geprägt. Die einzige Möglichkeit, alles, was ich wissen wollte, aus erster Hand zu erfahren, bestand also darin, vor Ort zu sein, gezielt Fragen zu stellen und intensiv zuzuhören. Es ging darum, all diese Erfahrungen mit nach Hause zu nehmen und dann auf das Material, die Bücher und Zeitungsausschnitte zurückgreifen zu können, um die Inszenierung mit künstlerischer Präzision auszuarbeiten (auch das eine meiner Obsessionen) und dabei niemals die Ästhetik aus den Augen zu verlieren.

Dank Rafaela Romero durfte ich Menschen kennenlernen, die aufgrund ihres Werdegangs und ihrer Erfahrungen zwar durchaus zu jenen großen Gruppen zählen, die in der politischen und gesellschaftlichen Berichterstattung eine Rolle spielen, die aber im Vergleich zu denen, die in den Medien letztlich zu Wort kommen, eher unkonventionelle Standpunkte vertreten. Dadurch konnten wir etwas über Komplexität und Vielschichtigkeit erfahren. Das ist ebenfalls politisch. Denn das Leben ist komplex und so vielfältig wie die Dinge, die uns zu dem machen, was wir sind. Das haben wir durchs Zuhören gelernt. Und auch das ist politisch.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Neoliberalismus tief verwurzelt ist. Wir sind an den beschleunigten Konsum und an die kurzlebigen Nachrichten gewöhnt, die in Lichtgeschwindigkeit kursieren und fast genauso rasant wieder verschwunden sind. Die Schnelllebigkeit ist zu einem Lifestyle geworden. Sich hinzusetzen und stundenlang zuzuhören, was jemand über sein Leben zu erzählen hat, wurde somit unbewusst zu einem politischen Akt, der alles veränderte. Es hat uns als Menschen geprägt, weil wir andere Geschichten kennenlernen durften und weil einige unserer althergebrachten, vertrauten Vorstellungen ins Wanken gerieten. Und das wiederum hat eine Veränderung in uns als Künstler:innen bewirkt.

Denn das Zuhören hat unsere Perspektive erweitert, uns zugleich aber auch mehr Verantwortung übertragen für den Prozess, diese Zeugnisse schließlich auf der Bühne zu präsentieren. Nach und nach haben wir verstanden, dass die Figuren (zusammengesetzt aus einem Mosaik unterschiedlicher Erfahrungen jener Personen mit ähnlichem Profil, die wir interviewt hatten) voller Schweigen und Widersprüche waren. Und dass dies wunderschön war. Und dass der Schritt, sie auf die Bühne zu bringen, ein spannendes Zusammentreffen all dieser divergierenden Narrative ermöglicht hat, die innerhalb der großen sozialen und politischen Gruppen existieren, und von denen wir nicht gewohnt sind, sie als Teil einer Erzählung wahrzunehmen. Dass es auf der Bühne, genau wie im Leben insgesamt, Raum für unterschiedliche Meinungen und verschiedene Lebensweisen im baskischen Konflikt gibt. Und dass das Theater auf der Grundlage dieser undefinierten Lücken im vorherrschenden Diskurs die Bildung neuer Narrative fördert, die etwas bewegen können, indem es ihnen eine starke Stimme verleiht und sie damit zum Leben erweckt.

Dieses Bedürfnis, Neues zu entdecken und stets noch mehr zu erfahren, hat uns zum Wesentlichen geführt, zu diesem Konflikt, der unser eigener ist – auch dahin, einige der großen universellen Themen zu behandeln: Identität, Gewalt, Erbe, Schweigen und die Begegnung mit dem Anderen, dem Andersartigen. All dies steht im Zeichen der Vielfalt, das die zahlreichen Facetten aufzeigt, die eine Familie, eine soziale Gruppe, eine Nation ausmachen. Oder gleich die ganze Welt.

Nach mehr als zwei Jahren des kontroversen Hin und Her, der Fragen, der langen Antworten, der poetischen Bilder und der intensiven Suche nach einem Weg, auf welche Weise wir diese Geschichte erzählen könnten, gelang es uns – vier Monate, nachdem die ETA den endgültigen Waffenstillstand erklärt hatte – „Proyecto 43-2“ („Projekt 43-2“) auf die Beine zu stellen: das Stück, das später den Anfang einer ganzen Trilogie bilden sollte.

Es war kein leichtes Unterfangen. Das war es nie, weder die erste Inszenierung argumentativ zu untermauern noch die beiden darauffolgenden „La mirada del otro“ („Der Blick des Anderen“) und „Viaje al fin de la noche“ („Reise bis ans Ende der Nacht“). Auf den Dialog zu setzen und auf die Begegnung mit dem Andersartigen, was letztlich nichts anderes war als eine künstlerische Interpretation unserer Rechercheerfahrungen. Das scheint in diesem Land subversiv zu sein. Es scheint auf Unverständnis zu stoßen, oder auf mangelndes Interesse, oder beides. Aber das spielte letztlich keine Rolle, denn mit diesen ersten Begegnungen war der Grundstein bereits gelegt worden.

Nähe zu erleben, gemeinsam die Berge zu erkunden und aufs Meer zu blicken, um all den Schmerz zu verarbeiten, der sich beim stundenlangen Zuhören angestaut hatte, und in die Augen so vieler verschiedener Menschen zu blicken – all das hat einen intellektuellen und künstlerischen Impetus geweckt. Vor allem aber hat es für einen innigen Zusammenhalt gesorgt, der mir immer wieder die Kraft gegeben hat, mit diesem Projekt fortzufahren.

Einen Zusammenhalt, der auch politisch ist. Und uns immer wieder aufs Neue überrascht.

Denn noch 2009 hätte ich es nicht geglaubt, wenn mir jemand gesagt hätte, wer, dank uns, bei der Premiere von „La mirada del otro“ am 24. April 2015 im Baskenland im Parkett des Teatro Coliseo de Eíbar nebenein­andersitzen würde: all die Opfer der ETA und einige der Dissidenten der Terrorgruppe (denen Ausgang aus der Haft gewährt worden war), die 2011 an den Versöhnungstreffen im Gefängnis von Nanclares de la Oca teilgenommen hatten.

Oder wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich einmal ein sehr enges Vertrauensverhältnis zu einem ehemaligen ETA-Mitglied und Attentäter aufbauen würde, oder zu jenem Mann, der unermüdlich für den Frieden in unserem Land gekämpft hat, dann hätte ich auch das niemals für möglich gehalten.

Aber genau das ist es, was Theater und künstlerische Prozesse leisten können: Dass Realität wird, was einst bloß in unserer Vorstellung Platz hatte: die Inszenierung alternativer Lebensweisen auf der Bühne. Und die Veränderung, die es mit sich bringt, wenn wir – so alltäglich und radikal politisch zugleich – einander zuhören und uns gegenseitig in die Augen blicken. //

Aus dem Spanischen von Lea Saland

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