Protagonisten
Mit Blick in die Welt
Das JES Stuttgart verabschiedet seine Intendantin Brigitte Dethier
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Akteure Kinder- & Jugendtheater Baden-Württemberg Brigitte Dethier Junges Ensemble Stuttgart

Nach 20 erfolgreichen Jahren am Jungen Ensemble in Stuttgart verabschiedet sich Intendantin Brigitte Dethier mit dem internationalen Festival Schöne Aussicht. In einer kleinen Wohnküche erlebt Oma Monika mit ihrem Enkel Abenteuer. Wenn seine Eltern bei der Arbeit sind, fragt der Junge die Seniorin, wie ihr Leben war. Brigitte Dethier, Theaterchefin des Jungen Ensembles Stuttgart (JES), steht in dieser schwierigen Rolle selbst auf der Bühne. Umsichtig denkt sie sich in die Welt der Frau hinein, die immer mehr die Orientierung im Alltag verliert. „Weißt du noch, was dein Beruf war?“ Die Neugier des Jungen, den Sebastian Kempf spielt, ist deutlich zu spüren. Das verwirrt die demenzkranke Frau. Sie erinnert sich nur noch daran, „dass er zwölf Buchstaben hatte“.
In dem Stück des jungen Regisseurs Milan Gather, das für den Kinderstücke-Wettbewerb des Mülheimer Dramatiker-Wettbewerbs ausgewählt wurde, geht es um das Verstehen. „Diese Rolle zu spielen, das war ein Traum für mich“, sagt die 63-jährige Intendantin des JES. Zum Ende der Spielzeit gibt sie die Leitung der Kinder- und Jugendbühne am Stuttgarter Tagblatt-Turm in jüngere Hände an ihre Nachfolgerin Grete Pagan. An Ruhestand denkt die Regisseurin, die auch Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für das Kinder- und Jugendtheater (ASSITEJ) ist, noch lange nicht: „Die nächsten zwei Jahre bin ich mit Regieaufträgen ausgebucht.“ Wieder frei zu arbeiten, das reizt die Theaterfrau, die in Stuttgart-Sillenbuch am Waldrand lebt.
Bei Spaziergängen rund um den nahen Fernsehturm entspannt sie sich, denkt über kommende Projekte und kulturpolitische Krisen nach. „Vielleicht inszeniere ich später mal wieder am JES“, sagt die Künstlerin. Ab Herbst möchte sie aber erst mal Grete Pagan das Ruder überlassen. Die designierte Intendantin des JES, das Dethier aufgebaut hat, fing 2004 als Regieassistentin bei der Stuttgarter Bühne an. Dass ihre Nachfolgerin ein „Eigengewächs“ ist, das macht die Intendantin glücklich und stolz.
Dass sie zum Ende ihrer Laufbahn noch mal selbst auf der Bühne stehen darf, ist für die temperamentvolle Theaterfrau besonders herausfordernd. Parallel zu ihrem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften und Psychologie in Frankfurt machte sie in Heidelberg ihre Schauspielausbildung. Dann begann sie ihre Theaterlaufbahn an der Schauburg, dem Theater der Jugend in München. 2002 gründete sie die Kinder- und Jugendbühne JES, deren Strahlkraft weit über die baden-württembergische Landeshauptstadt hinausreicht. Das internationale Festival Schöne Aussicht, das vom 8. bis 15. Mai im JES und an anderen Spielorten in der Stadt über die Bühne geht, hat die Vernetzerin ebenfalls aufgebaut.
Wer die Künstlerin mit dem ansteckenden Lachen auf der Bühne erlebt, spürt, dass sie da ganz in ihrem Element ist. Mit dem Enkel backt sie Stachelbeerkuchen und diskutiert über die Gleichstellung der Frau in den 1950er Jahren. Mit dicker Brille und angegrautem Dutt tanzt sie sich mit dem Jungen in Erinnerungen an ihre große Liebe und an ihr Leben als berufstätige Frau hinein. Bittere Momente hat das Stück, wenn der Junge versucht, seine Oma zu erziehen.
Da schöpft Dethier aus der Krankheitsgeschichte ihrer eigenen Mutter. „Es ist nicht leicht, damit umzugehen, dass der geliebte Mensch immer mehr vergisst, sich im Alltag immer weniger orientieren kann.“ Zärtlich zeichnet die Schauspielerin Dethier auf der Bühne das Bild eines Menschen, der einfach den Augenblick genießt. Lächelnd träumt sie sich in das Lokal hinein, in dem sie mit ihrem Mann Konradin tanzte. Sie schüttelt die Glieder, strahlt wie ein Schulmädchen, ist plötzlich mit dem eigenen Enkel wieder jung. Oder sie zieht als Chefredakteurin politische Strippen.
Im geistigen und körperlichen Verfall die eigene Würde zu bewahren, das zeigt die Schauspielerin wunderschön und sehr sensibel. „Dass Generationen dieses Stück gemeinsam besuchen, das finde ich wunderbar.“ Dethier versteht es auch, die bitteren Seiten des Älterwerdens auf der Bühne zu zeigen. Wenn ihre Oma Moni ratlos vor dem Herd steht, nicht weiß, was sie tun soll, dann schwingt da auch viel Bitterkeit mit. Da scheut sich die Schauspielerin auch nicht, ihre eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht zuzulassen. Solche Momente schafft der junge Regisseur Milan Gather in der einstündigen Inszenierung für Kinder ab acht Jahren immer wieder.
Obwohl Brigitte Dethier leidenschaftlich gern an der Schauspielschule studiert hat und auf der Bühne stand, wechselte sie früh ins Regiefach. Das Kinder- und Jugendtheater ästhetisch weiterzuentwickeln, hat die Künstlerin gereizt. „Früher gab es da viele Vorurteile“, erinnert sie sich. Theater für Kinder, das galt in ihren Anfangsjahren als künstlerisch zweitklassig. Dagegen hat Brigitte Dethier angekämpft. Musik, Tanz, Performance und die bildenden Künste gehören für sie gerade beim Theater für Kinder dazu. Und weil Kinder aus ihrer Sicht ein besonders kritisches Publikum sind, entwickelte sie da auch in ihren eigenen Regiearbeiten großen Ehrgeiz.
„Alle Sinne herausfordern, schon die Kleinsten künstlerisch ausbilden“, das ist der Anspruch der unkomplizierten Theaterfrau. Wenn im JES Vorstellung ist, mischt sich Brigitte Dethier gerne unter das junge Publikum, tratscht mit Teenagern oder trinkt einen Tee mit den Eltern, die über die spannenden künstlerischen Konzepte staunen. Wenn die Kinder und Jugendlichen dann später im Theaterraum lachen und staunen, freut sich die Intendantin mit.
Kämpferisch war Brigitte Dethier schon immer. Mit ihren innovativen Ideen hat sie entscheidend dazu beigetragen, Baden-Württemberg auch zum Musterland in Sachen Theater zu machen. Von 1989 bis 1993 war sie Künstlerische Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters an der Landesbühne Esslingen, von 1993 bis 1995 in gleicher Funktion am Landestheater Tübingen. Chefin des berühmten Kinder- und Jugendtheaters Schnawwl am Nationaltheater Mannheim war sie von 1996 bis 2002. Gerade in den Anfangsjahren stieß Dethier auf viel Widerstand, etliche Theaterchefs lehnten es ab, finanzielle Mittel für eigene Kinder- und Jugendensembles abzuzwacken. „Überzeugen“, das hat Dethier auch viel Kraft gekostet. Inzwischen haben sich Qualität und Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters durchgesetzt.
2002 gründete sie das Junge Ensemble in Stuttgart, das Bühnenkunst für die junge Generation mit umfassenden theaterpädagogischen Angeboten verbindet. Dass das Haus stetig wuchs, ist auch ihrem politischen Geschick zu verdanken. Sie scheute sich nie, in wichtigen Gremien ihre Stimme zu erheben. Im Vorstand des Deutschen Bühnenvereins hat sie viel bewegt. Manchmal wirkt die Künstlerin, die sich mit den Jahren immer mehr in die Rolle einer kulturpolitischen Akteurin hineinfand, erschöpft. Denn es war nicht immer einfach, Gelder für ihre ambitionierten Theaterprojekte einzutreiben. „Gerade das Kinder- und Jugendtheater war von Spardebatten besonders hart getroffen.“ Oft hat auch sie sich da eine blutige Nase geholt. Wenn sie von der Rotstiftpolitik spricht, ist da viel Frust herauszuhören. Für ihre Verdienste um die Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters hat das Land Baden-Württemberg die couragierte Theaterchefin 2004 mit der Verdienstmedaille ausgezeichnet. Für ihre Inszenierung „Noch fünf Minuten“ bekam sie 2009 gemeinsam mit dem belgischen Choreografen Ives Thuwis-De Leeuw den Deutschen Theaterpreis Der Faust.
Wichtig ist Brigitte Dethier in ihrer Theaterarbeit der Blick in die Welt. Mit dem Theaterfestival Schöne Aussicht versammelt sie internationale Künstlerinnen und Künstler in Stuttgart. Eine langjährige Weggefährtin ist Jennie Reznek vom Magnet Theatre in Südafrika, das „Stone Play“ für Kinder ab drei Jahren in Stuttgart zeigen wird. „Ich wünsche mir, dass deutsche Künstlerinnen und Künstler mit den internationalen Ensembles aus Belgien, Holland und der Schweiz miteinander in Kontakt kommen“, bringt Dethier das Festivalkonzept auf den Punkt. Dass die persönliche Begegnung an den großen Esstischen, die im Foyer unter dem Stuttgarter Tagblatt-Turm aufgestellt werden, wieder möglich sind, freut die Intendantin. Arbeitstreffen für Künstlerinnen und Künstler aus allen Sparten runden das Festivalprogramm ab.
Mit der Produktion „Hotel Europa“, ihrer vorerst letzten Arbeit am JES, erfüllt sich Dethier ihren Traum vom internationalen Theater. Für das Ensemble hat sie zehn Spieler:innen aus sieben Ländern um sich geschart. „Wegen der Pandemie stand die Besetzung bis zuletzt auf der Kippe“, sagt die Regisseurin, die das Projekt gemeinsam mit Kjell Moberg vom NIE Theater realisiert. Mit ihm hat sie auch bereits das Projekt „The Emigrants“ in Szene gesetzt, das die Flüchtlingskrise aus vielstimmigen Blickwinkeln untersucht. „Wir fragen, was den Kontinent überhaupt noch zusammenhält“, sagt die Regisseurin. Dieser Frage mit Menschen aus unterschiedlichen Theaterkulturen nachzuspüren, das reizt sie. Wie geht es weiter, wenn das Alte nicht mehr ist? Diesen Horizont des zerfallenden Europas will das Regieteam erkunden. Dass die Intendantin bis zuletzt mit Absagen und Neubesetzungen im Ensemble kämpfen musste, hat ihr die Arbeit sehr erschwert. „Endlose Zoom-Sitzungen“ haben das internationale Projekt dann trotz der Pandemie möglich gemacht, das am 1. Mai in einem Gemeindesaal in Stuttgart Premiere feiert.
Lange wird Brigitte Dethier sich dann aber danach nicht ausruhen können. Am Theater Luzern realisiert sie das vierjährige Projekt „Das Ring-Ding“, das in dieser Spielzeit startete. Richard Wagners großen „Ring des Nibelungen“ spiegelt sie in dem spartenübergreifenden Projekt im modernen Fantasy-Genre. Auf die langen Spaziergänge am Vierwaldstätter See freut sie sich schon jetzt. Ihre Leidenschaft für das Musiktheater hat sie an der Deutschen Oper Berlin mit ihrer hoch gelobten Lesart von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ aus der Sicht starker Mädchen wiederentdeckt. „Weniger Verwaltungsarbeit“, das werde sie genießen, wenn sie nicht mehr Intendantin ist. Den neuen, künstlerischen Lebensabschnitt will die Theaterchefin mit Mut zum Experiment anpacken. //