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Die Geister, die Europa rief
Wer darf wen wie spielen? Mit Julia Kristeva, Jacques Derrida und dem Konzept der „Heimsuchung“ erklärt Elisabeth Tropper in ihrem Buch „Enter the Ghosts of Europe“ aktuelle Theaterinszenierungen
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)
Gespenster gehen um in Europa – die Gespenster der Migrantisierten, Kolonisierten und Geflüchteten. Mit ihrem Ausschluss aus der europäischen Identität beginnt die Heimsuchung, denn – wie schon im Begriff angelegt – nur das Abgeschlossene, das Heim, kann von einem Grenzübertritt bedroht sein. Wenn in Horrorfilmen eine vorerst unbekannte Kraft in den intimsten Kreis der Familie eindringt, offenbart sich im Fortgang der Handlung häufig, dass es sich nicht um Willkür handelt, sondern um eine unbefriedete Vergangenheit, die nun ihr Recht einfordert. Das Verdrängte kehrt wieder und rüttelt an der Gegenwart. Ähnlich verhält es sich mit der Figur des Zombies. Die Halbtoten drohen meist mit der Übertragung eines Virus, der zur Auflösung des eigenen Körpers führt. Gespenster und Zombies erodieren gleichsam Grenzen.
Entwickelt man den Begriff der Philosophin Julia Kristeva weiter, lassen sich die Schwellenfiguren als Personifikationen oder Metaphern des Abjekten verstehen. In Kristevas psychoanalytischer Konzeption fordern Ausscheidungen wie Körperflüssigkeiten die Grenzen des Ichs heraus. Dem Subjekt erscheint das Abjekte unheimlich, weil es die Zuordnung in Eigenes und Fremdes infrage stellt. Im Horror vor halbverwesten Untoten refiguriert sich der Ekel, den diese Schwellensubstanzen hervorrufen, weil sie Identitätsdichotomien erschüttern.
Übertragen auf soziale Verhältnisse, ordnet der Mechanismus der Abjektion den Subjektstatus: Wer wird aus der Perspektive von Europäern und Europäerinnen – selbst eine sich immer wieder verändernde Konstruktion – als Subjekt wahrgenommen? Wer objektifiziert und entpersonalisiert? Wer kann sprechen und wer bringt nur Laute hervor?
Für die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Elisabeth Tropper ist das Theater der prädestinierte Raum für die Wiederkehr der Gespenster Europas. Die Heimsuchung wird dort zur subversiven Waffe der verdrängten Gegenwart von Flucht und Kolonialismus, auf die sich die Autorin inhaltlich fokussiert. Nicht nur spukt in den Strukturen der Häuser ein monarchischer Geist, auch die ihnen eigene Medialität ist gespenstisch. Eine Theateraufführung erscheint und verschwindet, ruft Vergangenes und Zukünftiges an. Den Zuschauerinnen und Zuschauern scheint nur ihr flüchtiger, unmittelbarer Eindruck zu bleiben, wenn eine Vorstellung beendet ist und sie wieder auf die Straße treten. Videoaufnahmen oder Inszenierungstexten gelingt es nicht, diese Erfahrung zu konservieren, wenngleich Fotografie und Film auch eine gespenstische Dimension zukommt. Man denke nur an Aufnahmen von Verstorbenen.
In ihrem Dissertationsprojekt „Enter the Ghosts of Europe. Heimsuchungen Europas im Theater der Gegenwart“ untersucht Tropper die Verschränkung von ästhetischer und inhaltlicher Heimsuchung auf der Bühne. Dafür stützt sie sich primär auf die Denkfigur des Abjekten von Kristeva, in der Grenzziehung und -übertretung hervorgehoben wird, etwa im Topos der immateriellen Spektralität – der Wiederkehr einer vergangenen Gegenwart in Anlehnung an Jacques Derridas Konzept der „Hantologie“. Auf dieser philosophischen Grundlage analysiert Tropper, wie in fünf zeitgenössischen Inszenierungen die Gespenster und Zombies Europas die Bühne und das meist westeuropäische Publikum heimsuchen. Ihre Auswahl beschreibt eine Bewegung von der europäischen Innenperspektive, die sie selbst einnimmt, hin zu einer außereuropäischen Manifestation der Gespenster. So reflektiert sie die Metapher der Heimsuchung als eine standortabhängige und umgeht so eine eurozentristische Setzung. Denn je nach Position verändert sich, wer oder was als Heimsuchung wahrgenommen wird. Und auch in Europa ließe sich die Metapher umdrehen: Von der Bedrohung der „Festung Europa“ durch die „Flüchtlingswelle“ – ein völkisch-nationalistisches Bild – zum Gespenst des Rechtspopulismus, das aus seinem shallow grave heraufsteigt, einem sehr flachen, nur knapp unter der (Erd-)Oberfläche ruhenden Grab.
Zu Beginn ihrer Aufführungsanalysen widmet sich die Autorin der 2015 zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ von Nicolas Stemann aus dem Thalia Theater Hamburg. „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, sagt da ein Chor aus Geflüchteten auf der Bühne und markiert so die eigene Stellung zwischen An- und Abwesenheit. Im zugrunde liegenden Text von Elfriede Jelinek sprechen die Überlebenden für die Toten, die nur noch ein „Menschenklotz“ im Wasser sind, und die Autorin stellvertretend für die Geflüchteten. Angelehnt an Aischylos’ „Die Schutzflehenden“, bleibt in der Fläche aus Zitaten und Wiederholungen eine gespenstische Leerstelle. Die im Mittelmeer Ertrunkenen sind stimmlos, kommen nicht vor. Tropper zufolge füllt Stemann die von der Autorin bewusst gesetzte Auslassung durch den Chor. Das wirft für die Theaterwissenschaftlerin Fragen der Repräsentation auf, die folgenreich zwischen Ermächtigung im symbolischen Raum der Bühne und ausgestellter Ohnmacht changieren. Einerseits bringe der Regisseur die Geflüchteten ins Theater, wo sie in körperlicher Präsenz von ihren Erfahrungen berichten können, andererseits seien sie darauf festgelegt, sich selbst zu spielen.
Für Tropper kristallisiert sich hier eine grundlegende Problematik im Umgang mit der inszenierten Heimsuchung heraus. Die Gespenster können entweder in einer selbstbestimmten Darstellung erscheinen – oder jemand lässt sie erscheinen, wodurch sich das Machtverhältnis im institutionalisierten Theater wiederholt. So werden die unheimlichen Positionen gezähmt und auf ihre vermeintlich authentische Selbstidentität zurückgeworfen. Der hier beschriebene Konflikt ist im zeitgenössischen Theater noch immer in Aushandlung. Häufig werden migrantisierte oder geflüchtete Menschen auf die Bühne gestellt, um von ihrer dem bürgerlichen Publikum fremden Lebensrealität zu berichten. Mit ihren Körpern sollen sie eine echte Erfahrung be- und erzeugen, die Erwartungshaltungen bestätigt und befriedet, jedoch nicht beunruhigt. Die von ihr am Material entwickelte Frage, wie wer für wen im Theater sprechen kann und sollte, um Perspektiven und Geschichten zu öffnen, ohne gewaltvolle Zuschreibungen zu wiederholen, bleibt eine der akutesten und produktivsten Problemstellungen auf der zeitgenössischen Bühne. „Ten Thousand Tigers“, das von Ho Tzu Nyen am Esplanade Theatre Studio Singapur inszeniert wurde, dreht das Macht- und Blickdispositiv – zumindest ein Stück weit – um und ist eine wichtige Ergänzung in Troppers Auswahl. In der Theaterinstallation des Regisseurs aus Singapur ist die Autorin während eines Gastspiels bei den Wiener Festwochen mit einem ihr fremden Gespenst konfrontiert – dem malaiischen Tiger. Erst nach intensiver Recherche schafft sie es, einige Bedeutungsebenen des mythologisch aufgeladenen Tiers zu entschlüsseln, ohne den Vorgang in ihrer Darstellung zu exotisieren. Sie entzieht sich und ihrer Arbeit so einem „europäisierten“ Blick. Für Tropper entsteht hier eine Erfahrung des Sich-fremd-Werdens, die einen Ausweg aus der Grenzziehung zwischen Eigenem und Anderen weist, wie ihn Kristeva in ihrer Publikation „Fremde sind wir uns selbst“ entwickelte.
Auch mit Derrida eröffnet die Autorin eine Perspektive: Gerade im Theater sei die Gastfreundschaft und das „Mitsein mit den Gespenstern“ denkbar, „wenn auch nur für einen vorübergehenden Zeitraum“. Ausführlich und überzeugend theoretisiert Tropper Theater als Schauplatz der Geisterbeschwörung, indem sie ästhetische und philosophische Überlegungen an die konkrete europäische Gegenwart anlegt. Dabei wird ihre Arbeit von der eigenen politischen Dringlichkeit heimgesucht. Denn die Dekonstruktion der subalternen Gespenster könne, so die Theaterwissenschaftlerin, nicht ohne Angriff auf die völkisch-nationalen Zombies erfolgen. //