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Kern des theatralischen Handelns
Dem Theaterhistoriker und Stanislawskij-Spezialisten Dieter Hoffmeier zum 90.
von Thomas Wieck
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Wissenschaft Akteure Dieter Hoffmeier
Mit der kühlen Mitteilung, Brecht habe bereits 1953 gefordert, die Lehren und Methoden Stanislawskijs in ihrem historischen Entstehen, ihrer inneren Widersprüchlichkeit kennenzulernen, begann Dieter Hoffmeier, Dozent für Deutsche Theatergeschichte an der Leipziger Theaterhochschule im Jahre 1967 als erster deutscher Theaterhistoriker seine jahrzehntelange Expedition durch das sprachlich und terminologisch ganz eigenwillige Dickicht der Schriften und Inszenierungen Konstantin S. Stanislawskijs. Hoffmeier beschrieb sein Unternehmen, Stanislawskij neu, sprich historisch, entgegen der normativ kulturpolitisch festgezurrten Lesart zu lesen:
„Wenn man seine Ansichten undogmatisch, d. h. in ihrer historischen Entwicklung und nicht in äußerlich zurechtgestutzter Systematik auffassen will, muss man alle Bemühungen erwähnen, bei denen er seine Grundansichten erneut an der Wirklichkeit der Gesellschaft und des Theaters zu überprüfen versuchte, selbst wenn ihm das nicht völlig glückte. … Erst auf solcher Materialgrundlage kann später überhaupt untersucht werden, welche Anwendungsmöglichkeiten sich in unserer heutigen Theaterpraxis für Stanislawskijs Lehren und Methoden ergeben … und worin sie unter weiterentwickelten geschichtlichen Bedingungen zwangsläufig unzulänglich bleiben.“
Um diese Ziele zu erreichen, war der Ausbruch der Theaterwissenschaft, westlich aus den geistesgeschichtlichen Traditionen und östlich aus dem parteiideologischen Gehege, unumgänglich. Sie musste sich erst zur Wissenschaft emanzipieren, was ihr erstaunlicherweise zeitgleich und beidseits mittels des Rückgriffs auf sozialpsychologische Erklärungsmuster des theatralischen Handelns...