Auftritt
Greifswald/Stralsund: Gefangen in der ideologischen Blase
Theater Vorpommern: „Weißer Raum“ von Lars Werner. Regie Reinhard Göber, Ausstattung Stefan Heyne
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Berliner Theatertreffen: Unendliches Spiel – Der Schauspieler André Jung (05/2019)
Assoziationen: Theater Vorpommern (Stralsund) Theater Vorpommern (Greifswald)
Die Bühne von Stefan Heyne liegt da wie eine Eiswüste, in der sich Schollen aufeinandergeschoben haben: ganz weiß. Unbefleckt? Nein, eher tödlich, so wie in Georg Trakls „Psalm“, wo es heißt: „Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.“ Autoreifen, ein vergessener Weihnachtsbaum, Büroreste und eine Art Hochsitz: alles erscheint wie in einen weißen Schutzanzug gesteckt. Die Szenerie wirkt aber nicht nur sehr kalt, sondern auch sehr gefährlich.
Weiß, das ist die Farbe des Todes oder, wie der Autor Lars Werner (geboren 1988) sagt, der offenbar an Grafikdesign denkt: „Zwischen zwei geschriebenen Zeilen ergibt sich durch den Weißraum eine optische Grenze.“ Werner hat mit seinem Stück, für das er 2018 den Kleist-Förderpreis erhielt, ein Experiment unternommen. Er untersucht die unsichtbaren Grenzen, die uns trennen, nicht mehr nur Ost und West oder Junge und Alte, auch jene, die sich äußerlich gesehen gleichen. Aber sie sind eben doch verschieden. Und das ist immer wieder auch eine schmerzhafte Erfahrung.
Eine Frau wird am verlassenen Provinzbahnhof überfallen. Sie ruft laut um Hilfe. Versuchte der Marokkaner Munir Bounou sie zu vergewaltigen? Man wird es nicht erfahren, denn Uli, der Gleiswärter (Mario Gremlich), ist der Frau zu Hilfe geeilt. Er schlägt so stark auf den Angreifer ein, dass dieser stirbt. Ist Uli ein Held, der die Frau vor einer Vergewaltigung rettete, oder hat er eher den Anlass gesucht, mal an einem der ihm verhassten Araber all seine Aggressionen auszulassen? Wollte er ihn am Ende gar töten? Die angegriffene Frau ist Journalistin (Maria Steurich), sie geht der Sache mit unheimlich wirkendem Eifer nach.
Werner breitet ein Figurenpanorama der ostdeutschen Provinz aus. Aufsteiger und Absteiger, vom Aufschwung schlicht Vergessene, die mit ihrem Schicksal hadern, ohne dabei je ihre Selbstgerechtigkeit aufzugeben. Schuld haben an allem immer die anderen. Konfrontation, Militanz, das ewige Entweder-oder bestimmen hier die Szenerie. Was wächst da? Nichts Gutes. Kein Wunder, dass den Autor die Frage umtreibt: „Für wen arbeitest du?“ Das scheint mehr eine Unterstellung als eine Frage, auf die noch in der DDR Sozialisierte allergisch reagieren – steht denn immer einer hinter mir, der mich lenkt, glaubt denn keiner, dass ich mich durchaus selbst lenken kann?
Doch die Generation der heute Dreißigjährigen hat andere prägende Erfahrungen gemacht, solche wie den NSU-Prozess, wo keiner der ist, der zu sein er vorgibt. „Weißer Raum“ hat darum auch mit den weißen Flecken in unserer Selbstwahrnehmung zu tun. Einiges erscheint überscharf, anderes verschwimmt, einiges wird sogar ganz ausgeblendet. Das ist eine Realität im Übergang, in dem keiner weiß, wohin. Doch gibt es ein neues radikales Bedürfnis nach Klarheit: Marie, die Journalistin, wehrt sich vehement dagegen, einer wie Uli könnte sie „gerettet“ haben. „Macht mich nicht zum Opfer!“, schreit sie. Sie könne sich sehr gut selbst verteidigen, brauche keine selbsternannten Beschützer. Auch sie radikalisiert sich, scheint nur noch auf ein Thema fixiert: zu beweisen, dass Uli den Marokkaner aus Fremdenhass tötete. Sie schreibt darüber jetzt nicht mehr nur für die Provinzpresse: „Das ist deine überregionale Karrierechance!“, sagt ihr ein Journalistenkollege.
Regisseur Reinhard Göber hat den Text von Lars Werner, in dem ein großes Unbehagen gärt, als eine Art Sturm und Drang von heute verstanden. Über die einzelnen Inhalte kann man streiten, unstrittig ist der Wille, die Decke der Lügen, die über allem liegt, endlich fortzureißen.
Zum Personal des „Weißen Raums“ gehört auch Patrick (stark im Ungeschliffenen: Tobias Bode), der Sohn von Uli, dem Gleiswärter. Patrick ist ein verurteilter Neonazi, auch er rebelliert auf seine Weise gegen die herrschende Verlogenheit. Die einzige Sprache, die Wirkung zeigt, ist für ihn die Gewalt. Aus dem Gefängnis heraus plant er Aktionen, lässt seinen Vater Uli an seiner Stelle Reden halten, die er ihm schreibt.
Es gibt in diesem Stück Handlungsstränge und Motive, die sehr konstruiert wirken und auch nicht immer überzeugend verknüpft sind. Etwa wenn eine Bewährungshelferin Patrick zugleich erpresserische Angebote eines Geheimdienstes offeriert oder eine Pfarrerin am Grab von Munir Bounou ihre Sympathie für Ulis verquast-nationalistische Rhetorik zeigt (in beiden Rollen: Susanne Kreckel). Da schwingt dann selbst Verschwörungstheorie mit.
Überzeugend an diesem intensiv gespielten Abend aber ist die Botschaft, den in sich eingesponnenen Selbstbildern aller hier Beteiligten nicht zu glauben. Alle scheinen hier etwas, was sie nicht sind. Alle zeigen immer nur auf andere. Keiner existiert jenseits der ideologischen Blase: Die Entfremdung, so der Befund, beschädigt alle. //