Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Wie wir mit dem Text in einen Dialog treten

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

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Die Begegnung mit dem künstlerischen Text lässt sich noch aus einer anderen Perspektive betrachten. Das Lesen ist eine zielorientierte sprachliche und kreative Handlung, ein kommunikativer Vorgang. Wir wollen den Text verstehen, die Motive und Intentionen der handelnden Figuren und der Autoren nachvollziehen. Zwischen dem Text und den Lesern findet eine Interaktion statt. Wir gelangen auch auf diese Weise in die Erfahrungswelt der Autoren und ihrer Figuren. Indem wir in der Lage sind, Vorgänge im Text zu erkennen, verstehen wir, wem, durch wen, wann, wo, warum, wozu und wie was geschieht. Der Handlungsaspekt des Lesens macht deutlich, dass der Leser je nach Intention unterschiedlich an einen Text herangehen kann. Sein Vorwissen und sein Interesse geben ihm verschiedene Möglichkeiten, einen Text zu erschließen und zu interpretieren. Das Lesen und Verstehen künstlerischer Texte ist ein aktiver, sinngebender Prozess, in dem wir sowohl eine Innen- als auch eine Außenperspektive einnehmen. Wir sehen die im Text erzählte Welt mit den Augen der handelnden Figuren und versetzen uns in sie hinein. Wir bewerten ihr Handeln in konkreten Erzählsituationen. Der Text lädt uns sowohl zum Mitspielen als auch zum Zuschauen ein.192 Wir treten mit dem Text in einen Dialog, der auf unserem Wissen und unserer Vorstellungskraft gründet und den Text insofern verändert, als dass er sich uns preisgibt. Mit guter Dichtung kann dieser Dialog ein Leben lang geführt werden. Jede Lebensphase führt zu einer tieferen Durchdringung verdichteter Texte. Lesen wir den Text laut, geben wir ihm eine von uns und anderen wahrnehmbare Gestalt. Möglicherweise bleiben wir dem Duktus des sinnerfassenden Lesens noch eine Weile verhaftet. Wir versuchen, die Gedanken zu ordnen, sie in Sinnschritte zu unterteilen und zu erkennen, wie sich der Gedankenbogen entwickelt. Dabei orientieren wir uns zunächst an den Satzzeichen. Die Interpunktion folgt der Logik des geschriebenen Textes und einem Regelwerk, das für die jeweilige Sprache empfohlen wird. Sie gibt nicht immer verlässliche Auskunft darüber, wie ein gesprochener Satz von Hörern sinnlich erfasst werden kann. Wenn wir sprechend eigene Gedanken entwickeln, setzen wir Zäsuren in Abhängigkeit von unserem Denktempo in einer konkreten Sprechsituation. Eindruck und Ausdruck wechseln sich ab und werden im Verhältnis von Ein- und Ausatmung gegliedert. Einzelne Sinnschritte können Teil eines Gedankens sein. Ein gedanklicher Bogen kann sich über mehrere Haupt- und Nebensätze erstrecken. Wichtige Informationen sind von weniger wichtigen zu trennen. Die deutsche Sprache ist syntaktisch so konstruiert, dass für das Verständnis besonders relevante Informationen am Anfang und am Ende von Sätzen und Textpassagen zu finden sind. Die Informationen, die zuerst in unseren Arbeitsspeicher gelangen, werden zuerst bearbeitet. Von einem gedanklichen Ausgangspunkt gelangen wir direkt oder auf Umwegen zu unterschiedlichen Zielen. In Abhängigkeit vom Kontext treffen wir Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der die Worte aufeinander folgen. Wird unsere Erwartung zu früh eingelöst, beginnen wir, uns zu langweilen. Im anderen Fall wird eine Spannung erzeugt. Die Unvollständigkeit eines gedanklichen Bogens erhöht unser physiologisches Erregungsniveau und damit unsere Aufmerksamkeit. Wir sind neugierig und wollen wissen, wie die Sache ausgeht. Beim Sprechen des Textes müssen wir diese Informationen als Eindrücke gedanklich an den Anfang stellen. Unsere Eindrücke sind der Grund dafür, dass wir sprechen. Der Text wird von seinem Ende her gesprochen. Wir erzählen eine Geschichte ausgehend von ihrer Fabel. Wir wollen auf etwas hinaus, das uns erzählenswert erscheint, wir möchten jemanden bewegen, wir handeln mit Sprache und lenken die Aufmerksamkeit der Hörer auf bestimmte Aspekte der Geschichte, um Handlungen bei ihnen in Gang zu setzen. Genauso ist es möglich, einen Gedanken zusammen mit Hörern zu entwickeln. Dann wissen wir noch nicht, wohin die Reise geht, wir lassen uns gemeinsam überraschen. Beim Lesen aktivieren wir semantische Konzepte, die Gefühle und unbewusste Bewegungsabläufe auslösen. „Unsere auf Worten basierenden Gedanken sind automatisch mit den motorischen Abläufen der Artikulation verbunden.“193 Kinder bewegen beim Lesen noch unwillkürlich Mundlippen und Zunge. Gleichzeitig sind Worte an Konzepte gebunden, die eine Sensomotorik beinhalten, welche an körperliche Erfahrung geknüpft ist. Erinnerung ist die Fähigkeit, sensomotorische Abläufe zu wiederholen. Das Lesen eines Textes bewegt uns. Textinhalt, Textstruktur und der Lesevorgang lösen bei Lesern Gefühle aus. Wenn sich der Text schwer oder nicht erschließen lässt, kann das zu Frustration führen oder als Herausforderung betrachtet werden. Wir sollten nicht zu früh aufgeben. Mancher Text, der sich anfänglich spröd und unzugänglich zeigte, entfaltet seinen Reichtum erst nach und nach. Gute Dichtung kann, wie schon erwähnt, ein Leben lang ein Ort des Staunens bleiben, an dem man immer wieder neue Entdeckungen machen kann.

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