Theater der Zeit

Fragment-Bewusstsein

von Ulrike Haß

Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)

Assoziationen: Theatergeschichte

Attisch-rotfigurig Hydria, Syleus-Maler, um 475 v. Chr. Standort: Antikensammlung, Staatliche Museen zu BerlinFoto: Johannes Laurentius

Das Chorgedächtnis der antiken Tragödien betont die Erde als Trägerin und Nährerin aller Lebewesen und als ihr Grab. In der Tradition von klassischen Philologen und Übersetzern wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Wolfgang Schadewaldt oder Emil Staiger werden Erinnerungen chthonischer Art ausnahmslos mit Metaphern aus dem maternalen Umfeld wiedergegeben. Das lateinische Attribut ‚maternal‘ wird mit ‚mütterlich‘ oder ‚mütterlicherseits‘ übersetzt und steht in enger semantischer Beziehung zu den Feldern von Abstammung und Vererbung. Es verzichtet zwar auf den Zusatz einer linearen Logik wie das adjektivische ‚matrilinear‘, das die soziale und erbrechtliche Folge ‚in der Linie der Mutter‘ bezeichnet. Dennoch stehen beide Bezeichnungen vollständig im Horizont der Idee einer genealogischen Abfolge. Die Übertragung von verwandtschaftlicher Herkunft, Ansehen und Eigentum von einer Generation auf die nächste wird entlang einer mütterlichen Linie imaginiert und geregelt, während die des Vaters ohne Bedeutung bleibt.

Allein schon die Zusammensetzung von ‚maternal‘ und ‚linear‘ erscheint widersinnig. Die Idee einer Linearität, die zwischen Herkunft und Nachfolge im Einzelfall vermitteln soll, setzt sich maßgeblich erst mit der Gründungsenergie von Stadtstaaten und ihren männlichen Protagonisten durch. Voraussetzung dafür ist eine Entdeckung, die sich in den langen Übergängen zwischen nomadischen und agrarischen Kulturen allmählich herausgebildet hat: die Entdeckung einer männlichen Fruchtbarkeit, die in ländlichen...

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