Theater der Zeit

Vorwort

von Eleni Varopoulou, Hans-Thies Lehmann und Eiichirô Hirata

Erschienen in: Recherchen 64: Theater in Japan (02/2009)

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Der Versuch, in einer umfänglichen Publikation das neuere und zumal gegenwärtige japanische Theater in seinen vielfältigen Facetten zu untersuchen, ist - soweit wir sehen - in einer europäischen Sprache bisher nicht unternommen worden. Der Band versteht sich auch als Schritt zu einer weiteren Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit in der Theaterwissenschaft auf diesem Gebiet. Die nachstehenden Bemerkungen sind als ein kleiner Wegweiser durch die versammelten Beiträge gedacht, die sich in Schwerpunktsetzung und Duktus deutlich voneinander unterscheiden, durch den direkten und praktischen Zugang zu den Theaterphänomenen aber auch von den meisten japanologischen Studien auf diesem Gebiet. Dieser direkte Zugang zum Theater bedarf der Hervorhebung. So wie es ein durchgängiger Zug der neuen Theaterentwicklungen seit den 1960er Jahren ist, dass sehr viele Theater aus studentischen Theatergruppen an den Universitäten hervorgehen, gilt auch heute, dass in Japan in aller Regel das Geschäft der Theaterkritik von Akademikern aus Leidenschaft für die Sache betrieben wird. Davon leben kann man nicht. Auch die Autoren dieses Bandes engagieren sich zumeist von akademischen Zusammenhängen aus für die Kritik und Reflexion des gegenwärtigen Theaters.

Ausgangs- und Zielpunkt der Abhandlungen ist ein besseres Verständnis jener äußerst lebendigen Theaterszene Japans, zumal Tokyos, die mit ihren zahlreichen und höchst unterschiedlichen Theaterformen und Institutionen durchaus mit westlichen Metropolen vergleichbar ist. Jene Theater, vor allem in den Bezirken Ginza, Hibiya, Shinjuku oder Shibuya, bieten eine erstaunliche Vielfalt vom unterhaltsamen Boulevardtheater über gesellschaftskritische Aufführungen, bei denen Satire oft ins Absurde umschlägt, bis hin zu hochtechnologischem Medientheater und zu eigentümlichen Mischformen mit dem - durchaus fortbestehenden - klassischen Nô oder Kabuki sowie nicht zuletzt einer aktiven »Nach-Butoh«-Tanzszene, die mit Recht längst internationale Anerkennung gefunden hat.

Tokyo ist ohne Frage das Zentrum des Theaterlebens, obwohl es vor der Modernisierung seit der Meiji-Ära fast gleichrangige andere Zentren wie Osaka und Kyoto gab. Eines der Motive von Suzuki Tadashi, nach Toga im Hochgebirge zu gehen, war es, mit einem mutigen Schritt dieser »Tokyo-Kultur« zu entkommen. In den letzten Jahren treten auch andere Orte wieder ins Blickfeld. Es ist bemerkenswert, dass die Gruppe Dumb Type aus Kyoto stammt und dass sich jüngere Regisseure gegenwärtig oft sehr bewusst entschließen, an anderen Orten zu arbeiten, zum Beispiel Nakashima Makoto in Tottori oder Miura Motoi, der in Kyoto, Kanamori Jô, der in Niiagata arbeitet.

Die Autoren der vorliegenden Sammlung unternehmen den Versuch, das neuere japanische Theater in allen Bereichen, also neues Theater, Performance, klassisches Theater (Nô, Kyôgen, Kabuki), Butoh und Tanz allgemein aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Dabei unterscheiden sie erstens Facetten des Hybriden im japanischen Theater: reichliche Rezeption des westlich orientierten Sprechtheaters im gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontext Japans; Angura und das explosive Körpertheater; Butoh und die Dekonstruktion konventionalisierter Körperbilder; Formen der experimentellen Zusammenarbeit zwischen Tradition und »Avantgarde«. Eine Reihe von klassischen Nô-Schauspielern experimentierte seit dem Ende der 1960er Jahre zusammen mit Angura-Leuten.

Als wesentlicher Faktor wird zweitens immer wieder die Dialektik des Fremden und des Eigenen im Theater hervorgehoben. Japans modernes Theater steht seit 130 Jahren unter dem starken Einfluss des europäischen. Es gab das große gesamtgesellschaftliche, also auch politische und ästhetische Modernisierungsprojekt, in dessen Rahmen auch Shingeki zu sehen ist. Umgekehrt wirkt Butoh sehr eigentümlich japanischostasiatisch, entwickelte sich jedoch tatsächlich in den 1940er und 1950er Jahren auch durch die Auseinandersetzung mit dem modernen Tanz in Europa. In der japanischen Theaterkultur gibt es also zahlreiche Verflechtungen der westlichen mit den asiatischen Richtungen. Für die europäische Perspektive wiederum hatte die Begegnung mit japanischer Kultur immer wieder den Stellenwert einer Anagnorisis auch der eigenen Theaterkultur und Ästhetik aus anderer Perspektive und aus einem anderen Kontext heraus.

Periodisierung
In vielen Beiträgen wird auf unterschiedliche Phasen der japanischen Theaterentwicklung abgehoben. In großen Zügen lässt diese sich etwa wie folgt periodisieren:

1. Die 1960er und frühen 1970er Jahre sind die Phase der Angura-Bewegung (Underground-Bewegung), die die etablierte gesellschaftliche Weltanschauung von Grund auf erschütterte. Es war auch in Japan eine Zeit der Protestbewegungen mit der politisch aktiven »Zengakuren«-Studentenorganisation, Arbeiterprotesten und Widerstand gegen den Vietnamkrieg. In dieser Zeit erlangte Butoh Weltruhm; Terayama Shûji zum Beispiel gastierte bereits in München. Es entsteht eine Reihe von künstlerischen Ansätzen, die aus der Perspektive des Auslands manchmal zeitverzerrt wahrgenommen werden. Ein Künstler wie Suzuki Tadashi etwa wird erst Ende der siebziger und dann vor allem in den achtziger Jahren international rezipiert. Die ästhetische Radikalität dieser Angura-Bewegung ist besonders durch den Umstand gekennzeichnet, dass sie mit Grund radikal modern oder postmodern wirkt, aber zugleich den Versuch ausdrückt, unter der Oberfläche der rasanten Modernisierung, die Japan seit der Meiji-Ära durchgemacht hatte, zu einer Art Wiederentdeckung des eigenen Selbst zu gelangen. Ein bedeutendes Thema der Künstler war das Gefühl einer Fremdheit im eigenen Körper, eines Körpers, der durch die japanische Kultur, die Verhaltensformen des Alltags und die ästhetischen Traditionen zutiefst geprägt war und doch zugleich mit der hypermodernen Lebensumwelt »kollaborieren« sollte und wollte. Man hat bei Angura von einer »Wiederkehr der Götter« gesprochen, jedoch im Sinne einer Dialektik des Archaischen und der Jetztzeit. Moderne und Antimoderne waren deshalb auf das Engste verwoben, die Suche nach neuen Formen war zugleich eine Art des Widerstands gegen Internationalisierung und Kolonisierung. Man kann diese Polarität von Modernisierung und archaischer Rückwendung vielleicht mit den europäischen Verhältnissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichen, wo man ebenfalls eine Verbindung von Moderne und Antimoderne konstatiert, als Sadayakko und andere die »modernen« Europäer faszinierten und ein Georg Fuchs archaische rituelle Antike als adäquaten Ausdruck für die Moderne beschwor.

2. Die 1980er Jahre in Japan werden immer wieder als Phase der sogenannten Kleintheaterbewegung bezeichnet. Zahlreiche Gruppen und Individuen geben sich mit Leidenschaft einer Theaterarbeit hin, die sich in vielen neu eröffneten, meist kleinen Räumlichkeiten abspielt und für ein jüngeres Publikum eine Alternative zu den etablierten Theaterinstitutionen darstellt. Deutlich ist die Tendenz zu einer eher entpolitisierten Kommerzialisierung und Konsumorientierung des Theaters in diesem »Shôgekijô-Boom« (Trend der Kleintheater-Bewegung), von dem zum Beispiel Peter Eckersall spricht. Jedoch kompliziert sich das Bild dieses Jahrzehnts dadurch, dass die Revolteure und Erneuerer der vorherigen Angura-Phase in den achtziger Jahren ihre Arbeit fortsetzen, jedoch oft nicht mehr so wie zuvor im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Was den internationalen Austausch angeht, so findet er hauptsächlich durch eine gesteigerte Anzahl von ausländischen Gastspielen statt, die Anregungen und Impulse für die japanische Theaterszene geben. Kantor wird mit dem Gastspiel DIE TOTE KLASSE bekannt, Jan Fabre gastiert mit DIE MACHT DER THEATERLICHEN TORHEITEN, Robert Wilson mit Deafman Glance. Und es gibt Kooperationen wie die zwischen Suzuki und Theodoros Terzopoulos.

3. Das Jahr 1990 brachte durch eine dramatische Wirtschaftskrise mit nachfolgender Rezession und Krisenstimmung und durch den Beginn des Irakkriegs einen Wandel der Atmosphäre. Die neuen Tendenzen seit den neunziger Jahren sind durch Gruppen wie Dumb Type und Kaitaisha geprägt. Das Theater rückt mit spürbarer formaler Aggressivität einerseits die neuen Technologien und Medien und andererseits eine provokante Körperlichkeit in den Vordergrund. Zugleich gelingt japanischen Theaterleuten oft erst in den neunziger Jahren der Schritt aus den winzigen Theatern auf größere Bühnen vor allem in Tokyo, sie gewinnen ein breiteres Publikum. Die neunziger Jahre sind auch eine Zeit des gesteigerten und nunmehr wechselseitigen internationalen Austauschs. Es werden nicht nur Gastspiele in Japan organisiert, sondern auch Arbeiten von Regisseuren, Dramaturgen, Autoren aus Deutschland in Japan mit japanischen Schauspielern und Mitarbeitern. Umgekehrt reist eine Reihe jüngerer japanischer Theaterleute nach Deutschland, um hier Erfahrungen an Theatern zu sammeln. Man versucht also in und seit den neunziger Jahren, die relative Isoliertheit des aktuellen japanischen Theaterlebens gegenüber der internationalen Szene zu überwinden - die Kleintheater-Gruppen der achtziger Jahre waren oft sehr stark auf sich selbst fixiert.

Einflüsse
Ein Phänomen wie der Butoh-Tanz hat einerseits deutlich erkennbare Wurzeln in Europa (speziell den deutschen Ausdruckstanz), wirkte aber andererseits selbst bekanntlich höchst inspirierend auf die »westliche« Auffassung von Tanz und Theater zurück. Das im Butoh vorherrschende Körperbild nimmt den Rand des Lebens: Sterben, Deformation, Selbst-Fremdheit, »Tier-Werden« und »Pflanze-Werden« (um mit Gilles Deleuze zu sprechen) in sich auf, strebt die Intensität einer überpersönlichen Präsenz und Intensität des Körpers an, der zugleich sich aufzulösen beginnt und in auch unheimliche Zustandsformen übergeht. Die Auseinandersetzung mit dem Hässlichen, Grotesken, Ekelerregenden gibt dem Butoh einen weiteren besonderen Zug. Es genügt, diese Elemente zu benennen, um sich klarzumachen, wie eng diese Bewegung konzeptuell mit den zeitgenössischen Interessen an Tanz und Performance im Westen korrespondiert. Die interkulturelle Begegnung fällt naturgemäß leichter auf der Ebene des Tanzes; asiatische Tänzer werden schon seit langem weltweit rezipiert (von Ohno Kazuo und Hijikata Tatsumi bis Teshigawara Saburô). Im Sprechtheater bemüht man sich sehr um solche Kooperationen, die natürlich oft sprachliche Hindernisse zu überwinden haben. Trotzdem kennen die Interessierten in Japan mittlerweile durch solche Arbeiten in Japan Josef Szeiler, René Pollesch, Jossi Wieler ebenso wie etwa Simon McBurney. Viele junge Theaterleute streben auch heute danach, sich in Europa auszubilden, und suchen hier neue Anregungen.
Ein bedeutender begleitender Faktor war die Rezeption der New Yorker Avantgarde in Japan. Auch Anregungen aus anderen Kulturen könnten ein eigenes Kapitel der neueren japanischen Theatergeschichte sein. Wir sprechen hier vor allem vom Austausch mit Deutschland, und da ist festzuhalten, dass es einen ganz bestimmten Theatertext gibt, der einen kaum zu überschätzenden Faktor für das neuere Theater in Japan darstellt, unzählige Male in Japan aufgeführt wurde und nachhaltig das Bewusstsein von dem geprägt hat, was Theater als Kritik tradierter Formen und Kritik der Gesellschaft in der Gegenwart sein kann: Heiner Müllers HAMLETMASCHINE. Ein erwähnenswerter Moment war dabei die Arbeit von Josef Szeiler 1992 in Tokyo, wo er eine HAMLETMASCHINE-Performance parallel mit einer HAMLET-Inszenierung des Tokyo-Engeki-Ensembles von Hirowatari Tsunetoshi im Vorort Musashi Seki herausbrachte.

»Moderne«
Mit dem Stichwort »Moderne« und »Modernisierung« verbindet sich in Japan unmittelbar der Gedanke an die durchgreifende Modernisierung einer hoch traditionell geprägten Gesellschaft seit der Meiji-Ära. Im Shingeki-Theater des frühen 20. Jahrhunderts, das mit der japanischen »Modernisierung« in Verbindung stand, stellte der aus Europa aufgenommene ästhetische Realismus für die traditionell hoch formalisierte japanische Theaterkultur eine modernistische Sensation dar. Während der Bühnenrealismus in Europa alsbald von diversen Avantgardebewegungen angegriffen und verworfen wurde, behielt er in Japan über lange Zeit hin Gültigkeit als Ausdruck einer neu eröffneten Theatersprache der »Moderne«, die sich zudem - zumal in den Jahren um 1930 - mit einem starken oppositionellen, sozialkritischen und politischen Impuls verband. In den ersten Jahren nach 1945 war wiederum Shingeki die unbestrittene Hauptströmung, zumal sie von den amerikanischen Besatzern - anders als das »feudalistische« traditionelle Theater - als der »Demokratisierung« förderlich unterstützt wurde. Das Shingeki blieb freilich nicht einfach stehen, sondern nahm immer wieder als »work in progress« neue Formen, Inhalte, Stilmittel in sich auf. Das japanische Theater eröffnete damit eine bis heute andauernde Phase des Experimentierens mit seinen Möglichkeiten. In den sechziger Jahren jedoch wanderte die Geste des Protests gleichsam vom Shingeki zu Angura.
Für das europäische Verständnis ist es wichtig zu wissen, dass die Begriffe Moderne und Modernisierung in Japan aus diesen Gründen etwas anders erlebt und verstanden wurden und werden als in Europa. Auf der einen Seite wurde die Moderne nach langem Stillstand und langer Abschließung durchaus positiv erlebt, zugleich aber war die Modernisierung auch etwas, das dem Lande zunächst von der Außenwelt (dem Westen) und dann vom japanischen Staat mehr oder weniger aufgezwungen wurde. Das Schillernde der Modernisierungsidee in der japanischen Perspektive rührt daher, dass sie, obwohl aufgezwungen, von vielen begrüßt wurde. Auf der anderen Seite trat, wie bereits bemerkt, spätestens in den späten sechziger und siebziger Jahren in der Angura-Bewegung auch die Kritik an der überhastet vorangetriebenen gesellschaftlichen Modernisierung hervor. Die Herrschaft der Ökonomie über die Gesellschaft, die Zerstörung auch guter Traditionen, ökologische Probleme, zumal die Umweltverschmutzung waren Ansatzpunkte dieser Kritik. Zugleich war und blieb jedenfalls der Bruch zwischen der eigenen klassischen Tradition und der internationalen Kultur der Moderne deutlich spürbar.
Im Sprachgebrauch bedeutete »modernes Theater« (Gendai Engeki) also so viel wie 1) allgemein alles nicht-klassische Theater; 2) das vom Westen beeinflusste Theater (also vor allem Shingeki und heute Sprechtheater zum Beispiel von Dramatikern wie Sakate Yôji, Kawamura Takeshi oder Matsuda Masataka); 3) Angura - was aber zugleich Kritik an der japanischen Modernisierung und Protest gegen gesellschaftliche Zwänge aller Art bedeutete. Hier fällt in japanischer Sicht der Begriff Moderne etwa mit dem zusammen, was wir eher »Postmoderne« nennen würden; 4) die neue Tendenz von Körpertheater, Performance (Dumb Type, Kaitaisha, Ku Na'uka).

Besonderheiten
Theater ist ein Bereich, der in ganz besonderem Maße verständlich wird durch die umgebende Alltagskultur. Diese ist in Japan in mancherlei Hinsicht anders als in Deutschland. Zu nennen wären etwa alltägliche höfliche Umgangsformen, die stilisierten Verhaltensmuster, die Neigung zum extrem sorgfältigen Umgang mit Dingen, der selbst wie eine Art Höflichkeit gegenüber den Objekten anmutet; die unterschiedliche Ästhetik, die sich in geläufigen Themen (auch Klischees) niederschlägt: So stehen sich in der japanischen Kunst in manchmal extremer Gegensätzlichkeit der ausgeprägte ästhetische Wert der Leere und die Neigung zur Überfülle der Dinge gegenüber. Andere Merkmale wie die Geschenkkultur, die Verpackungsleidenschaft, die Liebe zur »Geheimniskrämerei« (es gibt hervorragende Lokale, die man aber ohne die Kennerschaft eines einheimischen Freundes buchstäblich nicht finden kann, weil sie ihr Dasein eher verheimlichen als durch Aushänge kenntlich machen) meint man oft auch im Umgang mit den Elementen der Bühne und des Theaterspiels wiederzuerkennen.
Zugleich ist das Extreme ein typisches Charakteristikum der japanischen Theaterszene - und sie reflektiert nicht zufällig auch das Extreme der zeitgenössischen Konsumgesellschaft und ihrer parodistischen bzw. kritischen Überspitzung: Intellektuellenszenen in heimlichen verlotterten Bars gleich hinter den gängigen Lokalen und Hotels; die jungen Leute in Omotesando oder Harajuku, die an bestimmten Tagen die schrillsten Outfits spazieren führen, gegen die die Mode bei uns handzahm wirkt.
Japan ist ein Land der Hypermodernität, ein Mekka postmoderner Konsumgesellschaft, es beherbergt und pflegt aber mit dem Nô auch die wohl älteste noch existierende Theaterform der Welt, die sich mit geringfügigen Änderungen ein halbes Jahrtausend lang erhalten hat. Scharf kontrastierend dazu pflegt es seit Jahrzehnten nicht nur eine beeindruckende Tanzszene des Postmodern Dance auf höchstem internationalen Niveau, sondern auch Medientheater und radikal verfremdende fragmentierende postdramatische Ästhetiken in Hülle und Fülle, auch - in der allerletzten Zeit - eine neue Tendenz zum »Texttheater«, in dem die Autoren zugleich ihre eigenen Regisseure sind. Auch in Japan ist das Texttheater im Allgemeinen weniger direkt politisch geworden und stellt eher Fragen nach Grundbestimmungen des Menschseins, aber ein Autor/Regisseur wie Sakate arbeitet auch heute mit aktuellen ästhetischen Formen und zugleich mit direkt politischen Themen.
Es scheint ein weiteres auffallendes Charakteristikum des japanischen intellektuellen und künstlerischen Lebens zu sein, dass man - nach einer jahrhundertelangen bewussten Abschottung - in ganz ungewöhnlicher Offenheit und Aufgeschlossenheit das Fremde und so auch die neuen Kunstströmungen des Westens aufnimmt und entsprechend den eigenen Bedürfnissen adaptiert und transformiert. Das eigene Selbst wird gleichsam immer wieder neu im Spiegel des Anderen experimentell erkundet.
Für das Theater relevant ist auch die Tatsache, dass es in der japanischen Tradition der Holzkultur (die nicht in solcher Weise vom Pathos der Dauer lebt, wie es der Stein der europäischen Denkmäler zum Ausdruck bringt) eher um die Geduld der Performanz als um die Dauer des Werks geht. In der bildenden Kunst gewinnt man stets den Eindruck, die Performanz des Malers oder Zeichners, die Pinselführung, ihr Geschick sollten im Bild spürbar bleiben als Akt der sorgfältigen Hervorbringung durch den Menschen, nicht so sehr als die reifizierte von der Person abgelöste Gestalt des fertigen Werks, wie es die klassische europäische Tradition sieht (»schlank und frei wie aus dem Nichts entsprungen« soll laut Schiller die »schöne Form vor dem entzückten Blick« stehen).
In der japanischen Kultur scheint der Akzent dagegen insgesamt mehr auf dem Wert der Performanz zu liegen, auf dem Tun, dem Verfertigen, der Zeremonie, auf den wiederholten Gesten und der Körpersprache. Wohl jeder Ausländer hat die Erfahrung gemacht, wie sehr auch in der alltäglichen Konversation das Wesentliche ein »entre-dit« ist, ein Zwischengesagtes im Austausch, das man nur durch das Bedenken der gesamten Szenerie des Dialogs recht erfassen kann.
All diese Aspekte prägen natürlich auch die Ästhetik des Theaters, seine Bild- und Sprechformen.
Als ein hilfreiches Werk für das Verständnis japanischer Ästhetik sei auf die berühmte Schrift LOB DES SCHATTENS von Tanizaki Junichirô hingewiesen, der an vielen Beispielen die Bedeutung von Halbdunkel und halber Sichtbarkeit, das Schimmern aus dem Dunkel, die Unmöglichkeit der genauen scharfen Kontur und vieles andere herausstellt, was die Vorlieben der »japanischen« Ästhetik begreiflicher macht. Und zugleich gibt es immer wieder bewusste und unbewusste Bezugnahmen der Künste, auch des Theaters auf solche Traditionen wie die karge Stille der Zen-Gärten, die umsichtige Blickführung in der traditionellen Gartenkunst überhaupt, die ausgeprägte Kunst der Ellipse (etwa in der allbekannten Haiku-Dichtung).
Auf der anderen Seite ist es freilich geboten, der Versuchung zu widerstehen, solche Beobachtungen zu ästhetischen und konzeptuellen Differenzen selbst wieder zu fetischisieren. Es kann nicht darum gehen, etwa »das« Japanische im Theater zu fixieren. Das japanische Theater steht vielmehr ebenso wie das deutsche in einem Zeitraum und einer Epoche des globalisierten Austauschs, der Moderne und Postmoderne, der Medienkultur und weltweit ähnlicher Grundfragen der Politik und Gesellschaft. Ein japanischer Regisseur in Tokyo wird sich in der Regel mit einem Kollegen in Berlin ebenso und besser verstehen als beide mit ihren jeweiligen Landsleuten, die den Künsten fernstehen. Wir leben in einer gemeinsamen Welt der Moderne, in der die jeweiligen Traditionen interessante und spannende Nuancierungen beitragen, in der durch die Begegnung mit dem Anderen Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Kritik befördert werden und die Sinne sich öffnen können für gegenseitige Inspiration und Befruchtung in einem zunehmend allseitigen interkulturellen Austausch.

Hirata Eiichirô, Hans-Thies Lehmann und Helene Varopoulou
Berlin, im Dezember 2008

 

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