Theater der Zeit

Gespräch

„Straßenköter wissen viel vom Leben“

Begeistert von Berlin

von Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt

Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)

Assoziationen: Akteure

Aufgeladene Nähe: mit Anneke Kim Sarnau in Polizeiruf 110
Aufgeladene Nähe: mit Anneke Kim Sarnau in Polizeiruf 110Foto: Christine Schroeder

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HANS-DIETER SCHÜTT: … und eines Tages also war der Mecklenburger Hübner nach Berlin gekommen. Schauspielschule.

CHARLY HÜBNER: Von Berlin war ich begeistert. Frank Castorf an der Volksbühne, Andrea Breth an der Schaubühne, Thomas Langhoff am Deutschen Theater, Albert Hetterle noch am Gorki-Theater, am Schiller-Theater der ganze westdeutsche Überbau, das nahm mich mit, das nahm mich ein, das war mein neues Metal-Universum. Peter Zadeks Kirschgarten sah ich in Berlin und fragte mich, warum ich diese Leute wieder und wieder sehen möchte, welche Kräfte da auf mich wirkten, wie die das nur machten, die Angela Winkler, der Ulrich Wildgruber, der spillrige Hermann Lause. Oder diese wunderbaren Marthaler-Menschen in Murx den Europäer! an der Volksbühne. Lauter Missratene, die nicht wissen wollen, ob sie vor oder nach der Apokalypse leben.

Die tanzten ganz langsam den Apocalypso – in einem Vakuum der verrücktesten Bewegungszwänge und Körperverdrehtheiten.

Christoph Marthaler rührt nicht an den Schlaf der Welt, sein Theater ist der Schlaf. Es ist der Schlaf der Vernunft, und der gebiert nicht Monster, wie es landläufig heißt, der gebiert den viel schlimmeren Traum, der davon handelt, dass das böse Erwachen gar nicht mehr stattfindet.

Es findet sehr wohl statt, dann nämlich, wenn die vermeintliche Vernunft ans Tagwerk geht und wir uns wieder mal die Augen reiben müssen.

Einer öffnet eine Feuerofentür, und aus den Tiefen von Glut und Asche hörst du den Chor: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.

Fühlten Sie sich auf der Schauspielschule unter ihresgleichen?

Vom Geist und Gefühl her? Na klar. Es war der Ort, die Zeit, die mich durchweg beglückte – ich war dort, wo ich hatte sein wollen – in der Theaterwelt. Die Wirklichkeit verschwand, und der Theaterfilter wurde zur Wahrheit (lacht).

… bis die New Yorker Türme fielen

Die Jahre in Frankfurt am Schauspielhaus und am TAT – die Hingabe ans Theater trug Sie.

Bis die New Yorker Türme fielen. Plötzlich fragte ich mich, was sie sollen, diese traurigen Strindberg-Liturgien, mit denen wir uns in Frankfurt beschäftigten, Meister Olof und Der Vater. Draußen brüllt die Welt und wir graben uns in katholische Tiefen? Fabulieren vom Ändern der Welt, des Systems und draußen, in New York, wird die Welt wirklich geändert? Der Sinn meines Handelns entschwand. Nach wie vor: Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Aber ich fürchtete ein Versacken in schwermütiger Innerlichkeit; die geht ja von einer bestimmten westdeutschen Seelenarbeit aus, am Ende bist du alkoholkrank und schwer verschuldet (lacht).

Der Botho-Strauß-Typus.

Naja! Vielleicht! Vielleicht auch nicht – ich suchte und war unerfahren. Ich ging da ganz praktisch ran: Wohin jetzt? Aha, es gibt Agenturen für Schauspieler, dort nahm man gern zur Kenntnis, der Hübner, der hat keine Probleme mit seinem Bauch, das erleichtert manche Besetzung. So begann ich fürs Fernsehen zu spielen. Ich wurde unabhängiger, zog nach Hamburg und konnte in Ruhe älter werden (lacht).

Die Statistik sagt: über vierzig Stücke in dieser Frankfurter Zeit.

Ja, sehr intensiv war das. Man kann sich berauschen an Sinn oder dem, was man dafür hält. Aber letztlich entsteht Atemlosigkeit, das ist kein Leben mehr. Ich wollte Herr über die eigenen Termine sein. Die Atemlosigkeit war das eine, eine gewisse Lethargie das andere. Vielleicht war das eine Situation wie zu Endzeiten der DDR.

In Heiner Müllers Hamlet/Hamletmaschine zerreißt der Autor sein Foto, ihm geht der Text verloren, ihm geht der Stoff aus.

Dieses dauernde Denken in hohen Ansprüchen lief sich irgendwie leer, diese Existenz immer mit Botschaft und Mission und Kulturauftrag, was war da nur los? Premiere volles Haus, aber dann werden’s von Abend zu Abend immer weniger Leute. Mich verließ die Energie. Ich bekam keinen Schub mehr für dieses Gefühl, ich müsse unbedingt auf die Bühne, und dort oben werde Wesentliches verhandelt. So kam ich unter die Fernsehleute.

Klingt logisch und trotzdem wie Abstieg.

Theater ist was anderes als Film und Fernsehen, da muss man gar nicht viel herumtheoretisieren.

Fernsehen ist wie Lagerfeuer und Bier.

Ich habe gegen beides nichts.

Auch nichts gegen Büchsenbier.

Nö.

Aber dieser Weg ins Fernsehen …

Ich sag ja: Ich ging nicht hin, ich rutschte rein. Aber ich nahm doch mein Handwerkszeug mit, und auch in einem sogenannten Massenmedium kann man ehrenvoll bleiben, wenn man sein Unterscheidungsvermögen nicht ausschaltet. Ich holte Luft, die Situation war nicht dramatisch, ich war also auf den Filmdreh gekommen, aber gleichzeitig blieben meine Theaterantennen doch draußen. Mein Blick ging immer auch in andere große Städte, Köln, Hamburg und so – ich nehm immer gern Kontakt zum Horizont auf (lacht). Dann der späte Jürgen Gosch, Onkel Wanja, Kirschgarten in Zürich, Auf der Greifswalder Straße am Deutschen Theater. Regie, die mir nicht ins Gesicht sprang mit ihren Einfällen, aber sie war doch da, als Sog, als Geheimnis, als Lage in den Lüften. Ich hab Gosch einen Brief geschrieben ans Schauspielhaus Hamburg, tiefbewegt, wie ein Fan: So stelle ich mir das Theater der Zukunft vor, ich träumte gewissermaßen drauflos, dem Briefpapier war sozusagen nichts peinlich, es ging auf die Reise wie Fanpost, man hört bekanntlich nie wieder was von solchen Briefen. Aber unvermittelt, wie nebenbei, es war 2007, sprach mich Goschs Bühnenbildner an, Johannes Schütz, du, der Jürgen macht was in Zürich, er hätte dich gern dabei, du hast ihm doch einen Brief geschrieben. Is’ ja irre. Hier und jetzt, Roland Schimmelpfennig. Aha. Ein Gespräch fand statt. Das Stück habe zwei männliche Hauptrollen, die andere habe Wolfgang Michael. Wolfgang Michael? Schweißausbruch. Die Frauen? Corinna Harfouch, Dörte Lyssewski, Christine Schorn. Wieder Schweißausbruch. Da mittendrin ich? Die Schweißausbrüche wollten nicht enden.

Sie spielten wieder Theater. Glück!

Glück? Ich hatte Suppe zu essen. Vierzig Seiten Stücktext waren schon vorbei, ich aß noch immer Suppe. Nicht spielen, nur essen. Suppe, sonst nichts zwischen den Zähnen. Herr Gosch, machen Sie auch Figurenarbeit? Er sah hoch – toll, er hatte mich also bemerkt! – und sagte, darüber müsse er nachdenken. Und ging weg.

Und wie weiter?

Wie weiter? Ich stand da und nix weiter. Aber sechs Stunden später, zur Abendprobe, trat er auf mich zu und sagte: Nein.

Inzwischen sind Sie heimisch im Film wie auf der Bühne und setzen da wie dort ein Maß. Kann man sagen: Film „ist“, Theater dagegen bleibt ein „als ob“?

Im Kino wollen wir sozusagen mit gefilmter Wirklichkeit belogen werden – wir nehmen das Fantastischste als real und greifen nach der Hand der liebsten Menschen, weil etwas so schön, so schrecklich, so berührend, so beängstigend ist.

Nur scheinbar, klar.

Aber wir sind im Kino Illusionäre, wir wollen hinein ins Bezaubernde oder Grässliche, ins Finstere oder schön Helle. Kino vernichtet Abstände. Wir zucken zusammen, wir leiden mit, als spiele sich alles wirklich ab. Im Kino versinken wir gern im Sessel, bei gutem Theater sitzen wir eher gespannt vorn auf der Sesselkante.

Sie sprachen davon, ins Fernsehgeschäft „reingerutscht“ zu sein. Der Anfang war ein Nebenrollenschicksal.

Wenn ich mich auf dem Bildschirm sah, da fand ich mich, wie man halt Leute findet, die im Film Horsti oder Udo heißen und die man gemeinhin als Dödel bezeichnet. Gemeinhin – und gemein. Wenn’s in den Filmen um Frauen ging, war ich bei den Döspaddels und Dummbüttels zu finden. Meist liebenswert, aber trotzdem nur Udo oder Horsti. Ich dachte bestürzt: Was, wenn ich nicht wieder rauskomme aus dieser Nebenrollen-Falle? Mein Hirn tänzelte, aber ich wurde nach meinem Körper besetzt, ich war der Klotz. Ich will da nichts schönreden, aber ich bekam es vor der Kamera wirklich mit der Angst. Was sollte ich denn da spielen! Würde ich in einer Serie landen und dort untergehen? Ich guckte verzweifelt in den Spiegel. Sah man schon den Stempel auf meiner Stirn: Hier kommt Horsti!?

Ich kann mich an das dämonische Märchen Krabat erinnern, mit David Kross, Daniel Brühl und Christian Redl. Den Film sah ich, da waren Sie als Schauspieler schon, na ja, sagen wir ruhig: ein Begriff.

Nee, war ich nicht.

Sie liefen mit anderen durch den Bildhintergrund, ein schmutziges Gesicht, eine abgerissene Erscheinung, wie die Übrigen auch. Ein derber, grober Bursche für die Gesindeszenen.

Derb und grob, ja.

Und ich dachte, na, wann hat er seine größere, individuell ausgerichtete Szene? Aber Sie liefen nur weiter durch den Hintergrund, gewissermaßen in der Herde.

Wir verbrachten einen ganzen Herbst in den rumänischen Karpaten. Drei Hauptrollen, der Rest, ja, der lief im Hintergrund und musste wochenlang Säcke tragen. Es war bitterkalt, wir trugen Sandalen. Es dauerte nicht lange, und du hast wie barfuß im Frost gestanden.

Das Nebenrollenschicksal ging zu Ende … 2010 kam der erwähnte Kommissar Bukow im Polizeiruf 110.

Bitte nicht Bukooooh, das muss Bukoff heißen; wir müssen russisch bleiben.

Pardon, wie konnte mir das passieren … Bukow wie Tschechow, sagen Sie im Film.

Oder wie Fuck off, das sage ich auch im Film … Zur Vorbereitung der Arbeit gehörte ein Gespräch mit dem erfolgreichsten Drogenfahnder Europas, hier in Hamburg, am Steindamm. Man kann sich vorstellen, wie lange es dauerte und wie viele Prüf- und Kontrollpunkte es gab, ehe wir dort vorsprechen durften. Der Mann saß mir gegenüber, Sechstagebart, sehr einsilbig, neben ihm der Vorgesetzte, der das Gespräch eigentlich führte. Im Grunde die Konstellation, wie sie im Film Uwe Preuss und ich spielten. Was ich nicht vergesse: Ausgerechnet zum 40. Geburtstag des Polizisten, so erzählte er uns, kam es zu einer Razzia – sehr unpassend, denn daheim waren schon die ersten Partygäste eingetroffen. Er aber musste zum Einsatz. Seiner Frau hat er eine SMS geschickt: „Bin im Puff, Süße!“ Das war immer der Verabredungstext, wenn er wieder mal unvorhergesehen nicht nach Hause kommen konnte.

Ordnungshüters Anleihe aus der Welt, die er bekämpft.

Na ja, in den Puff zu gehen, ist ja nun kein Delikt … Einen Satz von ihm habe ich mir gemerkt: Einen Job wie den seinen könne erfolgreich nur derjenige machen, der so tickt wie seine Gegner; man müsse stets so drauf sein wie jene, die man jagt. Grob gesagt: Deine Seele muss mit einem Fuß auf der anderen Seite stehen. Das finde ich aufregend. Der Mensch als Getriebener, der auf dem Grenzstreifen lebt von Loyalität und Kriminalität, von Treue und Verrat, von Tugend und Verbrechen.

Er ist doch das Spannendste: dieser Nebel, hinter denen Gesetzesschutz und Gesetzesbruch dann eine schlierige Kumpanei aushandeln.

Das zu leugnen, hat ja den Kriminalfilm veröden lassen. Zur langweiligen Festschreibung des Guten und Gerechten auf der Ermittlerseite – und des von vornherein Schäbigen auf der Gejagtenseite.

Steiler Gedanke: Gangster zu fangen, ohne selber einen ruchlosen Nerv zu haben, geht nicht.

Das ist ein philosophischer Gedanke, er steht nicht im Gesetzbuch. Geh ins Dunkle, wo die Finsteren sich unsichtbar machen.

Das Klassikerzitat. Die im Dunkeln sieht man nicht.

Also geh hin, um sie zu erkennen.

Zwölf Jahre und 24 Fälle: Kriminalhauptkommissar Alexander (Sascha) Bukowin Rostock. Einsatz seit Frühjahr 2010, an der Seite von Anneke Kim Sarnau, Kriminalhauptkommissarin Katrin König, LKA. Keiner von uns hieß die letzte Folge, der Titel des ersten Films: Einer von uns. Das offenbart einen Weg der Entfernung, der Entfremdung. Bukow, der Zwielichtige. Neben dem jeweiligen Kriminalfall soll Katrin König gleichzeitig gegen ihren Kollegen Bukow ermitteln. Ein Dialog aus dem ersten Film: „‚Es geht um Kriminalhauptkommissar Bukow. Ich habe von Berlin den Auftrag, ihn zu beobachten.‘ – ‚Interne Ermittlungen? Gegen Sascha?‘ – ‚Ja, es ist irgendeine Geschichte in Berlin, viel weiß ich noch nicht.‘ – ‚Da werden viele Sachen erzählt, die nicht wahr sind, Frau König.‘“ Wahr ist, dass Bukow ein Zwielichtiger ist. Und es bis zum Schluss bleibt. Wenn ich über ihn nachdenke, fällt mir wieder Ihr Wort von der Umständlichkeit ein.

Umständlichkeit ist für mich Interesse. Was ist das für ein Leben? Dieser Bukow. Mich interessierte, wie ein Mensch den inneren Dämon packen will, aber es nicht wirklich schafft. Ich finde, es ist in gewissem Grade das Problem jedes Menschen. Bukow säuft abends, aber keinen Wein, eher Bier. Kein Gourmet. Welche Temperatur hat der Mann? Knabbert manchmal an den Fingernägeln, und an seiner Seite hat er so ’ne Bio-Tante, Kommissarin König, wie spricht dieser Bukow und wann und warum, und weiß er überhaupt, wohin er gehört … Das ist dann die Suche.

Nun könnte man sagen, das geht jedem Schauspieler, jeder Schauspielerin so.

Könnte man sagen. So wie man sagen könnte: Jeder lebt. Aber jeder eben anders. Alle sogenannte Normalität im Spiel muss die der jeweiligen Figur sein: Wie geht der? Wie hört der zu? Wie sitzt der? Wie isst er?

Klaus Löwitschs TV-Detektiv Peter Strohm war von der Anlage her einer der letzten Helden des Diffusen, also der Verführbarkeit des Fahnders durch kriminellen Kitzel; in US-Filmen retteten Robert De Niro und Al Pacino jene Romantik des moralischen Verderbens, die nicht danach fragte, ob sie Außenseiter oder Kommissare ergriff. Und Werner Herzog und John Cage entwarfen mit Bad Lieutenant das schlangenkühl schillernde Bild des gefallenen Engels im Polizeiauftrag … So sehe ich Ihren Bukow. Nichts für Sie: diese landläufige luschige Saubermännlichkeit eines Kommissars …

… der nur immer der Supersittenwächter sein darf. Nö. Gott sei Dank konnten wir mit unserem Polizeiruf eine Alternative versuchen.

Ich hörte, zunächst sei was klassisch Britisches geplant. Hübner Barnaby-like …

Undenkbar. Der Schriftsteller Roberto Saviano, ein unerbittlicher, mutiger Rechercheur in Sachen organisierter Kriminalität, hat geschrieben, Rostock sei einer der ganz großen europäischen Umschlagplätze für Kokain. Rostock?! Denkt man doch gar nicht, oder? Aber wo so was stattfindet, werden Rechnungen auf böseste Art beglichen, man darf sich da keine Illusionen machen. Diese schöne Stadt hat ihr ganz eigenes finsteres, unheimliches Gesicht. Und damit meine ich nicht nur die furchteinflößende Ultraszene von Hansa. Man braucht bloß an Rostock-Lichtenhagen zu denken, wo Anfang der Neunziger Brandsätze gegen Häuser für Asylbewerber flogen. Im wahrsten Sinne des Wortes entlud sich da brennender Hass. Unterm Alltag schwelt es. Der Polizeiruf wechselte also von Schwerin nach Rostock, weil Kriminalität dort ganz andere Dimensionen hat.

Mit Anneke Kim Sarnau hatten Sie bislang nicht zusammengearbeitet.

Wir kannten uns von einem Filmdreh, bei dem wir uns schätzen lernten. Es wurde dann ein ganz gemächliches Kennenlernen. Irgendwann gingen wir zusammen durch Rostock-Evershagen, wo unser Fall spielte, und Skinheads mit Bulldoggen kamen uns entgegen. Ich dachte an die Neonazis in Neustrelitz und sagte: Anneke, das geht nicht, mir kommen Typen entgegen, vor denen ich als Zivilist in gewisser Weise einknicke, und jetzt soll ich jemanden spielen, der die aufs Kreuz legt, das ist doch unglaubwürdig. Das dürfen wir nicht, das steht uns nicht zu.

Eine intellektuelle Reaktion.

Überhaupt nicht! Eine kreatürliche Reaktion. Mich hat das beschäftigt.

Es gibt die Anekdote vom berühmten Rolf Ludwig, der dem Alkohol etwas zu viel zugesprochen hatte, am Deutschen Theater, und vor einer Vorstellung kam die Warnung: Rolf, du musst im 3. Akt einen total Nüchternen spielen. Ja, antwortete Ludwig, spielen!, nicht sein.

Sehr lustig, ich bewunderte Rolf Ludwig sehr … Dass dieses Räudige, dieses Angeschmutzte, dieses Aufgeraute von Bukow und König letztlich reibungslos zur Aufführung kam, das verdankten wir einigen Zufällen. Als eine Redakteurin ausschied, so etwa zehn Tage vor Drehbeginn, war der Kahn führungslos. Jetzt abbrechen? Anruf in der Chefetage: Was tun? Ich sagte: Beim Theater würde einfach weitergemacht, schließlich müsse der Lappen hochgehen. Das ist die richtige Haltung, sagte der Chef, und also gingen wir an die Arbeit. Von dem Moment gab es für eine Weile keine Einschränkung mehrvon oben, wir konnten ungestört unseren Punk machen. Wir drehten die Pille, der Sender schluckte.

Die Quote beförderte das Gesundgefühl aller.

Sozusagen, ja.

Öffentlich-rechtliches Fernsehen: Du musst dich positionieren, am besten politisch korrekt.

Das ist mitunter auf eine unangenehme Art anstrengend. Ich habe aber kein Recht, mich zu beschweren, und ich tu’s auch nicht. Aber es ist wahr: Im deutschen Fernsehen gibt es wenig Mut zu jener Hyperrealität, bei der man willig einer Fiktion folgt, einer räumlichen wie zeitlichen, auch darstellerischen Fiktion.

Beim Kinofilm ist das anders.

Ja. Da gibt es andere Kameraausschnitte, andere Tempi, im Kino akzeptiert man die fremde Welt, die Exotik, das Übersteigerte. Deshalb ist meine Neugier beim Kinofilm oft größer. Um über diesen Umweg wieder zum Theater zu gelangen: Was Fernsehen vom Kino trennt, das ist so ähnlich für mich wie das, was ich über Jürgen Gosch sage: Bei den Proben war alles freizügig, ohne Zwänge, scheinbar ohne jede Form, es herrschte ein sehr realer Ton.

Bei seinen letzten Inszenierungen probte das Ensemble in Kostüm – aber noch immer in privaten Turnschuhen.

Er hat dafür gesorgt, dass jede Situation was Hyperreales bekam. Man wusste gar nicht recht, wie, darin bestand seine große Kunst.

War es beim Bukow wichtig, dass Sie einer aus dem Osten sind?

Im Prinzip nein, im Detail ja.

Den Bukow haben Sie als Straßenköter bezeichnet.

Als sympathischen Straßenköter. Ich finde Straßenköter grundsätzlich sympathisch, auch dort, wo sie drohen, bissig zu werden. Sie wissen viel vom Leben. Sie sind stark, listig, kennen sich aus in der Gosse, stehen im Regen so fest wie in der Sonne. Sie können wegbeißen und die Zähne zusammenbeißen. Sie können Wolf sein und ganz lieb. „Straßenköter“ wie der Polizist Bukow sind allen voraus, die noch nie darüber nachgedacht haben, dass man alle Geschichten von Leuten auf der angeblichen richtigen Seite auch als Geschichten von Gescheiterten erzählen kann. Feeling B sang: „Du wirst den Gipfel nie erreichen. Da die Ebene endlos ist.“ Ja, jeder könnte seine eigene, erfolgreich Geschichte auch als Verlierergeschichte erzählen. Als Geschichte eines fremdgesteuerten Menschen.

Mit Regisseur Jan Georg Schütte drehten Sie 2020 den Fernsehfilm Für immer Sommer 90, eine Art Roadmovie.

Eine Notlösung, weil ein anderes Projekt von Corona durchkreuzt wurde.

Also wieder mal ein Beweis, dass Not und Lösung glückhaft zusammenkommen können.

Es ging uns in dieser Geschichte darum, Bewegung und Beharren in jener sogenannten Wendezeit zu verbinden: Die einen verließen den Osten – und atmeten und starteten durch; andere verließen den Osten auch – aber gerieten rasch außer Atem und stolperten. Dritte blieben, wo eben noch DDR gewesen war, und entweder hatten sie ein bisschen Erfolg, oder sie scheiterten im heimischen Osten, ausgerechnet dort, wo sie sich doch so sicher fühlten.

Der Film ist interessant, weil er – im Grunde – mit Ihnen zu tun hat: Mecklenburg, Karriere im neuen Deutschland, und schauspielerisch: Wie stehen durchgestaltete Fiktion und Unmittelbarkeit des Szenischen zueinander? Sie spielen im Film einen Banker, fast drei Jahrzehnte sind nach der Wiedervereinigung vergangen.

Ein Erfolgstyp ist das, gewachsen an und in dreißig Jahren neuem Deutschland. Einer, der jede Beziehung zur alten ostdeutschen Heimat verloren hat. Den kloppt so schnell nichts mehr aus seiner neudeutschen Dynamik. Scheinbar. Aber vom Verdacht einer Vergewaltigung getroffen, es war 1990 bei einer Party, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, fährt der Mann nervös zurück, zu den Leuten von damals, nach Mecklenburg, dorthin, wo seine Teenie-Vergangenheit begraben liegt. Ist sie denn wirklich begraben? Gibt’s das überhaupt: Gräber für Vergangenheit?

Jan Georg Schütte ist ein Regisseur der Improvisationen.

Es gab im Drehbuch …

… an dem Sie mitgeschrieben haben.

Die Szenen bauten dramaturgisch aufeinander auf, waren aber so angelegt, dass ich und ebenso die anderen nicht wussten, was beim Dreh, im Dialog auf uns zukommt. Wir gingen sozusagen spontan aufeinander zu: So, nun macht was aus der Situation! Obwohl ich Mitautor war, musste ich daher an bestimmten Momenten der Vorbesprechungen aussteigen, denn ich war ja auch Spieler, und das Prinzip der szenischen Überraschung und Spontaneität galt auch für mich. Wegen Corona gab es fast nur Zweierszenen. Ich habe das genossen und fand zum Beispiel großartig, dass ich nicht alle vom Darstellerteam kannte oder wir vorher nicht miteinander geredet haben. Um uns dialogmäßig nicht zu verschleißen. Schütte achtete zum Beispiel darauf, dass Peter Schneider und ich …

Sie spielen entscheidende Szenen miteinander.

Ja … dass wir uns vor dem Dreh nicht über den Weg liefen und miteinander rumquatschen konnten, Schütte wollte unsere Begegnung unverbraucht. So was bringt gerade beim Improvisieren schöne, offene Momente.

Es geht bei der Improvisation darum, eine Dramaturgie auszutricksen …

Ja, sie zu umgehen, sie geradezu auszuknipsen. Ziel ist der Moment, der Menschen spontan ins Gespräch bringt – und damit in den Konflikt. Gespräch heißt immer auch: Auf ins Missverständnis! In Gesprächen ist einer immer stärker, der andere schwächer. Im besten Fall ist das ein Wechselverhältnis. Und was passiert, wenn wir das nicht nur aus der professionellen Vorbereitung heraus spielen, sondern uns dem spontanen Hin und Her von Aktion und Reaktion aussetzen.

Spannung ohne Plot. Story ohne Aufputschmittel.

Schüttes Kopf hab ich mal mit dem Schaltplan von Londons Hauptbahnhof verglichen. Er entscheidet, welchem Schauspieler er wann welches Signal wofür gibt. Und ich selber habe auch eine Idee, was in einer Szene sein könnte, welche Kolleginnen oder Kollegen mir begegnen. Ich nehme mir auch für jeden, mit dem ich in der Szene aufeinandertreffe, was vor. Und dann geh ich da so rein. Neugierig. Bang. Das ist dann wie im Leben. Oder eben wie in der Schaltzentrale vom Londoner Hauptbahnhof. Die Reise kann beginnen. Die Weichen klacken. Manchmal quietschen auch Bremsen oder man landet auf einem falschen Gleis.

Ihr Banker ist sympathisch, aber auch glatt – und er wirkt zwielichtig …

Zwielichtig, ja. Man kann auch zeitgemäß sagen: ein Mann, der sich am Ehrgeiz verkühlt hat. Der Frost, der im Geschäft nötig ist, hat ihn feurig gemacht. Das bittere Schicksal der Moderne: Kinder, Freunde – bloß nicht! Behauptet er. Das Lächeln dabei hat hohe Krampfqualität. So einer wird angerufen von den Stimmen seiner Vergangenheit und ist plötzlich erschüttert.

Dieser Banker muss den verfluchten Verdacht des Vergewaltigers ausräumen, er besucht die alten Freundschaften, die erkalteten flüchtigen Lieben, das alles kalkulierend kurz, er braucht ganz einfach und schnell Zeugen für seine Unschuld, ein Wochenende muss genügen, denn am Montag steht in Malmö eine wichtiger Geschäftstermin an. Er hat Geld, er hat Einfluss, er kann mit dem „großen Besteck“ renommierter Anwälte drohen. Und er droht auch.

Aber dann geht’s mit dem Tesla immer tiefer hinein in jenes Mecklenburg, dem er sich doch längst entfremdete, und an einem bestimmten Punkt fährt er an den Straßenrand, tauscht das weiße Hemd unterm teuren Anzug mit einem einfachen dunklen T-Shirt. Fährt zur nächsten Begegnung, verbirgt den feinen Pinkel.

Textile Taktik?

Ja und nein. Er zieht sich ganz am Ende aus und geht in einem der Seen schnaufend baden. Erfrischung. Als sei eine Rückkehr eingeleitet nach Mecklenburg – nicht wirklich, er bleibt Banker weit weg, aber er ist doch ins Nachdenken gekommen, was das Eigentliche sein könnte im Leben.

Schwimmen im See. Sie mögen es?

Sehr. Man hat das Gefühl, man löse sich auf zwischen Himmel und Wasser. Schwerelosigkeit ist nicht mehr nur eine Fantasie. Du bewegst dich, weil du dich über Wasser halten musst, aber es hat nichts von dem Gefühl, sich gegen irgendwas wehren zu müssen. Bei Uwe Johnson lese ich: „Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser.“

Ihr Säulenheiliger …

Wenn ich so reich wäre, als hätte ich damit auch alle Lust auf Arbeit aufgekauft, dann würde ich nur Uwe Johnson lesen.

Und dann?

Was heißt: und dann … Johnson lesen heißt: sich dessen Zeitmaß einverleiben. Jede Seite eine Stunde. Das dauert. Das wird ihm gerecht. Nicht schneller. Zeit vergeht nicht, die geht in dich rein. Ich gehörte zu denen, die an der Schauspielschule das große Glück hatten, einen Dichter als Diktionslehrer zu haben: Karl Mickel. Er erhob uns jedes Komma in den Adel. Daran denke ich, wenn ich Johnson lese. Johnson lesen! Nicht zeigen wollen: Ich hab’s verstanden.

Heiner Müller las eigene Texte mit tonlosem Desinteresse.

Tonlos, Desinteresse – die zwei völlig falschen Worte, aber sie drücken exakt aus, was gemeint ist. Nur nicht schauspielerisch, also um Himmels willen nicht auf Wirkung denken!, das war auch Goschs Regieanweisung.

Noch mal zum Banker im Film: Er schwimmt hinaus in den See, wird aber natürlich zurückkehren in den Anzug, in den Tesla, ins Geld.

Aber im Gemüt arbeitet fortan was anderes. Da bin ich mir fast sicher. Da lauert irgendwas auf seine Stunde. Wer weiß, was, und wer weiß, wann.

Was da lauert – es könnte ein Erschrecken sein?

Zumindest eine Frage, ein Zweifel: als gereifter, wissender Mensch von der Welt gehen? Wie Goethe schrieb? Ab wann ist die Welt rund? Ich sehe alles nur halb.

Goethe schrieb auch: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Und bei Thomas Brasch steht: „Wer sind wir eigentlich noch. / Wollen wir gehen. / Was wollen wir finden. / Welchen Namen hat dieses Loch, / in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.“

Ja. Was wird aus den Träumen …Vielleicht ist schon das Streben ein Fehler. Und wenn, wonach. Ich sehe Tschechows Onkel Wanja arbeiten und weinen.

Kann ein Mensch die Richtung seines Lebens ungebrochen verfolgen und sich dennoch wandeln?

Das „ungebrochen“ ist der Punkt. Was heißt das überhaupt, ein Mensch wandelt, verwandelt sich? In welcher Hinsicht verändert sich einer? Die Wolken ändern sich ständig, bleiben doch aber Wolken. Vielleicht kann man sich nicht ändern, was man aber kann: sich erweitern, sich ergänzen, sich morphen.

Brecht: „Dauerten wir unendlich / So wandelte sich alles / Da wir aber endlich sind / Bleibt vieles beim alten.“

Der Film von Schütte erzählt uns was über das Wesen von Erinnerung. Zurückblicken erscheint wie ein Blitz. Da kommt ein Moment, ja, man war da und da und dort und dort und so und so. Und schon ist alles wieder weg. Erinnerung und also auch das Erzählen von Erinnertem – das ist nichts, worauf man sich setzen kann. Der Blitz hat eine große Deutlichkeit, aber Sekunden später ist alles wieder weg. Haltbarkeit ist kein Kriterium für Erinnerung.

Aufbruch und Zusammenbruch, das sind immer zwei Begriffe für eine Sache, die gleichzeitig geschieht. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Wir sind hochentwickelte Wesen? Viren können sich wahnsinnsschnell anpassen, Menschen nicht unbedingt.

So was wollten wir erzählen. Wir Menschen sind langsam. Das ist aber auch ein Glück, deshalb bleiben wir angeschlossen an alle Vergangenheiten, eben auch zum Beispiel an dieses uralte Ephesos, wo mein Freund den Hamlet-Monolog in den Weltraum schoss.

Der Maler Anselm Kiefer sagt. „Wir tragen in uns die Atome vom Strand von Ostia, Atome der Steine von der Wüste Gobi, Atome der Knochen von Dinosauriern – aber auch von Martin Luther, von Einstein, von Opfern und Tätern der Jahrhunderte … Ich fühle mich mit Menschen und Steinen verbunden, die schon lange vor mir waren und lange nach mir sein werden.“ Sophokles und Shakespeare liegen in der Luft, wir können das spüren und aufnehmen.

Das ist das eine, aber denken wir wieder an 1989/90: Diese Umstellung war für viele ein Schock, eine totale Überforderung. Ich hab es ja gesehen bei meinem Vater: Zinsen, Darlehen, das lockte, bis einem die Sinne schwanden, und später dann kamen kalt die Rechnungen. Wer nicht schnell genug begriff, blieb auf der Strecke.

Interview-Zitat Hübner: „Mielke war der Härteste. Die anderen waren alle alt und besoffen.“ Besoffen?

Ideologie macht besoffen. Und dann gab es diese Reform-Hoffnung. Die hatte Stimmen: Christa Wolf, Stefan Heym, Bärbel Bohley, Friedrich Schorlemmer, andere. Dritter Weg, von mir aus auch vierter und fünfter Weg. Aber gewählt wurde der erstbeste Weg.

Sie kritisieren das?

Ich kritisiere das, ja, aber nicht die Menschen, die was greifbar Besseres wollten. Ja, was zum Greifen wollten sie, wollten wir alle doch. Endlich was Handfestes außer der Reihe. Dieser lange disziplinierten Reihe, in der man sich andauernd anzustellen hatte.

Ostalgie?

Auf gar keinen Fall! Aber da landet dann die Debatte, um sie schnell zu beenden: Finde einen Begriff, um das nicht Geordnete zu katalogisieren, und ab in die Box damit. Und somit geht auch alles flöten, was bedenkenswert sein könnte. Aber im Grau sind mehr Farben als im reinen Schwarz oder Weiß. Erinnert man an etwas Gutes aus der DDR, hagelt es Verdächtigungen, man verharmlose das System. Die Gleichstellung der Geschlechter, die Polikliniken, he, das waren doch Fakten, die man sich hätte ansehen können. Skandinavische Länder haben das Bildungssystem des Ostens studiert, der deutsche Westen hat’s vom Tisch gewischt. Gute DDR-Trainer gingen ins Ausland, weil man sie hier stigmatisiert hat. Ich denke zum Beispiel an den Dokumentarfilm Die Kinder von Golzow

… von Winfried und Barbara Junge.

Sozusagen die Biografie einer Schulklasse aus dem Oderbruch, über Jahrzehnte hinweg. Da gibt es viel Enttäuschung auf den Lebenswegen, na klar, aber im Gedächtnis bleibt auch sehr starkes Selbstbewusstsein. Eines der Mädchen ist erwachsen und sagt in die Kamera: „Ich bin Melkerin!“ Wie stolz die das sagt!

Eine Zeit immerhin, da Menschen ihrer Arbeit nicht nachstellten wie Bettler, sondern ihr nachgingen, indem sie auch aus ihr hervorgingen. Eine schöne Idee. „Arbeiterlich“ nannte der Soziologe Wolfgang Engler die Gesellschaft. Volker Braun schrieb: „Diese Leute sind und bleiben ein Personal für die Literatur. Man wird noch Jahrhunderte über sie lachen – und tiefernst nachdenken.“ Eine herrschende wie angeherrschte Klasse, die umsorgt lebte und zugleich frech sorgenlos.

Man kann über Langeweile reden, über Schönfärberei, über Bevormundung und so weiter, aber dieser Stolz der Melkerin, der gehört doch unbedingt dazu, wenn man ein reales Bild vom Osten haben will.

Interview-Zitat Charly Hübner: „In Neustrelitz gab es im Herbst 1989 auch Gebete in der Kirche. Tolle Stimmung. Alle formulierten Wünsche, das, was sie sich von der Zukunft erhofften. Einmal ging ein stadtbekannter Trinker nach vorn und sagte: ‚Ich wünsche mir, dass ich das mit dem Alkohol hinkriege.‘ Da ging ein ganzes Land baden, und der hoffte, mit dem Saufen aufzuhören.“

Die Umbrüche der Geschichte, plötzlich runtergebrochen auf das einzelne Leben. Das erzählt den tiefen Sinn von Weltpolitik.

Weltpolitik! Das Volk, so heißt es bei Brecht, vergleicht die Käsepreise.

Die großen Ideen müssen zur Prüfung durchs Leben der sogenannten Kleinen. Das Glück hängt an Utopien, aber schon die Kraft, fortan nicht mehr zu saufen, kann Erfüllung einer Utopie sein. Wer vor lauter großen Träumen die scheinbar kleinen Träume vergisst, denkt weit vorbei am Menschsein.

Theater in Hamburg

Herr Hübner, Ihre künstlerischen Prioritäten wurden mit dem Film andere, aber Sie sind zurückgekehrt, spielen nun seit Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, sind derzeit im Repertoire in zwei Hauptrollen zu sehen, die Spielzeit 2022/23 kündigte aber keine neue Rolle an.

Das hat logistische Gründe.

Nach wie vor: Film, Fernsehen.

Und dazu die Großzügigkeit des Theaters, mir das zu erlauben.

Außerdem schreiben Sie.

Noch immer ungeheures Neuland. Suchst das einzig mögliche Wort und findest das drittbeste. Das geht mir fortlaufend so. Einer sagte zu mir: Du kannst so gut Geschichten erzählen. Glaubte ich nicht, glaube ich heute noch nicht. Aber der Satz hat mir Mut gemacht.

Was ist schön am Schreiben?

Du willst, dass sich das Tolle wiederholt: dass du deinen Gedanken folgst und plötzlich in den Worten etwas zum Ausdruck kommt, dass du vorher, bevor du geschrieben hast, nicht wusstest. Also schreibst du weiter.

Schreiben Sie zum Spaß? Oder weil es sein muss? Ist das für Sie wie die Frage, warum man atmet?

Nee, atmen muss man, schreiben nicht – auch wenn man denkt, man muss es tun. Logisch, dass ein Schauspieler wie Joachim Meyerhoff zum Schreiben finden musste. Bei diesem Erzähldrang kein Wunder. Wenn die Seele so was braucht, wird sie Wege finden. Bei mir kam der Impuls eher von außen, fürs Motörhead-Buch wie vorher für die Doku über Monchi. Ich will mich nicht kleiner machen als nötig (lacht), aber ist doch gut, wenn einer zum Bauernjungen kommt und ihn stößt: Nu mach mal! Und damit mehr gemeint ist als die Kontrolle, ob die Kartoffeln dies Jahr gut sind oder nicht. Ich muss zugeben, ich nickte am Computer immer ein bisschen weg. Ein Zeichen war das: Es sollte nicht sein. Anderer Computer, andere Tastatur, plötzlich ginges besser. Ich merkte, die alles festhaltende Schrift ist etwas, was mich anzieht. Ich muss an Uwe Johnson denken, der hatte seine Jahrestage geschafft, zweitausend Seiten!, Siegfried Unseld von Suhrkamp riet ihm zur wohlverdienten Pause nach dieser homerischen Leistung, nach diesem Berg von Werk. Jetzt Pause? Johnson, der Schreibblockaden allererster Güte hinter sich hatte, schüttelte den Kopf, nein, nein, zwar feiere er gern den Moment, aber er habe ein neues Konzept, und er schreibe das in den nächsten Monaten runter, nur den Vorschuss brauche er und dann gehe es los. Da hatte einer eine Welt geschaffen und ging sofort ran an die nächste. Sog und Leidenschaft, einzig das tun, was drängt. Dieser Hüne in der schwarzen Lederjacke. Fährt mit wehenden Fahnen nach England, um dann nur noch rüberzuschauen nach Mecklenburg. Schreibend. Fährt wieder auf die englische Insel, nach Sheerness, und stirbt.

Man schreibt, weil man etwas Bestimmtes will.

Das ist zum großen Teil eine Überlegung, die erst hinterher stattfindet. Die Frage nach dem Warum ist für den Schreibenden nicht nötig. Ach, wer weiß schon, was Sinn macht.

„Die Ros ist ohn Warum. Sie blühet, weil sie blühet.“

Es gibt fürs Schreiben Anlässe, die Lösung der Welträtsels ist keiner.

Schreiben Sie Tagebuch?

Ich schreibe vieles in irgendwelche Notiz- und Tagebücher rein. Ich bin dabei total ehrlich, glaube ich – was zur Folge hat, dass ich manches gar nicht wiederlesen will. Schreiben geht schneller, als das Herz mitunter zulassen will. Im Tagebuch habe ich mich manches gefragt, was ich erst drei Jahre später laut sagte (lacht). So spiegelt es, wie stabil oder wechselhaft man über die Jahre denkt und fühlt.

Sinn, Suche, Drang: Ich weiß, dass Julius Cäsar eine Ihrer Sehnsuchtsrollen ist. Und Macbeth. Die zwei Premieren der neuen Spielzeit in Hamburg. Wie gesagt: ohne Sie.

Na und? Macbeth, ja … Da mordet sich einer in die Macht eines Tyrannen hinein, um die eigene Endlichkeit zu verleugnen.

Unmerklich läuft er ab, dieser Aufstieg abgrundwärts.

Man muss bloß die Gespräche mit dem eigenen Gewissen ausschlagen.

Macbeth sagt: „Das Leben ist ein Schatten und der wandert, / ein armer Spieler nur, der seine Stunde / auf einer Bühne auf- und abgeht und sich quält, / und dann ist er verscholln.“ Wahrhaftiger geht’s nicht. Aber muss man sich das von einem Mörder sagen lassen?

Ja, man glaubt’s ihm eher als vielen Moralisten und Missionaren. So was schafft nur Shakespeare.

Theater über den Irrwitz eines verflucht ewigen Sieges – des Menschen über sein eigenes Vorwarnsystem.

Mit diesem Versagen wird nicht jeder zum Mörder, aber jeder tötet – eigene Sehnsüchte und Widerstandskräfte. Was mich aber am Macbeth interessiert: Da steht einer mit ganzer Wucht an der Front, mit seinem großen, schweren Schwert, er kehrt völlig übermüdet heim, geheimnisvolle Frauen unterwegs träufeln ihm ins Ohr, jetzt stehe nichts mehr dem Aufstieg im Wege – aber nee, auf den Thron steigt ein anderer. Sigmund Freud schlief zu Shakespeares Zeiten noch im Weltall, aber es gibt eine Theorie, nach der Lady Macbeth nur ein Hirngespinst von Macbeth ist. Übrigens: Das muss diesen wuchtigen Schwertträger ins Zittern gebracht haben, dass er plötzlich mit so einem blöden, banalen Messer tötete, der hatte da was in der Hand, das gar nicht zu ihm gehört. Dieses ungemäße Messer sagt ihm, dass da was schiefläuft mit dem Leben. Das Messer ist nicht standesgemäß. Schwerter sind Kultur, das Küchenmesser aber ist ein Küchenmesser.

Haben Sie Goschs Macbeth am Düsseldorfer Schauspielhaus gesehen?

Na klar! So blutig, so nackt, so verroht, so unertragbar, so niederdrückend, so hoffnungslos. Das war fleischfressende Vorzeit.

Ja, das war eine Erzählung darüber, dass die Erde noch nicht gültig bewohnbar sein will, sie probiert den Menschen erst mal aus. Jeder Mord will der letzte sein, und ist doch immer nur der neue erste in einer Kettenreaktion von Auslöschung zu Auslöschung.

Blut schwappt über Menschen, die Schlächter und Clowns sind; wenn Banquo als Gespenst erscheint, wird übers Blut nur Mehl gekippt. Stark! Die Hexen pissen und setzen ihre Kot-Zeichen in diese Welt. Sieben Männer, allesamt Könner, sozusagen im Sandkasten.

Sie agieren, nehmen dann in der ersten Reihe Platz, wo sie plötzlich so faszinierend uninteressant sind wie wir alle, und dann kehren sie in jeweils anderer Gestalt auf die Bühne zurück.

Für mich war die poetischste Szene: wenn die sieben Männer den Saal verlassen, nackt, und dann wieder reinkommen mit großen frühlingsgrünen Ästen, und so spielen sie den Wald, jene Soldatentarnung, die gegen Macbeth vorrücken wird. Da stehen sie minutenlang, imitieren Vogelstimmen, lassen das Gezweig erzittern, als seien Gefiederte darin gelandet. Stehen, sind Wald, gehen wieder raus.

Schon bei der Premiere flohen Zuschauer in Scharen.

Geht es bitte kunsthandwerksvoller, ohne grobe Wahrheit? Macbeth in Düsseldorf am Rhein sollte also bitte nicht so roh sein??? (Lacht) – Nein, letztendlich hat das Theater alles richtig gemacht, wenn es einen Nerv trifft.

Beim Schreiben sind Sie allein, beim Drehen aber – das meint auch den Regisseur Hübner – ist man umzingelt von Arbeitsteilung.

Ein Apparat lenkt dich, kesselt dich ein, aber er schützt dich auch. Man kann sich konzentrieren, vieles wird einem abgenommen. Ja, das macht das Fokussieren leichter. Ich habe allerdings gemerkt, ich will das alles gar nicht immer und ungefragt, ich will nicht für jede Stimmungslage, für jede Temperatur eine Assistenz.

Wie ist das zu verstehen?

Ich will sagen, ich bin gewissermaßen zweigeteilt: Einerseits ist da eine Lust an der Virtuosität (guckt mal, was ich kann!), und dafür brauche ich bitte einen geschützten Raum und das beste Service, aber andererseits möchte ich diese „Auflösung“ allen Kunstsinns in etwas, das man durchaus mit banaler Wirklichkeit verwechseln kann. Und manches Mal entsteht aus den brüchigen Momenten eines Drehtages eine Idee, die eine Szene erst zur Szene werden lässt, die man auch beim dritten Anschauen noch toll findet. Jetzt, bei den Dreharbeiten für Sophia, der Tod und ich, war ich mir als Regisseur mit Kameramann Martin Farkas schnell einig: Wenn wir vor einem geplanten Take zu viel proben, geht vielleicht was von der möglichen Lebendigkeit der Situationen verloren. Wenn wir dagegen sofort drehen, bekommst du eine ganz andere Ahnung davon, ob eine Szene was taugt oder nicht.

Wie verändert der Regisseur Hübner den Schauspieler Hübner?

Der Regisseur Hübner ist ja noch ein Neuling. Grundschule.

Regisseur wollten Sie ursprünglich nie werden?

Als ich neunzehn war, wollte ich den Ödipus machen, alle Stücke, bis hin zu Ödipus auf Kolonos. Aber irgendwie hatte ich Angst vor Regie, ich fürchtete, zu sehr von irgendwelcher Gnade abhängig zu sein, von diesen zufälligen Anrufen: Willst du bei mir inszenieren? Wie schon gesagt, so groß war mein Selbstbewusstsein nicht, aber ich spürte, dass ich mit Schauspielerei schneller reinkomme in den Betrieb. Jetzt habe ich mich aus der Schauspielerei heraus an die Regie gewagt, aber damit nicht gegen Schauspielerei gewendet. Mir war das Spielen nicht etwa zu wenig. Tja, wie ist das? Du bist in einem Haus und lernst plötzlich einen anderen Raum kennen. Das Hirn marschiert anders los.

Es gibt die Tyrannei der Regie. Gibt es auch die Tyrannei der Schauspieler gegenüber der Regie?

Gibt’s. Sowohl indirekt als auch direkt. Das Ringen um Freiheit oder Erkenntnis oder Setzung kann auch tyrannisch werden – ist aber der uninteressantere Weg, weil Tyrannei mit Enge verbunden ist, unsere Arbeit aber Weite braucht.

Hat Sie je die Abhängigkeit geplagt, der Sie als Schauspieler ausgesetzt sind?

Als Anfänger in Frankfurt machte mir das schwer zu schaffen.

Er kann furchtbar sein, dieser Blick in den Schaukasten. Jeder Besetzungszettel eine neue Geburtsurkunde.

Die Hauptrollen stehen oben, und womöglich musst du mit den müden Augen immer weiter nach unten wandern. Gleich zu Anfang war ich am Schauspiel Frankfurt als Peer Gynt besetzt, aber wir verfransten uns und waren als Truppe unsicher; ich gab die Rolle ab, besser: musste sie aufgeben und stürzte gefühlt ins Bodenlose. Eschberg, der bürgerliche Österreicher, war selber Schauspieler, er ahnte wohl, dass ich in frühe Verzweiflung abstürzen könnte. Also bekam ich sofort eine neue nächste große Rolle. Damit rettete er mir wirklich alles! Das ist allein sein Verdienst auf immer!

Herr Hübner: das Alter …

Nanu?! Ich spüre sehr wohl, dass es auf mich zukommt. Oder schon da ist. Man muss sich aller Erfahrung nach schneller damit beschäftigen, als einem lieb ist. Was wird dabei mein Part sein? Endlich mal der reife Herr? Oder weiterhin dieser komische Metal-Erwin? Hat man noch ’ne Rakete im Arsch oder bleibt man irgendwo hängen? Im Fußball würde man sagen: Ich bin eher der Sechser, nicht der Neuner. Es gibt einen Stoff und es gibt meinen Körper – Regie muss das zusammenbringen. Unter diesem Aspekt schau ich mich um. Inzwischen fünfzig. Wie gehe ich auf jüngere Regisseure zu, wie sehen die mich? Es fühlt sich auf jeden Fall falsch an, immer so weiterzumachen, wie sich bisher alles so ergeben hat. Das ist leicht gesagt, ich weiß. Die Frage auf dem Theater ist, wie erzähl ich die brüchige Welt? An der Burg doch sicher anders als im Ruhrgebiet oder eben in so einer Stadt wie Hamburg.

Die schlimmsten Modewörter sind: die Identität, das Ich. Behindert ständiges Rollenspiel die Identität?

Meine Identität ist, dass ich in meiner Arbeit frei von Identität bin. Das ist natürlich nur der Versuch eines Bonmots (lacht). Ich denke, dass dies mich in den Beruf gelockt hat. Journalismus wäre klares Bekenntnis gewesen. Aber als Schauspieler habe ich diese seltsame Schalte im Gehirn: Ich bin alle. Mein Freund brüllte sich durchs Amphitheater von Ephesos und war Hamlet.

Der junge Klaus Maria Brandauer probte den Hamlet in Hamburg und ging im schwarzen Anzug todtraurig durch die Straßen. Freunde sprachen ihn an, er sagte, Trauer ja, mein Vater ist gestorben.

Ja, ich bin auch mal mit geschlossenen Augen durch Neustrelitz getapert, weil ich einen Monolog eines Blinden spielen wollte – ich glaube von Wedekind. Es gibt das Buch Please kill me über den Ursprung des Punk in New York. Auf einem Foto ist auch ein junger, unscheinbarer Typ zu sehen, manche nennen ihn Al Pacino, damals ein Stammgast der Szene. Das hab ich so komisch formuliert, um deutlich zu machen, da stehen David Bowie, Patti Smith, Lou Reed und andere Größen, und neben ihnen dieser eher normale Typ, der sich an deren Hacken klemmt, und wir wissen heute, es gibt ein paar Filme mit ihm, die werden Geltung haben, so lange Menschen ins Kino gehen. Das Foto entstand, da hatte er bereits den Paten gedreht. Er neben den Pop- und Punk-Ikonen: ein blasser Bursche auf Beinen, nichts Markantes. Man ist dieser Bursche, diese Unschuld, muss aber bereit sein, per Besetzung ein Charakter zu werden (lacht). Ja, das ist der Schauspieler: Erst auf der Bühne, erst vor der Kamera erhält er, wodurch auch immer und mit welchem Ausdruck auch immer – Kontur. Das gehört zu den Dingen, die man nicht wirklich erklären kann.

Wir redeten über Film, auch wegen dieser einen Frage: Woran leidet das Theater?

Das Theater spielt.

Vielleicht ist dies sein Leiden.

Ja, es atmet schnell, sehr schnell, es muss in Trab bleiben. Am Theater zerlegen wir unser Leben allzu oft in Scheindebatten. Es gibt so ein bürgerliches Selbstbewusstsein, das übt sich fortwährend in Verharmlosung und Selbsterhalt.

Hart formuliert. Was heißt das?

Vielleicht bin ich ungerecht. Ich spiele ja Theater, sehr gern sogar, aber ich habe das Zutrauen verloren in diese Klammer eines Spielbetriebes, der läuft und läuft, und er muss dich logischerweise verplanen und verbrauchen. Diese Ebene der Weltbetrachtung hat sich mir irgendwie verschoben. Das Bedürfnis, die Fenster aufzustoßen und irgendeine Klarheit, irgendein größeres Gerechtfertigtsein zu spüren, dafür finde ich am Theater zu wenig Platz. Ich stelle mich da nicht abseits, ich bin logischerweise Teil des Problems. Aber wer weiß, ob es diesen Platz überhaupt noch gibt. Aber er fehlt mir wahrscheinlich mehr, als ich zugeben möchte. Auch wenn’s vielleicht eine Illusion ist.

Zumindest ist es Erinnerung an Maßstäbe.

Ja, und das hat natürlich mit den Partnern und Partnerinnen zu tun. Wir sprachen über Frank Castorf, Karin Beier und Jürgen Gosch, und da ist auch Karin Henkel. Karin will als Regisseurin ins Dunkle, ins total Abgründige, ja, sie ist echt dunkel. Sie drückt Stücken einen Glühstab in den Organismus.

Martialisch.

Eher mutig. Das ist manchmal wirklich eine Art Folter, ja, es tut weh, und das will diese Regisseurin: weh tun. Das ist wieder der Rammstein-Moment, die Welt ist im Großen ein unbequemer, nicht schonender Ort, auch die Leistungsgesellschaft nicht, warum sollen wir das hinnehmen? Und so kommt so ein Spielkind wie Lina und wird mit Karin Henkel das Monster Richard.

Das passt nicht zusammen?

Doch, das ist die Auseinandersetzung, die Reibung, und zwar nicht nur mit Mitteln der Arbeit, sondern in der Arbeit, aber das, was auf der Bühne abläuft, stimmt am Ende hundertprozentig. Über die Figur, die man spielt, kommt Karin einem sehr, sehr nah.

Wie verträgt sich der Wunsch nach Klarheit mit dem Auftrag der Kunst, Verstörung auszulösen?

Verstörung auslösen zu wollen, hat für mich was mit Verantwortung zu tun. Verführen, manipulieren, aufklären, bevormunden, anziehen, abstoßen, bekräftigen, verwirren, das liegt alles so dicht beieinander, wenn man sich anmaßt, öffentlich zu werden. Das ist aber die Chance und das Einzigartige des Theaters. Und durch die Verstörung schaffe ich im besten Fall eine Art von Klarheit – ich kläre auf, durch einen kathartischen Weg, der an sich das Theatererlebnis ist, in all seiner sinnlichen und intellektuellen Kraft. So hat es mich in der Zeit nach dem Ende der DDR gepackt, als der Skandal um den Scheinintendanten Gregorij H. von Leitis 1991 am Neustrelitzer Theater direkt in der Inszenierung von Gogols Revisor verarbeitet wurde …

Ein Hochstapler.

… und die Inszenierung jene eben beschriebene doppelte Realität schuf, die Hyperrealität, die das Leben, die Wirklichkeit spiegelte, obwohl dieses Leben noch real weiterlief … Aber ich habe kein Recht, nostalgisch zu werden. Bin ich auch nicht.

Erinnerung aber ist ein Recht.

Ja, und ich erinnere mich wieder an diese ganze große Welt im Mikroskopischen, diese großartigen Sinnesmomente, die zum Beispiel Jürgen Gosch gelangen. Wider sind wir bei ihm. In seinen Proben war Einfalt plötzlich kein abschätziges Wort mehr. Er hatte zwei starke Worte der Bewertung: toll oder doof. Manchmal beides zugleich, toll – und doof. Er erinnerte mich an den klassischen Mecklenburger Kutscher. Der sitzt auf seinem Kutschbock, und die Zügel zwischen seinen Händen hängen durch, ganz locker, er lässt laufen, nur selten zieht er mal straff. Vieles auf so einer Probe findet einfach statt, wie Leben eben auch stattfindet. Mal sehen, wie und wohin sich das bewegt. Es gibt eine Situation, du handelst, wie es der Moment erfordert und wie du in dem Moment drauf bist, und dann werden wir sehen. Laufen lassen. So kommst du von dem einen Moment in den anderen. Neuer Moment, neue Situation, neue Geschichte. Immer schön laufen lassen die Pferde und mit dir selber ins Risiko gehen. Und ruhig bleiben, wenn Sachen schiefgehen. Gosch jagte dem Erfolg nicht hinterher. Er schuf Erfahrungsabende mit heiliger Lakonie und bitterer Wut. Er hatte mit Lust verlernt, die Dinge durchleuchten zu wollen.

Sehr schön formuliert.

Er war mit der ganzen Kraft seines scheuen Wesens ein zutiefst Verunsicherter. Das kann man ja vielleicht schon weise nennen. Gosch fürchtete Vorgabe, Interpretation, Vorbildung. Vorbildung ist ein Verkehrsschild im Urwald. Verirrt man sich deshalb weniger? Ich mag Vorbildung, ich lese und lese. Aber Leben entsteht und entfaltet sich anders …

… zumal im Urwald.

Wir haben Erfahrung und treten doch jeden Morgen als Neuling ins eigene Leben. Wir wissen, was das ist, ein Tag, und gucken abends doch immer wieder erstaunt aus der Wäsche, was und wie heute alles so passiert ist. Privat, politisch.

Planetarisch.

Ja, und das ist eben der Punkt. Wie schafft es das Theater wieder, mit Welt für Aufregung zu sorgen. Zum Beispiel das besagte Schiff der Träume

Ein Europäisches Requiem, vor Jahren am Schauspielhaus in Hamburg. Aus Fellinis Adria wurde bei Karin Beier, Stefanie Carp und Christian Tschirner der Seeweg in die Ägäis. Ein Kreuzfahrtschiff ist letzter Huldigungsort für einen Komponisten und Dirigenten, dessen Asche ins Meer versenkt werden soll. Das trauernde Orchester: ein Panoptikum sonderbarer Gestalten. Das Schiff als Kollektiv-Gefängnis, in dem Neurosen und alter Hass ausbrechen.

Ich spiele – mit Triangel! – den stellvertretenden Orchesterchef. Plötzlich der Irritationsschlag. Fünf Flüchtlinge.

Aufgefischte. Gespielt von Mitgliedern einer ivorischen Performancetruppe. Sie tanzen, sie grinsen frech, sie greifen „Europa, den depressiven Kontinent“ an – mit Lebenslust. Warum sie zu uns wollen? „Weil wir euch helfen wollen. Wir wollen eure Probleme mit euch teilen, wir lieben eure Probleme!“ Offensive Eindringlinge. Eindringliche. Sie klettern über die Sitzplätze im Parkett, sie verwickeln das Publikum in ein völkergeschichtliches Quiz. Deutsche und Ausländer. Verstehen und Missverstehen mit Händen und Füßen. Voll Herz und voll Galle. Babylonische Sprachverwirrung. Das Ungestüme wildert plötzlich im Regelkreis der bürgerlich Verhemmten, das Unwillkommene bedrängt die Gemüter der Verspießerten. Der Solidaritätsanspruch der Leidenden rüttelt an der Besitzhärte. Karin Beiers Raffinesse: Sie stellt die hölzern bewahrte Anständigkeit, die verschämt tückische Unbarmherzigkeit ihrer „Kulturmenschen“ gegen das erfrischend herausfordernde Europa-Recht der Farbigen. Aber gleichzeitig sprudelt und sprüht das Multikulturelle derart ungebrochen, dass man kaum umhinkommt, es ebenfalls als satirisch gefärbte Unterwanderung eines positiven Klischees zu sehen. Als drohe ein erneut befohlenes allgemeines „Fröhlich sein und singen!“

Es gab bei dieser Inszenierung einige Diskussionen genau zu diesem Punkt. Das Schauspielhaus selber hatte zu jener Zeit Flüchtende aufgenommen, und nun kam der Vorwurf, wir würden auf der Bühne mit diesen ja doch ziemlich dämlichen bürgerlichen Künstlertypen einen seltsamen deutschen Selbsthass offenbaren. Und die Afrikaner, die auftraten? Absolute welterfahrene Performance-Profis. Auch ein Klischee: tolle Tänzer, Muster-Bodys des Frohsinns und der Freude. Das Ganze sozusagen: antirassistischer Rassismus. Andererseits hat niemand ein Rezept, wie etwas gültig auf die Bühne gebracht werden kann. In Überforderungslagen ist jeder Versuch auch Irrtum.

Verharmlosung an bürgerlichem Selbstbewusstsein … Harsch gesagt … Aber es gibt doch das Recht auf Unterhaltung.

Sicher. Es ist das Recht, nicht auch noch am Abend, für den man bezahlt hat, mit den eigenen Problemen belästigt zu werden – denen man mal für ein paar Stunden entkommen will. Dieses Recht gibt es. Aber dann kommt Studio Braun mit diesem Honka im Goldenen Handschuh.

Studio Braun – das Regietrio Heinz Strunk, Rocko Schamoni, Jacques Palminger. Die Hamburger Kneipe „Zum Goldenen Handschuh“ auf St. Pauli: eine Vorhölle und doch auch Heimat für alle armen Teufel. Hier „lebt“ auch Fritz Honka, hier trifft er auf die geschundenen Seelen, die er töten wird, der Frauenmörder, den Sie spielten und von dem Autor Heinz Strunk in seinem Roman schreibt, der die Vorlage war: „Er stellt sich eine andere Welt vor, in der er selbst jung und gesund und sein Atem angenehm ist und er einer nach Rosen duftenden Frau mit reiner Haut, schönem Gebiss, einem makellosen Körper den Himmel auf Erden bereitet. Ein katastrophales Glücksverlangen überfällt ihn.“

Studio Braun verlässt mit seinen Psychorevuen den klassisch gewordenen Theaterkonsens. Den Honka verteidige ich als Figur, sonst bräuchte ich ihn nicht zu spielen. Ein unbedarfter Mann, am Ende aber eine kranke Gestalt, eine völlig zerschlagene, verformte Fresse, dazu das Sächsisch. Der Kommunistensohn aus Leipzig, der vergewaltigt wird, dem die Schnapsflasche zum Sozialhelfer wird, der Rest ist ein langes Requiem aus Gewalt. Er sah für mich auf Fotos zunächst aus wie mein Vater, ein ganz normaler Mensch, dann aber: alles kaputt, ein total zerrüttetes Wesen, der Mann wurde ein Vieh, aus dem fassbaren Menschen wird ein unfassbares Monster, und er bleibt doch ein Mensch, das ist das Allerentsetzlichste. Nöö, sagt der gesunde Hamburger, das ist mir zu haart, will ich nicht sehen! Willkommen in der Realität: Für so was bezahlt man nicht unbedingt eine Theaterkarte. Versteh ich – und spiel das Ganze noch böser.

Aber auch mitleidiger.

Das ist ja das Böse. Auch Coolhaze geht dieses eigentlich Unerträgliche im Leben an: alle Regeln einzuhalten und trotzdem verachtet, gedemütigt zu werden. Coolhaze schießt auf die absolut Richtigen, aber man darf nicht schießen. Wat nu?

In dieser Kohlhaas-Revue sieht man Sie als Charles Bronson.

Hübner spielt Bronson – eine wahnwitzige Behauptung. Dieser Bronson bleibt natürlich Hübner, auch wenn Hübner alles versucht, nicht bloß Hübner zu sein (lacht). Ich versuchte den absoluten Minimalisten, die Sprache ganz eng, alles nur mit Blicken, Charly, hieß es bei den Proben, spiel den Charles ganz klein, dieser Coolhaze ist eine verdammt dünne Hose. Okay, aber plötzlich stimmte das zwar alles, sah aber auch klein, also verdammt langweilig aus. Das Kleine groß spielen, das Enge wie eine Prärieweite – wie soll man das hinkriegen, he, was ist das nur für ein Beruf (lacht)!

Manche halten Erbauung und freundliche Illusionen für das Beste am Theater.

Diese Leute müssen den Mut haben, manche Aufführungen zu meiden.

Ein Mut zur Feigheit.

Wahrscheinlich war das in der BRD stärker gesetzt als in der DDR, dieses bürgerliche Gen, ins Theater zu gehen, um intelligent unterhalten zu werden. Schon als Heiner Müller in legendären Jahren in Bochum arbeitete, schrieb er von den Leuten, die das wie eine schmückende Brosche trugen: Ich bin ein Abonnent!

In der DDR hatte die Wahrheit Gewicht. In der Demokratie heben sich die Wahrheiten gern auf. Was ist langweiliger?

Theater ist heute der last exit vor Netflix oder die letzte Station vorm Eigentlichen: schön entspannt an der Elbe zu hocken. Was spielen die heute Abend im Theater? Tschechow? Ein alter Hut, da bleiben wir lieber an der Elbe sitzen … Und was spielen sie morgen? XQ92-A von irgend so ’nem jungen Autor, da geht’s um einen, der Probleme mit seinen Eltern hat. Wat? Hab ich selber genug, dafür muss ich nich’ extra ins Theater … So sieht es doch aus. Bitter. Wieder sind wir beim Defizit von Theater. Es ist eine echte Aufgabe, da was Gegensteuerndes zu finden. Etwas gegen die Beruhigungswünsche eines entspannungssüchtigen Publikums. Deshalb fand ich so aufregend, was Karin Beier und Edgar Selge mit Houellebecqs Unterwerfung am Schauspielhaus versucht haben. Wie sie Islam und Islamismus, das nationale Eigene und das herandrängende Fremde auf die Bühne warfen. Drei Stunden Philosophie! Komisch und böse, hunderttausend Leute haben das gesehen, gut situierte Hamburger fernab des Punk. Und auch Lina und die ganze Truppe: Herrlich, die ziehen Richard III. durch, in einer Art, bei der man draußen sagen würde, kann mal jemand die Eins-eins-null anrufen. Nicht auf dem Theater! Da geht das gnadenlos bis zum Schluss, bis zum Wumm, wumm, wumm eines Maschinengewehrs, mit dem Richard durch sein Kinderzimmer Welt ballert. Saukomisch, aber überhaupt nicht lustig.

Das Theater muss energisch und aufgewühlt eine Lücke kenntlich machen: zwischen der Erfahrung, in diesem Moment auf unserem Planeten ein banales, gefährdetes Leben führen zu müssen, und den zweifelhaften öffentlichen Erzählungen, die zur Sinngebung für dieses Leben angeboten werden. Der moralische Pegel ist schwankend und begrenzt geworden; die kapitalen Untaten entziehen sich der Justiz; der forcierte Selbstgenuss höhnt dem Gemeinsinn; Kreditkarten beherrschen den Traum, Glück sei käuflich; am Ende gilt überhaupt nur das als Glück, das einen Preis hat.

Ich hab schon noch eine Sehnsucht nach Aufregung. Wie es sich entwickelt, das wird sich weisen. Kribbeln tut’s. Theater als eine dauerhafte Arbeitsbeziehung, die wie früher was von einer verschworenen Gang hat – Hamburg hält mich da sehr in Hoffnung.

Es waren mal königliche Theaterworte: Schauspielerin, Schauspieler.

Wieder dieses: Ach, weißt du noch … Aber ich tu’s gern! An dem Punkt waren wir ja schon. Ich kann gar nicht so viele Namen nennen, wie ich möchte. Von Lampe bis Sander, von Boysen und Holtzmann bis Böwe und Körner, von Wittenborn bis Piontek, von Canonica bis Grube-Deister. Pure Willkür diese Auswahl – arme Stammelei vor so viel Fülle. Die große Clever. Oder Jutta Wachowiak. Diese Truppen! Steckel in Bochum, Hetterle am Berliner Gorki-Theater, Schroth in Schwerin. Jürgen Holtz hat mal an den Regierenden Bürgermeister von Berlin geschrieben: Ihr zerstört mit eurer Kultur- und Vertragspolitik die Ensembles! Es ist so viel Alleingang, Müdigkeit, Gleichmut in die Institutionen hineingetragen worden. Die Ästhetik des Dieter Dorn in München war nicht meine, und Andrea Breths psychologischen Rätselspielen an der Schaubühne stand ich Trumm auch etwas ratlos gegenüber, aber doch: bewundernd. Zur Schaubühne sah ich auf, zu den Münchner Kammerspielen, zum Deutschen Theater, zu den Stuttgartern und Bochumern, später zur Volksbühne. Der Blick aufs Theater war ein anderer als der Blick heute. Es geht nicht um Nostalgie, um Himmels willen nicht, aber Trauer darf sein. Die Fliehkräfte sind zur Gefahr für die Bindekräfte geworden. Wer lässt sich noch wie lange auf wen ein? Natürlich gibt es immer wieder ganz starke Schauspieler und Schauspielerinnen, Sandra Hüller, Lina Beckmann, Constanze Becker, ein Talent ist ein Talent ist ein Talent. Aber die Öffentlichkeit ist dem Theater gegenüber so gedämpft geworden.

Der Begriff Stadttheater wird nicht mehr wörtlich genommen. Vorbei.

Vorbei heißt doch aber: Es ist wieder was möglich. Gehen wir hinüber zum Fußball. Der FC Barcelona, das war Stadttheater im besten Sinne. Von der Pike auf lernen und leben alle das gleiche System. Entwicklung, Förderung! Wer geht über außen, wer hat die Übersicht, wer hat den Torinstinkt, wer ist der Capitano? Der lange geduldige Blick auf den „Kader“. Entwicklung heißt: Du hast mir eine Hauptrolle gegeben, nun spiel ich dir was in der sogenannten zweiten Reihe, die es ja nicht wirklich gibt, wenn man ernsthaft und energisch miteinander arbeitet. Es geht um die organischen Wege an einem Theater. Xavi ist jetzt genau dort Trainer, wo er von Guardiola und Cruyff gelernt hat.

Der große Erfolg fehlt ihm.

Lernen heißt nicht, Erfolgsgarantien zu erben, das genau sieht man an Xavi. Lernen, das heißt: an einem Zusammenhang beteiligt zu sein, der sehr viel mit einem selbst zu tun hat. Ich möchte ans Theater glauben und deshalb ist dies mein großer Teil Sehnsucht fürs Älterwerden: Von der Schauspielschule an wird wieder gezielt ein regionales Bewusstsein – und Selbstbewusstsein! – entwickelt. Wenn Theater nicht Lokaltheater ist, entfremdet es sich von sich selber. Regisseure und Stars sind leider Wanderwesen geworden. Herumziehend schmücken sie die Arbeit derer, die nicht von der Stelle kommen dürfen. Und an den Schauspielschulen denken junge Leute: Film ist geil, Fernsehen ist geil, sie lernen sich selber gar nicht mehr kennen, sie lernen keinen Werkzeugkasten mehr kennen, sie sind auf Durchzug aus. Wissen Sie, wenn man an ein Theater kommt, dauert es eine Weile, bis die Angst- und Eitelkeitsdämme brechen. Es gibt Cliquen, in die kommst du nicht rein, es gibt aber die Clique, in die du reinpasst. Auch das braucht Zeit, und gut ist ein Theater, in dem verschiedene Ensembles in Frieden und Konkurrenz arbeiten.

Das attische, elisabethanische, klassische spanische Theater, das waren Lokaltheater.

Und wurden dadurch Welttheater. Ich hab von den neunziger Jahren geschwärmt, die haben mich geprägt. Was für Wahnsinns-Schauspieler! Und heute? Entweder ist es der verbrauchte gelebte Blick auf alles, oder es gibt tatsächlich eine Änderung – was macht heute Spielerinnen und Spieler noch aus? Geht es noch um Handwerk, also um Spieltechniken und Eigenheiten, oder nur noch um dramaturgisch-ästhetische, politisch korrekte Mitreisende?

Der Schauspieler ist nicht mehr der Steppenwolf, sondern der brave Hund unterm Tisch des allgemeinen Gehorsams.

Wenn Sie’s so formulieren, klingt es gleich wieder so, dass ich einlenken möchte, na, so hart meine ich das nicht. Aber doch, so mein’ ich’s, zum Teil. Kollege Fabian Hinrichs hat bei der Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises dieses Fass weit aufgemacht und eckte naturgemäß an – bis wohin bist du als Schauspieler der brave Erfüller, ab wann musst du der oder die sein, die eine Sache erst besonders macht, die Aufführung, den Abend? Alles kommt sofort in den Vergleich, auf Rankinglisten, wird eingemeindet in die Märkte, wird weitergereicht, ausgeschlachtet, relativiert. Der Punk geht weg. Es darf doch aber nicht vergessen werden: Die Anarchie ist unser Ding auf dem Theater, die kostenfreie Hysterie, zu brüllen und zu schweigen. Nichts Digitales kann uns ersetzen, nicht den Körper, der kämpft, nicht die Augen, die andere Augen suchen. Nähe und Schweiß, Fieber und Fleisch.

In unserem Zeitalter stammen die meisten unserer Ansichten aus den Medien, also aus dritter oder vierter Hand. Wäre toll, wenn Theater wieder zu Erfahrung aus erster Hand einladen würde.

Ja, zum direkt geführten Gespräch. Sehr selten hat es in der Geschichte den glücklichen Moment gegeben, da sich Theater direkt mit der Demokratie verbunden, sie in die eigenen Hände genommen hat.

Zuerst mit der Erfindung des Dialogs durch Aischylos. Die Diskussion bildete Herz und Seele der griechischen Philosophie, der griechischen Kultur, der griechischen Demokratie.

Wahrheit ist, wenn Menschen miteinander streiten. Ereignishaftigkeit, das wär’s, was ich mir wieder vom Theater wünsche. Theater wieder als Stadtgespräch.

Vieles, was heute auf den Bühnen angenehm, wohlgefällig, kulinarisch ist, ist ja irgendwie auch eine Infamie der Verwischung.

Das Langweilige zerrt an dir, du brauchst Kraft dagegen.

Wofür?

Am besten für die Begegnung mit Leuten, die stärker sind als du, die dir Mut machen für Kräfte, die nicht nur immer Abwehrkräfte sein wollen. Klar, ’ne tolle geile Rolle, gute Stimmung im Raum und danach Applaus, das ist das eine, es ist schön, und das muss und wird es weiter geben, aber das andere sind Dinge, die du aus der Gesellschaft nimmst und wieder hineingibst, so dass dem Denken, dem Empfinden andere Möglichkeiten erschlossen werden. So müsste es sein: dass das Theater wieder viel mehr ein Ort ist, an dem wir ganz existenziell verhandelt werden, uns selber verhandeln. Wie ein Jüngstes Gericht, dem wir uns gern stellen, weil es uns durchrüttelt.

Vielleicht bestünde ein anderes Theater darin, dass wieder diejenigen zum hauptsächlichen Publikum würden, die man aufrichten muss.

Klar, jene, die das Bild der hässlichen Welt unmittelbar betrifft, weil sie Opfer sind, die sitzen nicht in den Theatern, sondern auf den Fußballplätzen.

Und fühlen sich wohl im Urschrei für die eigene Mannschaft.

Oft muss ich an Gorkis Nachtasyl denken. Ein so drückend gegenwärtiges Stück. Alle Menschen sind einer Kraft ausgesetzt, die größer ist als sie selbst. Wie’s bei Rammstein heißt: „… das Gleichgewicht wird zum Verlust / lässt dich hart zu Boden gehen / und die Welt zählt laut bis zehn.“

Nachtasyl ist ein gutes Beispiel: Alle lieben falsch, spielen falsch, reden falsch. Aber für Momente, die sich einbrennen, sind diese Menschen des falschen Lebens plötzlich im richtigen Theater: Sie schauen sich selber zu, und hinter den Stirnen sieht man gleichsam die Einbildungsblase platzen. In die Leere, die sich in ihnen auftut, taumeln sie alle hinein und suchen einen Halt. Und träumen, dass es einem leid tut.

Sie träumen, dass sie fliegen. Und sie fliegen ja wirklich: immer auf die Fresse.

Sie zitieren Rammstein. Sie mögen die Gruppe?

Große Liebe! Das ist linker Punk aus Ostdeutschland. Rammstein ist eine Kunstfigur, eine theatralische Behauptung. Dass man sie missverstehen kann, liegt im Risiko dieser Performance, dieser Setzung. Sie spielen mit Tabus, sie kitschen sich ein in mythische und mystische Bilder. Rammstein kommt aus einem Punk, der gegen die dominanten Zustände im Osten entstand. Das sind ganz sanfte Helden aus der DDR. Sanft wie Motörhead (lacht).

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Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"