Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Die Situation wahrnehmen und Sprechhaltungen entwickeln

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Anzeige

Anzeige

Im ersten Auftritt begegnen wir Odysseus und Diomedes auf der einen Seite, Antilochus und Gefolge auf der anderen. Der König von Ithaka und der König von Sparta treffen auf den Freund Achills. Uns interessiert der öffentlich geführte Dialog zwischen Odysseus und Antilochus, in dem Letzterer wenig zu Wort kommt und der mit der von Antiloch gestellten Frage beginnt: „Seyd mir gegrüßt, ihr Könige! Wie geht’s,/ Seit wir zuletzt bei Troja uns gesehn?“ Die Frage gilt wohl weniger dem Befinden der Anwesenden als der strategischen Lage vor Troja. Die Sprechhaltung dieser Frage kann sich aus der aktuellen Wahrnehmung ergeben. In welcher Verfassung befinden sich Odysseus und Diomedes, und wie nimmt Antiloch diesen Zustand wahr? Wir erfahren im nachfolgenden Text, dass Odysseus mindestens eine ganze Nacht marschiert und durstig ist und dass er nicht Herr der Situation werden konnte. Die Sprechhaltung kann sich auch aus Antilochs Wahrnehmung der aktuellen Schlachtsituation ergeben. Er hat ein Interesse, den genauen Stand der Dinge zu erfahren. Wie wir den Versen 103 bis 105 entnehmen können, wurde er bereits durch einen Boten unterrichtet, wusste sich aber keinen Reim auf die Botschaft zu machen: „So, Wort für Wort, der Bote, den du sandtest;/ Doch keiner in dem ganzen Griechenlager,/ Der ihn begriff.“ Am Ende des 1. Auftritts erfahren wir außerdem, dass Antiloch von Agamemnon wie folgt beauftragt worden war: „Mich sendet Agamemnon her, und fragt dich,/ Ob Klugheit nicht, bei so gewandelten/ Verhältnissen, den Rückzug dir gebiete./ Uns gelt’ es Iliums Mauern einzustürzen,/ Nicht einer freien Fürstinn Heereszug,/ Nach einem uns gleichgült’gen Ziel, zu stören.“ Hinter der sprachlich zunächst eine Konvention bedienenden Begrüßungsformel am Anfang des Dialogs verstecken sich also Motiv und Absicht. Antiloch versucht, sich ein Bild von der Lage zu machen, bevor er Agamemnons Ratschlag überbringt. Die Frage ist, wenn man ihr den Mantel der Höflichkeit abstreift, eine Aufforderung. Das die Sprechhandlung tragende Wort ist das Verb gehen. Geht es voran oder geht es zurück, geht es gut oder geht es schlecht? Zwischen diesen Polen wird eine Antwort erwartet. Ob es gut oder schlecht geht, seit man sich bei Troja oder anderswo gesehen hat, scheint nachgeordnet zu sein, man befindet sich ja bei Troja. Die Formulierung „seit wir zuletzt bei Troja uns gesehn“ bezieht sich auf eine zeitliche Distanz. Antiloch macht deutlich, dass ja einiges passiert ist in der Zwischenzeit. Liegt der gedankliche Hauptschwerpunkt am Anfang der Frage, fordert die Sprechweise den anderen zu einer Antwort auf. Der gedankliche Nebenschwerpunkt bietet sich auf dem nachgestellten Partizip gesehen an. Der Vers wird auf diese Weise bis zu seinem Ende gesprochen. Die Sprechspannung kann so über das Sprechen hinaus leicht verlängert werden und dadurch eine Antwort einfordern und entgegennehmen. Die Haltung dieser Sprechhandlung kann aufmunternd, ironisch, mitfühlend, herausfordernd oder hinter einer Konvention versteckt sein. Je nachdem, ob Antiloch einen persönlichen oder offiziellen Tonfall wählt, kreieren wir die Situation, in der sich die Sprecher befinden. Auch das Setting spielt eine Rolle. Sitzen die Beteiligten oder stehen sie? Welche Positionen nehmen sie zueinander ein? Schauen sie sich an oder sprechen alle nach vorn oder zur Seite, dem Schlachtfeld zugewandt? Die Art des Sprechens schafft die Situation, wie die Vorstellung von der Situation das Sprechen beeinflusst. Welche Beziehung nehmen wir zwischen den Beteiligten an? Gibt es ein Statusgefälle zwischen ihnen? Mögen sie sich? Sind sie Konkurrenten? Gibt es einen Wettbewerb zwischen Odysseus und Antiloch? Wir können mit den Studierenden vielerlei Optionen probieren, um sie zu einem konkreten Einstieg in die Sprechsituation zu bewegen. Odysseus bewertet sowohl die strategische als auch die persönliche Situation eindeutig, indem er antwortet: „Schlecht, Antiloch. Du siehst auf diesen Feldern,/ Der Griechen und der Amazonen Heer,/ Wie zwei erboste Wölfe sich umkämpfen:“ Hier erst beginnt die eigentliche Arbeit am Text. Denn es ist ja vor allem die Figur des Odysseus, die uns in der Textarbeit interessiert. Wir sehen, wie viel Vorarbeit nötig ist, um die erzählte Situation zu verstehen und die erzählende Situation mit ihren Sprechhandlungen zu erschaffen. Alle Informationen kommen zwar aus dem Text, ergeben sich aber nicht zwangsläufig aus dem fortlaufenden Lesen, sondern stehen erst dann zur Verfügung, wenn wir die ganze Geschichte genau kennen und mit unseren Assoziationen angereichert haben.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige