Protagonisten
Die Kunst des Theater-Zens
Mit Maß und Mitte brachte Dagmar Schlingmann das Saarländische Staatstheater während ihrer zehnjährigen Intendanz wieder ins Spiel. Eine Bilanz
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Akteure Saarländisches Staatstheater
Mehr als zehn Jahre Handeln und Wirken auf einige Zeichen herunterzubrechen ist immer eine vermessene Angelegenheit. Erst recht, wenn die Intendanz ein Haus mit mehreren Sparten umfasst. Und wenn das Programm eines solchen Großbetriebs der Kunst so gar nicht klar auf zwei oder drei Schlagworte reduziert werden kann. Denn wer versucht, die Amtszeit von Dagmar Schlingmann am Saarländischen Staatstheater zu bilanzieren, kommt unweigerlich zu der ersten Erkenntnis, dass ihr Profil in gewisser Weise die sehr wichtige Auflösung eines Profils voraussetzt, nämlich ein Etikett wie Volks-, Heimat- oder nationalkulturelles Theater bewusst hinter sich zu lassen.
Geografisch mag das Haus einerseits am Rande Deutschlands, andererseits im Herzen Europas liegen. Das kleine Saarland mit seiner wechselvollen deutschfranzösischen Geschichte weiß, dass es nur in der Vernetzung zu Bedeutung gelangt. Dagmar Schlingmann hat die Notwendigkeit daher zur Tugend erhoben, indem sie das von der EU geförderte Netzwerk „Total Theatre“ begründete und über Jahre hinweg ausbaute, das unter anderem Kooperationen mit Theatern in Frankreich, Belgien und Luxemburg umfasst.
Dem europäischen Gedanken verpflichtet, setzte die Intendantin vor allem auf den Kernkanon des Kontinents. Von der italienischen Oper, mit Giuseppe Verdis „La Traviata“ oder Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“, über Shakespeare als Inbegriff der englischen Dramatik, den Franzosen Molière mit „Der Menschenfeind“, bis zum Österreicher Ödön von Horváth mit seiner Groteske „Geschichten aus dem Wiener Wald“ reichte das klassische Repertoire. Ihm liegt das Bekenntnis zu einer die nationalen Grenzen überwindenden kulturellen Identität zugrunde. Regionale Eigenarten werden darin allerdings nicht ausgeschlossen oder eingeebnet, sondern als Teil einer Einheit in Vielfalt integriert. So erzählte etwa die Inszenierung von „Brassed off – Mit Pauken und Trompeten“ (2006) vom saarländischen Kohlebergbau, dem eine wesentliche Rolle im Ganzen der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte zukommt.
Auch was die Auswahl zeitgenössischer Stücke anbetrifft, vermochte Schlingmann dem Standort zu einer modernen Profilierung zu verhelfen. Mit Stücken von Elfriede Jelinek oder Felicia Zeller hat sie brisante Gesellschaftsdebatten aufgegriffen. Man denke an Marcus Lobbes’ Aufführungen von Jelineks „Ein Sportstück“ (2013) über die Ideologie der Körperoptimierung oder an Zellers „Wunsch und Wunder“, eine bissige Persiflage auf die Hybris der Reproduktionsmedizin von 2015. Wer heute für politisch relevante Bühnenkunst stehen will, kommt ebenso wenig an der Kapitalismuskritik vorbei. Mit „Das kalte Herz“ (2013), uraufgeführt von Erich Sidler in der Industriekathedrale Alte Schmelz, wurde auch ein Werk der großartigen Autorin Rebekka Kricheldorf für das Staatstheater gewonnen. Faustisch verkauft darin ein Köhler sein Herz für einen schnell verspielten Reichtum.
In manchen Inszenierungen hat man durchaus auch hin und wieder völlig danebengegriffen – gerade was die Werke Jelineks anbetraf, in deren palimpsestartigen Textgeweben man sich allzu rasch verlieren kann. Dies geht jedoch zumeist auf die Kappe der Regisseure und nicht der Intendantin – die nebenbei mit ihrer Realisierung von Émile Zolas Roman „Das Geld“ selbst einen bemerkenswerten künstlerischen Beitrag in Sachen Finanzmarktkrise geliefert hat: Eine Bühne, so steil, dass das Abrutschen vorprogrammiert ist, hält sie für einen gierigen Zocker bereit, den, wenig überraschend, die Rachegöttin Nemesis heimsucht. Ein imposantes Spektakel, das es 2015 bis zu den Ruhrfestspielen geschafft hat. Mit 22 eigenen Inszenierungen hat Schlingmann in Saarbrücken höchst produktiven Einsatz gezeigt. Sie liebt offensichtlich Klassiker und ist zumindest in ihren eigenen Projekten selten in leichtfüßigeren Unterhaltungsgenres unterwegs.
Die Bilanzierung ihrer konzeptionellen Federführung – meint: Auswahl an Regisseuren, Stoffen, Themen, Texten, Autoren – steht ohne Zweifel im Zeichen einer erfolgreichen Amtszeit. Dass sie dabei vor allem avancierte Dramatik zeigen konnte, hat das Haus gewiss bereichert. Erfreulich ist die deutlich wahrnehmbare Leitlinie: Qualität geht vor Quantität. Denn neben zahlreichen Klassikern fanden sich auf den Spielplänen der letzten Jahre eine Handvoll erlesener Ur- und Zweitaufführungen. Man hat sich offenbar dafür entschieden, nicht dem allgemeinen Trend der Aufführungs-Bulimie zu folgen, wonach zahllose neue Stücke blind verfeuert und verwertet werden, um schnell in die Presse zu kommen. Stattdessen hatte das Saarländische Staatstheater Selbstvertrauen in die eigene Arbeit, man war nicht Getriebener, sondern Akteur.
Ohne die Tradition zu vernachlässigen, galt es, Neues zu erschließen. Und dies stets mit Maß und Mitte. So könnte ein Kurzfazit für diese Intendanz lauten, welche die ansonsten etwas verschlafene Landeshauptstadt zu vitalisieren wusste. Als eine wunderbare Akzentsetzung hat sich gleich zu Beginn von Schlingmanns Amtszeit die Gründung der sparte4 unter der Leitung von Christoph Diem, Hausregisseur in Saarbrücken, der auch mit Schlingmann als Schauspielleiter nach Braunschweig wechseln wird, erwiesen – ein Format, wie Diem es einmal beschrieb, das „zwischen subventionierter Staatskultur und Popkultur“ anzusiedeln sei. In wohliger Clubatmosphäre, zwischen Sofa und Bar, haben Talente wie Antje Schupp („Das normale Leben oder Körper und Kampfplatz“ von Christian Lollike, 2013), Jörg Wesemüller („Die Verwandlung“ von Franz Kafka, 2007) oder Alexandra Holtsch („Also sprach Zarathustra“ nach Friedrich Nietzsche, 2011) inszeniert. Jenseits des Mainstreams, avantgardistisch, aber niemals aufdringlich adressiert das Nischenprogramm die urbanen, jungen und jung gebliebenen Theaterinteressierten. Sozusagen Wohnzimmer statt Opernloge, wobei hier nicht der Eindruck erzeugt werden sollte, dass das Musiktheater von vorgestern gewesen sei. Denn mit der 2007 ins Leben gerufenen Reihe „echtzeit“ wendet sich das Haus bewusst neueren Tendenzen des Operngenres zu. Mit viel Lob wurde etwa Penelope Wehrlis Adaption von Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ von 2008 bedacht. Der Grimm’sche Märchenton ging darin mit Comic-Bildern und Filmsequenzen eine ungewöhnliche, aber reizvolle Melange ein.
Was bleibt also von einem Jahrzehnt, das Schlingmann nun an der Saar gestaltete? Wer ihre Leitung kritisch betrachten will, könnte monieren, dass im großen Haus wohl eher eine Bühnenkunst unter dem Vorzeichen des altbewährten Kanons zu sehen war, das Innovative eher an Außen- und Randspielplätzen erprobt wurde. Mutlos oder bieder war das allerdings nicht. Es dokumentiert eher einen Stil, der sich durch bewusste Pointierungen und Ausgewogenheit auszeichnet. An Bedeutung gewinnt diese Amtszeit ferner in ihrer historischen Dimension. Einstmals wurde das Haus noch im Beisein von Adolf Hitler eingeweiht. Heute repräsentiert es Weltoffenheit und Toleranz, ganz im Sinne der europäischen Verständigung. Aus dem Randdasein im deutschen Theaterbetrieb hat es sich befreien und als Schnittpunkt für internationale Kooperationen bewähren können. Um diese Arbeit fortzusetzen, braucht es nicht nur einen langen Atem, vielmehr muss mithin die nötige materielle Basis gewährleistet sein. Dass Schlingmann ihren Vertrag in Saarbrücken gekündigt hat und auch aufgrund größerer finanzieller Spielräume noch in diesem Jahr nach Braunschweig wechseln wird, müssten die Landes- und Kulturpolitiker als eine Mahnung sehen. Dem Nachfolger, so ist zu hoffen, sollte nicht das unglückliche Los bestimmt sein, vornehmlich Besitzstandswahrung betreiben zu müssen. Das Staatstheater hält eine Position inne, die zum weiteren Fortschritt einlädt. //