Theater der Zeit

Magazin

Abschied von morgen

Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR. Hanser Verlag, München 2015, 496 S., 26 EUR.

von Holger Teschke

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Buchrezensionen

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„Ab Anfang der 60er Jahre versucht sich eine junge Generation von Künstlern und Intellektuellen energisch aus der ideologischen Umklammerung zu befreien“, schreibt Gunnar Decker zu Anfang seines Rückblicks auf den kurzen Sommer der Reformversuche in der DDR zwischen dem VI. SED-Parteitag im Januar 1963 und deren Ende durch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965. „Der utopische Überschuss soll Neues ermöglichen, wenn Gegenwart zu vergreisen beginnt. Eine Strukturreform von bislang ungekanntem Ausmaß, vor allem in der Ökonomie, aber auch des politischen Systems im Ganzen, scheint plötzlich möglich.“

Aber es schien eben nur so. Dennoch ließ dieser Schein zunächst auch bei einer Reihe junger Wissenschaftler und Politiker die Hoffnung aufkommen, dass in der DDR ein zweites Tauwetter beginnen und den Dauerfrost von Dogma und Diktat aufbrechen könne. Gunnar Decker lässt seinen Blick über ein breites Spektrum der gesellschaftlichen Diskurse in der DDR schweifen: von der Königsebene des Politbüros des ZK der SED, auf der sich ein Machtkampf zwischen Walter Ulbricht und seinen jungen Reformkadern mit dem von Erich Honecker angeführten Partei- und Sicherheitsapparat abspielte, bis hinab zu den Ateliers und Theaterkantinen, in denen sich Künstler und Intellektuelle trafen, um über einen Sozialismus ohne Dogma zu diskutieren. Vom holprigen Beginn des „Bitterfelder Wegs“ über den Streit um Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ und Peter Hacks’ Komödie „Die Sorgen und die Macht“ bis zum ersten Verbot der Rockband Renft und der Jagd auf „Gammler und Rowdies“ erzählt er die Geschichte vom Versuch, mit künstlerischen Mitteln ein realistisches Bild der sozialen und wirtschaftlichen Zustände in der DDR der 60er Jahre zu zeichnen. Besonders überzeugend gelingen ihm die Porträts jener Autorinnen und Autoren, deren Namen und Werke heute immer weniger Leserinnen und Lesern vertraut sind: von Erich Arendt und Franz Fühmann, Brigitte Reimann und Maxie Wander, Werner Bräunig und Benno Pludra. Und er beschreibt den Widerspruch und die Widersprüche, in die auch offiziell gefeierte Künstler wie Fritz Cremer, Kurt Maetzig, Wolfgang Langhoff und Anna Seghers gerieten. Als „Abschied von morgen“ bezeichnete Heiner Müller diese Zeit in einem Gedicht.

Gunnar Deckers Buch widersetzt sich dennoch der inzwischen fast Konsens gewordenen Deutung der DDR-Geschichte als einer endlos bleiernen Zeit, in der eine verängstigte Bevölkerung unter der Diktatur einer korrupten Funktionärskaste Tag und Nacht von der Wiedervereinigung träumte. Es zeigt stattdessen ein Jahrzehnt, in dem es noch vielen DDR-Bürgern um einen anderen Sozialismus als den von Moskaus Gnaden ging und über den weitergestritten wurde, auch als die Debatte längst für beendet erklärt worden war. Dafür wurden viele Protagonistinnen und Protagonisten nach 1989 von den Medien der alten Bundesrepublik im Tonfall der „Sieger der Geschichte“ abgekanzelt. Wenn Jubiläen wie der 25. Jahrestag der Deutschen Einheit einen Sinn haben, dann den, dass Bücher wie dieses heute geschrieben und gelesen werden können. „Entscheidend für jede echte Befreiung (…) ist: sie kommt nicht von außen, sondern von innen“, schreibt der Autor am Ende des Buches mit Blick auf die seltsame Wandlung des Stasi-Offiziers Gerd Wiesler im Film „Das Leben der Anderen“. Das trifft für den Einzelnen in undemokratischen Gesellschaften vielleicht zu. Doch die gesellschaftliche Befreiung von angeblich „alternativlosen“ Herrschaftsformen wird nicht von oben und von innen, sondern nur von unten gelingen. Das gilt für 1965 ebenso wie für 2015, und diese Einsicht macht aus Gunnar Deckers nachdenklichem Rückblick ein Lehrstück für die Zukunft. //

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