Theater der Zeit

Auftritt

Speisen wie ein Genosse in Eisenhüttenstadt

Die Eisenbahntheatergruppe „Das letzte Kleinod“ erinnert mit ihrem Projekt „Hotel Einheit“ in sechs ostdeutschen Städten und auf drei Stationen in der Altbundesrepublik an einstige Vorzeigehotelanlagen in der DDR und machen eine längst vergessene Alltagskultur wieder lebendig.

von Tom Mustroph

Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Das letzte Kleinod

Vergessene Alltagskultur lebendig machen: Die Eisenbahntheatergruppe „Das letzte Kleinod“ erinnert mit ihrem Projekt „Hotel Einheit“ an einstige Vorzeigehotelanlagen in der DDR.
Vergessene Alltagskultur lebendig machen: Die Eisenbahntheatergruppe „Das letzte Kleinod“ erinnert mit ihrem Projekt „Hotel Einheit“ an einstige Vorzeigehotelanlagen in der DDR.Foto: Das Letzte Kleinod

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Theater in Eisenhüttenstadt ist mit der Eisenbahn verbunden. Vor dem Friedrich-Wolf-Theater weist eine Plakette darauf hin, dass im ersten Jahr nach der Gründung 1955 eine Lokomotive für die Beheizung sorgte. Fast 70 Jahre später kam jetzt der Theaterzug der freien Compagnie „Das letzte Kleinod“ auf den Gleisanlagen des ehemaligen EKO Stahlwerks an. In und um die Waggons wird Heimatgeschichte aufgeführt. Die Produktion „Hotel Einheit“ erinnert an die edleren Hotelanlagen zu DDR-Zeiten, die nach der Wende oft ein trauriges Dasein fristeten oder wie im Falle des Hotels „Stadt Frankfurt“ in Frankfurt/Oder komplett abgerissen wurden.

Geschichten aus diesem Hotel sowie dem Hotel „Lunik“ in Eisenhüttenstadt, das noch erhalten, aber ziemlich verfallen ist, bilden die Grundlage der Inszenierung vom Kleinod-Gründer Jens-Erwin Siemssen. Siemssen stieß im letzten Jahr auf das „Lunik“. Ihn interessierte die Kluft zwischen dem über Jahrzehnte der Verwahrlosung preisgegebenen Gebäude und den meist schwärmerischen Erinnerungen der Eisenhütterstädter:innen an ihre Erlebnisse im einst ersten Haus der Stadt.

Jetzt in „Hotel Einheit“ lässt er in und vor den Bahnwaggons auf einem Gleisgelände des einstigen EKO-Stahlwerks die Hotelgeschichten von sechs Darsteller:innen vor allem aus der Perspektive der Angestellten erzählen. Es geht um den Drill, dem sich Servierkräfte unterziehen mussten, um Suppenteller ungefährdet an Tischen und Stühlen vorbei zum Bestimmungsort zu balancieren und um das fast militärisch anmutende Regime in der Küche.

Leiser, und gerade deshalb umso eindrücklicher, sind die Geschichten, die Kristina Günther erzählt. Sie bittet das in vier Gruppen geteilte Publikum in einen der Güterwaggons, der dann auch komplett geschlossen wird. In diesem intimen Raum stellt sie die Kleiderordnung der Servierkräfte vor, von den Strumpfhosen, die Pflicht waren bis zu den weißen Hemden und schwarzen Röcken, die allesamt selbst gekauft werden mussten. Die Genossen, die in den Restaurants speisten, wollten halt adrette Bedienungen sehen.

Günther lässt ihre Figur zudem von einer Beziehung mit einem Mann aus dem Westen berichten. Bei der Geburt des Kindes verschweigt sie den Vater. In ihrer Stasi-Akte findet sie nach der Wende heraus, wer sie deshalb alles bespitzelte. Und noch zu DDR-Zeiten müssen sie, ihre Eltern und ihr Sohn Repressalien wegen dieser Beziehung erleiden.

Auch die lustigeren Begebenheiten kommen zur Sprache. Die internationalen Delegationen etwa, denen vom „Lunik“ aus die sozialistische Musterstadt gezeigt wurde. Sowjetfahnen werden dafür herausgeholt, auch ein paar DDR-Fahnen geschwenkt. Und als dann noch das durch sowjetische Armeekapellen einst landauf, landab gespielte Lied „Kalinka“ angestimmt wird, tanzt auch das Publikum ganz beseelt mit. Ebenso, als alte Schlagerhits aus dem Osten erklingen wie Monika Herz‘ „Kleiner Vogel“. Die stammt übrigens aus der Region, hatte frühe Auftritte auch im „Lunik“.

Auf den verschiedenen Stationen im Osten – nach dem Auftakt in Eisenhüttenstadt geht es weiter nach Frankfurt/Oder, Fürstenwalde, Salzwedel, Stendal und Magdeburg – soll die Inszenierung um lokale Episoden angereichert werden, erzählt Regisseur Siemssen. Juliane Lenssen, mit Siemssen Mitbegründerin des Eisenbahntheaters, ist überzeugt, dass das Thema auch an den Spielorten im Westen auf Interesse stößt. „Dinge, die man verloren hat, die es nicht mehr gibt – das hat man überall. Und an den Orten, an denen wir öfter waren, kommen die Leute ohnehin, um uns zu sehen“, sagt sie Theater der Zeit. Vor der Derniere im Heimatort Geestenseth bei Bremerhaven am 15. September sind Auftritte in Braunschweig und Worpswede geplant.

Seit nunmehr über 20 Jahren zieht der Theaterzug durch das gesamte Land, war mit Gastspielen auch schon auf polnischen und niederländischen Schienenwegen unterwegs. Die Idee dazu hatte Siemssen bereits in den 1990er Jahren. Als die Deutsche Bahn ihre Reparaturkapazitäten abbaute und deshalb die Waggons, die als Unterkünfte für Gleisbauarbeiter dienten, verkaufte, schlug er zu. Mittlerweile gehören neun Personenwaggons, ein geschlossener und ein flacher Güterwaggon zur Compagnie. Dort befinden sich Unterkünfte für die Künstler:innen. Auch einen Küchen- und Speisewaggon gibt es, ein Werkstattwagen, der so gut ausgerüstet ist, dass auch mal herabgefallene Bäume von den Gleisen geräumt werden können sowie Waggons, die als Bühne genutzt werden. Bei größerem Raumbedarf werden weitere Waggons gemietet. Für den Transport des gesamten Zugs wird eine Lok inclusive Lokführer von der Bahn gechartert.

Als Eisenbahntheater ist „Das letzte Kleinod“ einmalig in Deutschland. Angesichts steigender Immobilienpreise scheint die Schienenmobilität eine interessante Alternative auch für Theaterkünstler:innen. Wichtig ist aber auch ein Bahnhof, an dem der Zug außerhalb der Tournees zu Hause ist, warnt Siemssen. Bevor er die Waggons hatte, war er sich mit der Gemeinde Geestenseth über die Bahnhofsnutzung einig. Und mittlerweile profitieren auch ostdeutsche Städte, in denen Hotels abgebaut und Theaterensembles oft aufgelöst wurden, von der Idee.

Erschienen am 7.8.2024

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