III. Stanislawski und die Folgen
Von den physischen Handlungen
Quelle 8
von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel
Arkadij Nikolajewitsch sprach wiederum zu uns über die psychotechnische Methode, das „Leben des menschlichen Geistes der Rolle“ durch deren „menschliches Körperleben“ zu schaffen. Seine Gedanken erläuterte er wie immer an Hand von Gleichnissen.
„Haben Sie einmal eine Reise gemacht?“ fragte er und fuhr fort: „Wenn das der Fall ist, dann sind Ihnen die Veränderungen, die während der Fahrt sowohl in der Seele des Reisenden als auch in seiner Umgebung vor sich gehen, wohl bekannt. Haben Sie bemerkt, daß sogar der Zug, in dem Sie sitzen, sich während der Fahrt – je nach den Ländern, die Sie durcheilen – verwandelt, und zwar sowohl innen als auch außen?
Bei der Abfahrt sieht der in der Wintersonne glänzende Waggon wie neu aus. Auf dem Dache liegt dichter Schnee. Man könnte meinen, er wäre mit einem reinen Tischtuch bedeckt. Drinnen aber ist es winterlich düster. Kaum dringt das Tageslicht durch die zugefrorenen Fensterscheiben. Der Abschied von den Lieben, die Sie an die Bahn brachten, legt sich Ihnen auf das Gemüt. Trübe Gedanken bemächtigen sich Ihrer. Sie denken an die, welche Sie zurückgelassen haben.
Das Schaukeln des Wagens und das Stampfen der Räder wirken einschläfernd. Es dämmert. Der Schlaf überkommt Sie. Tag und Nacht vergehen. Sie fahren nach dem Süden. Draußen vollzieht sich eine große Wandlung. Der Schnee ist schon getaut. Immer neue Landschaften ziehen am Fenster vorbei. Es regnet. Im Waggon aber ist es schwül. Die Heizung ist immer noch auf den Winter eingestellt. Die Zusammensetzung der Mitreisenden hat sich geändert. Man hört andere Mundart, andere Gespräche und sieht andere Kleidung.
Nur der Schienenweg ändert sich nicht. Er ist immer der gleiche und zieht sich endlos dahin. Immerzu gleiten Telegraphenmasken, Kilometersteine und Bahnsignale vorüber.
Nach weiteren 24 Stunden erfolgt eine neue Verwandlung. Der Waggon rollt durch eine Sandgegend. Dach, Außenwände und Fenster sind mit weißem |125|Staub bedeckt. Die Umgebung aber glänzt im strahlenden Licht der wärmenden Frühlingssonne. Die Knospen grünen, die Wiesen duften, und es wird einem leicht ums Herz.
In der Ferne, am Horizont, sieht man die Silhouetten von Hügeln und Bergen. Die Bäche, die der Frühling in Ströme verwandelt hat, brausen stürmisch dahin. Gerade hat sich ein Gewitter ausgetobt. Der Staub ist niedergeschlagen. Die Natur ist erfrischt. Wohlgeruch schwebt in der wundervollen Luft. Der Sommer mit Wärme und Erholung steht vor der Tür.
Die sich dahinziehenden Schienen aber sind unverändert. Laßt sie nur! Kommt es etwa auf sie an? Sie werden zwar gebraucht, aber nur insofern, als man sich auf ihnen vorwärts bewegen kann.
Nicht die Schienen, sondern deren Umgebung und das Innere des Waggons interessieren den Reisenden. Wenn man Eisenbahn fährt, kommt man immer wieder in neue Gegenden, empfängt immer wieder neue Eindrücke. Man erlebt sie, läßt sich von ihnen begeistern oder betrüben. Sie regen auf, ändern die Stimmung des Reisenden von Minute zu Minute und verwandeln ihn selbst. Das gleiche geschieht auch auf der Bühne. Was aber tritt dort an die Stelle der ‚Schienen‘? Woraus soll man sie herstellen? Wie soll man sich auf ihnen durch das ganze Stück bewegen?
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß es das beste ist, die echten, lebendigen Gefühle als Schienen zu benutzen. Sie sollen uns führen. Das seelische Material aber ist nicht greifbar. Es läßt sich schlecht festhalten. Man kann aus ihm keine soliden ‚Schienen‘ machen. Man braucht dazu ‚materielleres‘ Material. Am ehesten scheinen dafür ‚physische‘ Aufgaben geeignet. Sie werden durch den Körper ausgeführt, der unvergleichlich stabiler ist als unser Gefühl.
Nachdem der Schienenweg fertig ist, steigen Sie bitte ein und begeben sich auf die Reise, um neue Länder zu erforschen, nämlich das Leben des Theaterstücks. Sie werden sich bewegen und nicht auf der Stelle verharren und nur Kopfarbeit leisten. Sie werden handeln. Nur so können Sie das Leben des Stücks richtig beurteilen und es gründlich verstehen. Alles wird an Kleiderhaken aufgehängt beziehungsweise in die richtigen Fächer verstaut werden. Bei solchem Zustande wird schon ein geringes schöpferisches Selbstgefühl bei Ihnen erzeugt werden. Wie der Reisende das Eisenbahngleis, |126|so brauchen wir eine sich wie ein Schienenweg ununterbrochen hinziehende Linie der physischen Handlungen. Wie das Gleis durch Bolzen und Schwellen zusammengehalten wird, so findet die Linie der physischen Handlungen ihren Halt an bestimmten und kräftigen Aufgaben.
Ganz genau so, wie der Reisende auf den Schienen durch verschiedene Länder fährt, bewegt sich der Schauspieler vermittels der physischen Handlungen durch das ganze Stück, durch seine gegebenen Umstände, durch seine ‚wenns‘1 und durch andere Erfindungen der Einbildungskraft. Dabei geraten wir ähnlich dem Reisenden auf unserem Weg in die verschiedenartigsten äußeren Verhältnisse, die in uns die verschiedenartigsten Stimmungen hervorrufen.
Im Leben des Stücks, auf der Bühne, kommt der Schauspieler mit neuen Menschen zusammen, mit den handelnden Personen, den Partnern im Stück. Er lebt mit ihnen ein gemeinsames Leben, wodurch entsprechende Erlebnisse hervorgerufen werden.
Aber diese Erlebnisse kann man nicht festhalten. Deshalb muß man sich in der Anfangsperiode des Schaffens, um sich nicht in den komplizierten Windungen des Stücks zu verirren, an die deutliche, kräftige Linie der physischen Handlungen halten.
Wir brauchen sie nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als einen dauerhaften Weg, auf dem man im Schauspielerleben so sicher auf der Bühne vorwärtsschreiten kann, wie sich der Zug auf Schienen voranbewegt.
Wie den Reisenden nicht die Schienen, auf denen er dahinfliegt, als solche interessieren, sondern die Länder und Gegenden, die die Eisenbahnstrecke berührt, ganz genau so interessieren den Schauspieler in unserem schöpferischen Streben nicht die physischen Handlungen als solche, sondern die inneren Bedingungen und Verhältnisse, durch die das Außenleben der Rolle gerechtfertigt wird. Wir brauchen schöne Erfindungen der Einbildungskraft, |127|durch die das Auftreten der dargestellten Person belebt wird, das heißt Gefühlsregungen, die im Herzen des schöpferischen Künstlermenschen erzeugt werden. Wir brauchen begeisternde Rollenaufgaben, die vor uns stehen, wenn wir das ganze Stück durchgehen.
Wie aber kann man diesen einzig richtigen Weg unter vielen anderen – nicht richtigen – herausfinden? Vor dem Schauspieler breitet sich – wie vor einem Betrachter auf einem großen Eisenbahnknotenpunkt die Menge der Gleise – eine große Anzahl verschiedener Wege aus (solche des Erlebnisses, der Vorstellung, der handwerksmäßigen Routine, der Schauspielertricks, der Deklamation, des Sich-zur-Schau-Stellens und andere). Wählt man den richtigen Weg, dann erreicht man das Ziel, wählt man den falschen, dann landet man statt in der Kunst im Sumpfe der schauspielerischen Mache und Affektiertheit. Das bedeutet dasselbe, als ob man sich auf dem Knotenpunkt in den falschen Zug setzt und plötzlich in Zarewo Kokschaisk statt in Moskau befindet. Es ist nicht leicht, sich unter den Schienenwegen eines Eisenbahnknotenpunkts zurechtzufinden, noch schwerer aber ist es, in sich selbst die richtigen Wege für jede Rolle gefühlsmäßig zu erfassen, Wege, die zum wahren Schöpfertum und echter Kunst führen. Es ist wie mit den Schienen auf dem Eisenbahnknotenpunkt, auch diese laufen nebeneinander her, gehen auseinander, kommen zusammen, kreuzen und schneiden sich. Man merkt gar nicht, wie man von dem einen Gleis, dem richtigen, auf das andere, das falsche, gerät.
Um das zu verhindern, müssen Sie sich auf dem deutlichen Gleis der physischen Aufgaben vorwärtsbewegen. Vergessen Sie auch nicht, an den Stellen, wo zwei oder mehrere Gleise zusammentreffen, einen erfahrenen, aufmerksamen, gut disziplinierten ‚Weichensteller‘ einzuschalten.
In unserem Falle wäre mit dieser wichtigen Rolle das Wahrheitsgefühl zu betrauen.
Es soll die Arbeit des Schauspielers ständig auf das richtige Gleis leiten.“
Arkadij Nikolajewitsch schwieg. Er trat eine Pause ein.
Plötzlich hörte man in der Stille die Brummstimme Goworkows:
„Gratuliere!“ brummte er kaum verständlich. „Habt Ihr‘s gehört? Wir sind glücklich beim Eisenbahnverkehr in der Kunst angekommen.“
„Was sagen Sie da“, fragte ihn Torzow.
|128|„Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, sage ich, daß echte Künstler nicht im Waggon auf der Erde dahinkriechen. Sie schweben im Flugzeug über den Wolken, verstehen Sie?“ Es war schon beinahe ein Deklamieren mit Feuer und Pathos, wie Goworkow das sagte.
„Ihr Vergleich gefällt mir“, sagte Arkadij Nikolajewitsch mit leichtem Lächeln. „Wir werden darüber ausführlich in der nächsten Stunde sprechen.“
*
„Der Tragöde braucht also ein Flugzeug, das über den Wolken schwebt, und nicht einen Waggon, der auf der Erde rollt.“ Mit diesen Worten wandte sich Arkadij Nikolajewitsch an Goworkow, als er heute die Klasse betrat.
„Jawohl, ein Flugzeug braucht er“, bestätigte unser Tragöde.
„Nur muß man leider, bevor man sich in die Luft erhebt, eine gewisse Zeit auf dem harten Boden des Flugplatzes dahinrollen“, bemerkte Arkadij Nikolajewitsch.
„So kann man also, wie Sie sehen, um in der Luft zu schweben, die Erde unter keinen Umständen entbehren. Sie wird von den Piloten genau so benötigt wie die Linie der physischen Handlungen von den Schauspielern bei ihrem unmerklichen Übergang in die höheren Regionen. Oder könnten Sie vielleicht direkt ohne Anlauf auf der Erde senkrecht in die Wolken hinauffliegen? Man sagt zwar, daß die Mechanik schon so weit sei, unsere schauspielerische Tätigkeit aber kennt noch kein Mittel, um in das Gebiet des Unterbewußtseins auf gerader Linie einzudringen. Ja, wenn ein Wirbelsturm der Begeisterung, der Eingebung ausbricht, dann vermag er, unser ‚schöpferisches Flugzeug‘ senkrecht bis zu den Wolken hinaufzutragen ohne jeden Anlauf auf der Erde. Unglücklicherweise hängen Höhenflüge dieser Art nicht von unserem Willen ab, und wir können sie nicht in Regeln zwängen. Uns ist nur möglich, den Boden zu bereiten, Schienen zu legen, das heißt physische Handlungen zu schaffen, die an Wahrheit und Überzeugungskraft ihren Halt finden.
Sie sehen also, daß man auch auf unserem Arbeitsgebiet bei Höhenflügen nicht die ‚Erde‘ entbehren kann.
|129|Bei den Flugzeugen beginnt der Flug in dem Moment, wo die Maschine sich vom Boden löst. Bei uns beginnt das Erhabene dort, wo das Reale, ja sogar das Ultranatürliche aufhört.“
„Was sagten Sie?“ fragte ich dazwischen, um das schriftlich festhalten zu können.
„Mit dem Worte ultranatürlich“, erklärte Arkadij Nikolajewitsch, „bezeichne ich denjenigen Zustand unserer seelischen und physischen Natur, den wir als vollkommen, natürlich und normal ansehen und dem wir aufrichtiges Vertrauen schenken. Nur in solchem Zustande geht das verborgenste Innere unseres Herzens weit auf und kommen kaum wahrnehmbare Anspielungen, Nuancen und Aromen echten, organischen, schöpferischen Gefühls zum Vorschein, eines Gefühls, das scheu und peinlich korrekt ist.“
„Heißt das, daß diese Gefühle nur dann entstehen, wenn der Schauspieler an die Normalität und Richtigkeit der Handlungen der physischen Natur glaubt?“ fragte ich wieder.
„Ja! Das Innerste unseres Herzens geht nur dann weit auf, wenn die inneren und äußeren Erlebnisse des Schauspielers nach ihren Gesetzen verlaufen, wenn absolut keine Gewaltanwendung, keine Abweichung von der Norm erfolgt, wenn alles bis zu den äußersten Grenzen des durch und durch Ultranatürlichen Wahrheit ist.
Man braucht nur im geringsten das normale Leben unserer Natur zu stören, und schon gehen die unmerklichen Feinheiten des unterbewußten Erlebens verloren.
Deshalb fürchten erfahrene Schauspieler mit gut entwickelter psychischer Technik auf der Bühne nicht nur die kleinste Entgleisung und Heuchelei des Gefühls, sondern auch die äußere Unwahrheit der physischen Handlung. Um das Gefühl nicht einzuschüchtern, denken sie gar nicht an das innere Erlebnis, sondern konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf das ‚Leben ihres menschlichen Körpers‘. Dadurch wird auf natürliche Weise von selbst das ‚Leben des menschlichen Geistes‘ geschaffen, und zwar sowohl das bewußte, als auch das unbewußte.“
„Aus dem Gesagten geht klar hervor“, resümierte Torzow, „daß wir die Wahrheit der physischen Handlungen und den Glauben an sie nicht um des Realismus oder Naturalismus willen brauchen, sondern um auf natürliche |130|Weise reflektorisch in uns die seelischen Erlebnisse der Rolle zu wecken, um unser Gefühl nicht einzuschüchtern und zu vergewaltigen, um seine Aktivität, Unmittelbarkeit und Reinheit zu erhalten und auf der Bühne das lebendige, menschliche Wesen der dargestellten Person wiederzugeben.“
„Aus diesem Grunde rate ich Ihnen, weder beim Höhenflug auf die Erde noch beim Flug in das Reich des Unbewußten auf die physischen Handlungen zu verzichten.“ Mit diesen Worten wandte sich Arkadij Nikolajewitsch an Goworkow.
„Doch genügt es nicht allein, in die Höhe zu fliegen, man muß sich dort auch orientieren können“, fuhr Torzow fort, „denn dort im Reiche des Unbewußten gibt es ähnlich wie in den höheren Luftsphären weder Gleise noch Schienen oder Weichenwärter. Man kann sich dort also leicht verirren und einen falschen Kurs nehmen. Wie sollen wir uns also in dem uns unbekannten Reich orientieren? Wie sollen wir unsere Gefühlswelt lenken, wo doch das Bewußtsein dort nicht hinkommt? In der Luftfahrt sendet man in die unerreichbaren Sphären Radiowellen und lenkt mit ihrer Hilfe das hoch oben schwebende Flugzeug von der Erde aus. Wie machen in unserer Kunst etwas Ähnliches. Wenn das Gefühl in das dem Bewußtsein unzugängliche Reich eindringt, wirken wir mit Hilfe von Erregern und Lockrufen mittelbar auf die Emotion ein. Sie enthalten eine Art ‚Radiowellen‘, die auf die Intuition einwirken und Reaktionen des Gefühls hervorrufen. Zu gegebener Zeit werden wir darüber noch sprechen.“ Den Schluß des Unterrichts schreibe ich nicht nieder, da er durch einen überflüssigen Streit Goworkows verdorben wurde. Infolge der Abwesenheit Iwan Platonowitschs schlug er über die Stränge.
Heute fand im Konversationszimmer ein interessantes Gespräch Arkadij Nikolajewitschs mit den Schauspielern über sein neues Verfahren statt. Es handelt sich darum, vermittels der physischen Handlungen an die Rolle heranzugehen.
Es erweist sich, daß bei weitem nicht alle in der Truppe dieses Neue in der Kunst annehmen, wie es auch mit vielen anderen Neuheiten der Fall ist. Es gibt viele Rückschrittler, die sich fest an das Alte klammern und das Neue nicht an sich herankommen lassen.
|131|„Wenn ich mit fertigen Schauspielern wie Ihnen spreche, ist es für mich bequemer, von hinten anzufangen“, sagte Arkadij Nikolajewitsch. „Sie wissen, wie dem schaffenden Schauspieler in der von ihm erarbeiteten fertigen Rolle zumute ist. Die Schauspielschüler aber wissen das nicht. Vertiefen Sie sich in sich selbst, denken Sie nach, horchen Sie in sich hinein und erinnern Sie sich einer vielmals gespielten Rolle, die sich Ihnen gut eingeprägt hat, und dann sagen Sie: Womit sind Sie beschäftigt, worauf bereiten Sie sich vor, was steht Ihnen vor Augen, welche Aufgaben und Handlungen locken Sie, wenn Sie aus der Garderobe auf die Bühne gehen, um eine wohlbekannte Rolle zu spielen.
Ich spreche nicht von den Schauspielern, die ihren Rollenplan auf einfachen handwerksmäßigen ‚Tricks‘ und ‚Kunststücken‘ aufbauen. Ich habe vielmehr ernsthafte, schöpferische Schauspieler im Auge.“
„Wenn ich auf die Bühne gehe“, sagte einer der Schauspieler, „dann denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausführung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe, denke ich an die dritte, vierte und so weiter.“
„Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine fast endlose Landstraße dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe“, sagte ein alter Schauspieler.
„Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?“ fragte Torzow.
„Indem ich logisch eine Aufgabe nach der anderen erfülle.“
„Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das Endziel heran, nicht wahr?“ forschte Arkadij Nikolajewitsch.
„Natürlich. Und so mache ich es in jeder Rolle.“
„Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?“ fragte Torzow, die vermutete Antwort vorausnehmend.
„So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen gekommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stücks und der Rolle nennen.“
„Was sind diese? Sind es feine psychologische Handlungen?“
„Natürlich. Aber vom häufigen Erleben durch den unlösbaren Zusammenhang mit dem Leben der ganzen Rolle hat die Psychologie |132|‚Fleisch‘ angesetzt, durch das man zum inneren Wesen des Gefühls kommt.“
„Sagen Sie mal, warum das so ist?“ forschte Torzow.
„Mir erscheint das ganz natürlich. ‚Das Fleisch‘ ist leichter wahrnehmbar, faßbar. Man braucht nur etwas logisch und folgerichtig zu tun, und das Gefühl stellt sich nach der Handlung von selbst ein.“
„So ist es“, warf Torzow bei diesen Worten ein, „das, womit Sie abschließen, nämlich mit der einfachen phychischen Handlung, ist gerade das, womit wir beginnen. Sie haben selbst gesagt, daß die äußerliche Handlung, das Leben des Körpers, leichter wahrnehmbar ist. Ist es also nicht besser, das Erarbeiten der Rolle auch damit zu beginnen, was leichter wahrnehmbar ist, das heißt mit der physischen Handlung, mit der ganzen ununterbrochenen Linie dieser Handlungen und letzten Endes mit dem ganzen ‚Leben des menschlichen Körpers‘? Sie sagen, daß das Gefühl auf die Handlung in einer fertigen, gut erarbeiteten Rolle folgt. Aber auch am Anfang in der noch nicht erarbeiteten Rolle folgt das Gefühl der Linie der logischen Handlungen. Also locken Sie sie doch gleich am Anfang heraus! Warum das Gefühl quälen und kneten? Wozu monatelang am Tisch sitzen und das schlummernde Gefühl herausquetschen? Warum es zwingen, das Leben ohne Handlung zu beginnen? Gehen Sie lieber auf die Bühne und handeln Sie sofort, das heißt, führen Sie das aus, was Sie im gegebenen Augenblick leisten können. Auf die Handlung folgt von selbst auf natürliche Weise und in ununterbrochenem Zusammenhang mit dem Körper dasjenige, was im gegebenen Moment dem Gefühl zugänglich ist.“
Ferner erläuterte Arkadij Nikolajewitsch die Theorie seines Verfahrens, die uns nunmehr vertraut und so klar und verständlich ist, die uns so faßlich und leicht erscheint, nachdem wir die Logik und Folgerichtigkeit der Handlung und die Technik der Handlungen mit vorgestellten Gegenständen beherrschen.
Mir, dem Schüler, schien es seltsam, daß alte Schauspieler eine einfache und natürliche Wahrheit nicht begreifen und sich so schwer zu eigen machen.
„Wie ist es nur möglich“, dachte ich mir, „daß diese Wahrheit, die wir Schüler nun schon drei volle Jahre studieren, erst jetzt zu der Truppe, zu den großen Schauspielern durchgedrungen ist?“
|133|„Das Tempo, die Arbeit, die Termine der Inszenierungen und Kürzung des Stücks, das Repertoire, die Proben, die Aufführungen, die Doppelbesetzungen der Rollen, die Vertretung von Kollegen, die Konzerte und Pfuscherei decken das ganze Leben des Schauspielers förmlich zu. Er ist gleichsam von einem Rauchschleier umgeben, der ihn hindert zu sehen, was in der Kunst vor sich geht. Ihr Schüler aber, ihr Glückspilze, könnt Euch in ihr baden“, sagte nur ein junger Pessimist, der stark im Repertoire des Theaters in Anspruch genommen war.
Doch auf ihn sind wir, die Schüler, neidisch.
Konstantin S. Stanislawski: „Von den physischen Handlungen“, in: Theater der Zeit, Heft 4/1951, S. 4 – 8 sowie in: Der schauspielerische Weg zur Rolle von K. S. Stanislawski, W. Prokofjew, W. Toporkow, B. Sachawa, G. Gurjew, Henschel Verlag, Berlin 1952.
Diesen Begriff „Wenn“ haben wir in anderen Übersetzungen mit „Als ob“ wiedergegeben. „Wenn“ und „Als ob“ sind zwei Stufen in dem Vorgang der Aktivierung des Gefühls, der den Schauspieler zum Handeln führt. Ausführlich spricht Stanislawski über diesen Punkt in der „Arbeit des Schauspielers an sich selbst“. Mit der Frage: „Wie würdest Du handeln, wenn Du Othello wärst, wenn Du als Othello in dieser Situation wärst?“… wird die aktive Vorstellungskraft angeregt und angelockt. Von hier aus kommt der Schauspieler zum „Ich will …“ Wenn der Schauspieler nun nach dieser seiner Vorstellungskraft und seinem Willen handelt, dann handelt er „als ob“. „Ich will handeln, als ob ich Othello wäre“, heißt die neue Stufe, „ich will die ‚vorgeschlagenen Situationen‘ als ‚gegebene Umstände‘ annehmen, so –‚als ob‘ sie Wirklichkeit wären.“