Theater der Zeit

Castorf Welt

Gefräßige Bilderverschlinger

Die beiden Gründer der New Yorker Big Art Group Caden Manson und Jemma Nelson im Gespräch mit Matt Cornish

von Matt Cornish und Big Art Group

Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)

Assoziationen: Nordamerika Frank Castorf

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Matt Cornish: Caden Manson, Jemma Nelson, bereits in euren frühen Produktionen „Shelf Life“ (2001) und „Flicker“ (2002) stand der Einsatz von Medien im Fokus. Ihr installiertet einen Bildschirm zwischen Zuschauer und Bühne sowie drei feststehende Kameras, die auf die Performer gerichtet waren. Diese bewegten sich ständig ins Bild und aus dem Bild heraus. Ihr nanntet das real time film (Echtzeitfilm). Die beiden Produktionen tourten weltweit und machten so auch am Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin Station. Während dieser Tour hattet ihr das erste Mal die Gelegenheit, an der Volksbühne eine Inszenierung von Frank Castorf zu sehen, der mit seinen Arbeiten noch nie in den USA zu Gast war. Was waren eure Eindrücke?
Caden Manson / Jemma Nelson: Wir gastierten bereits zum zweiten Mal am HAU, mit „Shelf Life“, als wir unsere erste Arbeit von Castorf sahen. Matthias Lilienthal hatte uns gesagt, dass wir uns unbedingt mal eine Inszenierung von ihm an - schauen müssten. Also sahen wir uns „Erniedrigte und Be leidigte“ an. Wir waren sofort elektrisiert, zunächst von der Szenografie, dann vom Spiel. Bert Neumans Bühnenbild verdeckte die Schauspieler über lange Strecken, so dass wir gezwungen waren, einen Großteil der Handlung über Live-Video zu verfolgen. Das fesselte uns sofort und fühlte sich sehr zeitgenössisch an. Umso überraschender wurde es, als sich die Bühne anfing zu drehen und die Innenräume sichtbar wurden; eine Diskrepanz entstand zwischen den per Film vermittelten Aktionen und der Live-Handlung. Während der folgenden zehn Jahre waren wir immer wieder mit Gastspielen am HAU und sahen andere Produktionen von Castorf wie „Der Idiot“, „Forever Young“, „Berlin Alexanderplatz“ und „Die Brüder Karamasow“.

Hat das, was ihr an der Volksbühne gesehen habt, eure eigene Vorstellung davon, was im Theater möglich ist, beeinflusst?
In den Staaten ist es extrem schwierig, ein Ensemble aufrechtzuerhalten (hauptsächlich aufgrund der Finanzierung). Wir bewundern das Ensemble der Volksbühne und den Willen der Schauspieler, auf der Bühne alles zu riskieren, sehr. Dieses Wissen, dass so etwas möglich ist, befeuerte unsere Entschlossenheit, um die Existenz der Big Art Group und des Ensembles zu kämpfen und weiter zu experimentieren. Auch hat es uns dazu angetrieben, auf der Bühne physisch und inhaltlich mehr zu riskieren. Wir fühlen eine große Affinität zu Castorfs Arbeit, zu der Art und Weise, wie er das Treibgut und das Geröll aus Pop- und Hochkultur durchsiebt und daraus etwas komplett Neues formt, im Bestreben, eine zeitgenössische Sprache zu finden – trotz oder gerade wegen der Ver -gangenheit. Castorf hat einen komplett anderen kulturell-geschichtlichen Hintergrund als wir, aber die Kraft seiner Arbeit gab unserer eigenen Antrieb.

In späteren Produktionen der Big Art Group nahm der Einsatz von Screens und Kameras immer mehr zu. In „House of No More“ (2004) beispielsweise – das als eine Reaktion auf die Kriege der USA in Afghanistan und dem Irak gelesen werden kann – untersuchte die Gruppe, wie Bilder und Weltanschauungen konstruiert werden und sich dabei gegenseitig beeinflussen. In „SOS“ (2008), einer vielschichtigen Collage mit drei sich überlappenden, non-linearen Handlungssträngen, kam euer Medieneinsatz dann zu einem Höhepunkt. Glaubt ihr, dass diese Erfahrung von Überlastung, von parallelen Sinneseindrücken durch Castorfs Theater beeinflusst war? Bei ihm wird dem Zuschauer ja die schwere Last auferlegt, sich seine eigenen Erklärungen zu suchen zu dem, was auf der Bühne passiert. Inwiefern ist die Verdichtung von Medien in „House of No More“ und „SOS“ für euch ein politischer Akt?
Die Arbeiten unserer Kompanie bewegen sich im zeitgenössischen Strom von Performance im erweiterten Sinn: Traditionelle Narrative sowie das herkömmliche Verhältnis zwischen Performer und Zuschauer werden aufgebrochen, um Raum für innovative Entdeckungen zu schaffen. Die Performances der Big Art Group verwandeln Zuschauer in aktive Teilnehmer des Prozesses, in Koautoren, indem sie dazu aufgefordert werden, komplexe Fragen von Sexualität, race, Narration und Wahrheit zu lösen. So entsteht ein theatraler Spiegel für die Navigationsprozesse durch die heutige Gesellschaft. „House of No More“, „Dead Set“ und „SOS“ sind aus dem Bestreben heraus entstanden, der amerikanischen Informationsindustrie zu widerstehen, sie zu unterwandern, auszuhöhlen, zu kontrollieren oder zu ignorieren. Für uns ist das Entwickeln, Proben, Produzieren und Spielen auf der Bühne ein Weg, den kontinuierlichen Kampf gegen Kräfte, die alles fressen wollen beziehungsweise können, aufrechtzuerhalten.

Wie rezipiert ihr die Sprache in Castorfs Inszenierungen, die ja sehr dicht, sehr philosophisch, und sehr schwierig zu entschlüsseln ist für Nicht-Muttersprachler?
Gesprochen verstehen wir Deutsch recht gut. Hin und wieder waren Freunde dabei, die uns die Übersetzung ins Ohr geflüstert haben. Manchmal waren wir auch allein. Aber egal in welcher Situation: Wir „lesen“ Performances, nicht nur die von Castorf, sondern auch unsere eigenen und die anderer Theatermacher. Mit lesen meinen wir das Analysieren des Informationsstroms, der einen als Zuschauer erreicht, das Vergleichen von Referenzen und Wendepunkten sowie das Beurteilen von Bedeutungen und Momenten von Wahrheit, die in Echtzeit entsteht. Für uns setzt sich Castorfs Sprache aus der Gesamtheit seiner Produktionen zusammen, aus den Stimmen, den Sounds, der Architektur, der Dauer.

Ihr beschreibt euch beide als „gefräßige Bilderverschlinger“. Castorfs Inszenierungen liefern dafür ja ein sehr reichhaltiges Buffet. Wie konsumiert ihr seine Tableaus, Videos und wilden Aktionen?
Die Bilder ragen bedrohlich vor einem auf, pulsierend, übersättigt oder sogar überbelichtet. Sie bestehen aus Nahaufnahmen von schwitzenden, fleischigen Schauspielern. Die Verwendung der Videos hebt die fortlaufende Arbeit des Inszenierens hervor, den menschlichen Zoll des Geschichtenerzählens und die Politik der Körper.

Wie wird diese Arbeit – eure Arbeit als Regisseure, die Arbeit der Schauspieler auf der Bühne – in euren Produktionen sichtbar?
Im real time film (in „Shelf Life“, „Flicker“ und „House of No More“) besteht die performative Situation aus einem doppelten Ereignis: dem Film und dem Making-Off des Films auf der Bühne; die Schauspieler bemühen sich, ein möglichst nahtloses Breitbandbild zu kreieren, das in mehrerer Teile zerfällt: sie verbinden die Körperteile verschiedener Personen zu einer einzigen Figur, die von jedem und keinem kontrolliert wird, während sie mit anderen hybriden Figuren interagieren. Filmische Einstellungen – Zoom, Kamerafahrten, Schwenks – werden nicht von den Kameras ausgeführt, sondern von den Performern, indem sie sich und die Szenerie bewegen und so diese Mechanismen simulieren. Soundeffekte und Regieanweisungen werden als Live-Geräusche und Begleitmusik in Echtzeit wiedergegeben; die Requisiten bestehen aus zusammengeklebten Werbeanzeigen; Video-Operateure stehen an der Bühnenrampe, um Aufmerksamkeit auf den Herstellungsprozess zu lenken. Das Publikum entscheidet, welche Information es bevorzugt: ob es an eine konventionelle Narration glaubt oder sich stattdessen eine Metaerzählung aufbaut.

Castorf ist, besonders im Ausland, berühmt für seine Live-Video-Technik, für Kameras, die die Schauspieler durch labyrinthische Räume jagen. Über das Video haben wir gesprochen, aber gibt es auch etwas, das euch speziell an den Schauspielern gefallen hat? Seht ihr Ähnlichkeiten zur Spielweise der Performer der Big Art Group?
Was wir an den Schauspielern der Volksbühne bewundern, ist ihre absolute Hingabe an den Augenblick und an das Scheitern. Ihre Technik und Präzision, sich physisch und emotional zu verausgaben, war spannend zu erleben und hat tatsächlich unsere Ensemblearbeit beeinflusst. Auch unser Ensemble ist bestrebt, alles auf der Bühne zu geben. Wir haben in Castorfs Stil eine vergleichbare Beharrlichkeit entdeckt, etablierte Werte anzugreifen und den Fokus auf „ausrangierte“ Ästhetiken zu legen, um so Arbeitsbedingungen und soziale Machtverhältnisse zu kritisieren. Die Körper auf unserer Bühne reflektieren fließende Identitäten, fließende Konstruktionen von race, Gender und Sexualität sowie zugleich die Arbeit und die Gefahr, die es bedeutet, solche „Abweichungen“ oder „Monster“ der Codes und Codierungen zu verkörpern.

Ihr erzähltet vorhin, dass ihr auch „Forever Young“ gesehen habt, Castorfs Adaption von Tennessee Williams „Süßer Vogel Jugend“, eine Art Pastiche der amerikanischen Konsumkultur. In „Der Idiot“ und kürzlich in „Die Brüder Karamasow“ thematisierte Castorf die westlichen Werte des Kapitalismus. Wie hat sich für euch unsere Kultur durch die Augen dieses Ostdeutschen dargestellt oder gar zerlegt?
Wir fühlen uns Charakteren sehr nah, die verliebt waren in das Trugbild des westlichen Kapitalismus (einst bekannt als der Traum), jedoch in einer seriengefertigten, fadenscheinigen, wegwerfbaren Zeltstadt leben, gebaut aus Planen und Schiffscontainern, so dass der Graben zwischen dem Versprechen und der Realität deutlich wird – was ja auch die Occupy-Bewegung thematisiert hat. Castorf zeigt das Reale als bloße Imitation – jenseits der theatralen Metapher – und das erinnerte uns an Freunde aus Ostdeutschland, die nach der Wiedervereinigung sagten, dass der Westen so leuchtend und neu erschien, bis man erleben musste, wie er in seiner ganzen Fadenscheinigkeit und Listigkeit zusammenbrach.

Kürzlich hatte ich die Möglichkeit, die Carnegie Mellon University (CMU) zu besuchen, wo du, Caden, Regieprofessor bist. Ich sah deine Produktion von „Herr der Fliegen“. Ich fand, dass diese Arbeit noch viel mehr, noch viel deutlicher von Castorfs Stil beeinflusst ist als die früheren Produktionen der Big Art Group: Beispielsweise hielten die Schauspieler, die nur zum Teil sichtbar oder sogar komplett durch das Bühnenbild verdeckt waren, lange Monologe vor Überwachungskameras. Was steckt hinter dieser Veränderung? Wirst du in Zukunft dieser ästhetischen Richtung folgen?
Manson: „Herr der Fliegen“ war keine Produktion der Big Art Group und repräsentiert daher nicht die künstlerische Recherche der Gruppe. Die CMU ist ein 102 Jahre altes Konservatorium und meine Aufgabe als Leiter des John Wells Directing MFA Program ist es, ein Technologie-basiertes Curriculum anzubieten und der Schule zu helfen, an zeitgenössische Performance-Methoden anzudocken. Mit dieser Produktion und in meiner Rolle als Lehrer wollte ich die Schule und die Studenten mit dieser Art von Arbeit bekannt machen; also zeigte ich ihnen die Medien- und Set-Designer Castorf und Neumann. Die Studenten haben das gut angenommen (wenngleich sie es nur durch sekundäre Quellen rezipieren konnten). Castorf und Neumann haben diese Art der Arbeit erfunden und weiterentwickelt. Mittlerweile hat sich dieser Stil verselbstständigt, ist überindividuell geworden. Nach 25 Jahren kann man sagen, dass Castorf und Neumann eine ganze Generation von Künstlern beeinflusst haben, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern überall in der Welt, Künstler wie Ivo van Hove, Daisuke Miura, Mariano Pensotti, Markus Öhrn, Katie Mitchell und viele andere. Auch wenn Castorf die Volksbühne verlässt, lebt das, was er der Theaterkunst gegeben hat, in so vielen Künstlern weltweit weiter. Wir sind dankbar, dass wir dessen ursprüngliche Kraft erlebt haben.

Aus dem Englischen von Dorte Lena Eilers.

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