Auftritt
Stuttgart: Sterben war gestern
Schauspiel Stuttgart: „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ von Clemens J. Setz (UA). Regie Nick Hartnagel, Bühne Yassu Yabara, Kostüme Tine Becker
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Baden-Württemberg Schauspiel Stuttgart
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Im Zeitalter virtuell konfigurierbarer Parallelwesen scheint sich die Grenze aufzulösen. Längst werden Webprofile Verstorbener von anderen weiterbetrieben. Postmortales Posten – kein Problem. Ewiges Leben im Netz? Clemens J. Setz konstruiert in seinem neuen Stück einen ähnlichen Fall: David, acht Jahre, ist bei einem Autounfall zu Tode gekommen. Seine Eltern haben das nie akzeptiert. Selbst drei Jahre danach halten sie ihr Kind noch immer künstlich am Leben. Wie? Sie managen, sprich: Sie faken Davids virtuelle Weiterexistenz, indem sie seine angeblichen Posts und Chats selbst einspeisen. Klar, dass um David und seine tapferen Eltern, die um sein Weiterleben kämpfen, längst ein Riesenmedienzirkus tobt. Likes, Hassbotschaften und TV-Shows zum Thema boomen. Möchtegern-Superstars sülzen Schnulzen dazu – etwa Melodierap mit Faust auf der Brust: „Für dich, David. Geh dein‘ Weg.“ Kurz, die David-Story ist viral ein Top-Hit in Sachen Rührungs- und Empörungsbewirtschaftung. Vor allem die Mutter gibt Interviews in Serie. Ihr Sohn lebe, sagt sie apodiktisch, er habe nur eine „extreme Form von Demenz“, verbunden mit „kognitiven Einschränkungen“. Sie will sogar Davids Teilnahme am Schulunterricht wieder durchsetzen.
Lebensverlängernde Maßnahmen im Web-Zeitalter? Es scheint so, als ob Büchner-Preisträger Clemens J. Setz in Zeiten von Avataren, KI und Fake-Accounts...
