Theater der Zeit

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Wölfin im Schafspelz

Nichts ist ungeheurer als der Mensch: die Schauspielerin Constanze Becker

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)

Assoziationen: Akteure

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Fast fürchtet man sich ein bisschen vor der Begegnung mit Constanze Becker. Zur Kunst von Schauspielern zählt zwar ganz wesentlich die Gabe der Verwandlung, und doch hinterlassen Rollen ja oft Spuren in der Persönlichkeit ihrer Darsteller oder umgekehrt: tragen Figuren Charakterzüge derer, die sie verkörpern. Constanze Becker hat trotz ihrer noch recht jungen Jahre (35 wird sie in diesem Monat) bereits eine stattliche Zahl furchterregender Frauen gespielt – die Klytaimnestra, die Antigone oder aktuell die Schrecklichste von allen: die Medea. Ganz angst und bang konnte es einem da jeweils werden vor dem überwältigenden, urgewaltigen Zorn dieser Weiber. Sollte deren megärenhafter Furor auch nur in Schwundstufen Wesensmerkmal von Constanze Becker selbst sein, es könnte ein ziemlich ungemütliches Zusammentreffen werden.

Es kommt dann aber natürlich ganz anders. Zum Interviewtermin in einem nüchternen Besprechungszimmer in den Eingeweiden des Frankfurter Schauspielhauses erscheint keine stolze Großschauspielerin, deren unumstrittener Status als größtes Tragödinnentalent ihrer Generation an Auftreten und Aussehen ablesbar wäre. Kein heiliger Ernst. Kein wie auch immer geartetes Divengehabe. Dagegen spricht allein schon das betont unglamouröse Outfit, vor allem Beckers zotteliger grauer Faserpelz, der es in seiner erschütternden Schlichtheit locker mit der Schmucklosigkeit des Raumes aufnehmen kann. Um es gerade heraus zu sagen: Constanze Becker wirkt fast schon ein bisschen zu normal. Hat irgendwer behauptet, sie sei kompliziert? Unvorstellbar. Nicht, dass sie im Gespräch die Herzlichkeit in Person wäre. Becker wahrt bei aller Umgänglichkeit Abstand. Und doch ist diese höfliche Distanz meilenweit entfernt von der Unnahbarkeit der antiken Dramenfiguren, die sie so unnachahmlich modern und zugleich archaisch kraftvoll auf die Bühne zu wuchten versteht.

Im Falle ihrer Medea unter der Regie von Michael Thalheimer wird dieser Eindruck der Unerreichbarkeit noch verstärkt durch das Bühnenbild von Olaf Altmann. Für die Tragödie des Euripides hat Altmann im ohnehin riesenhaften Frankfurter Schauspielhaus eine riesige Freifläche gelassen. Erst ganz hinten, kurz vor der Brandmauer, ist eine monumentale Wand hochgezogen, auf halber Höhe versehen mit einem schmalen Absatz. Dort droben, mit minimaler Bewegungsfreiheit und in maximaler Distanz zum Publikum, agiert Beckers Medea. Aus dieser sehr speziellen Situation habe sie ihre Figur entwickelt, erzählt die Schauspielerin: „Die gestischen und mimischen Ausdrucksmittel sind sehr vergröbert. Aus der Nähe würde das, was ich da mache, sicher sehr künstlich wirken. Aber in der Entfernung braucht es das, um innere Prozesse deutlich zu machen. Eigentlich habe ich dort hinten nur die Sprache.“ Doch selbst die wirkt wie geronnen zu einem elementaren Ausdruck, dessen Essenz der Schrei ist.

So wie Constanze Becker ihn wiederholt ausstößt, geht er (wiewohl gemildert durch die Hallwirkung im weiten, leeren Raum) dem Zuschauer durch Mark und Bein. Es ist ein Urschrei ganz ohne die therapeutische Wirkung, die diesem aus Zwerchfelltiefe hervorgeholten Befreiungslaut sonst gern zugeschrieben wird. Medeas Schmerz ist unheilbar. Die Rache an Ehemann Jason – der grausame Mord an den gemeinsamen Kindern – bringt keine Linderung. Sie ist eher Symptom, logische Folge der ausweglosen Lage Medeas, die ihre Heimat und Familie verraten und verlassen hat für Jason, der sie nun seinerseits verlässt. Constanze Beckers Spiel heischt nicht nach Mitleid für die mordende Mutter, aber sie zwingt dem Zuschauer die Einsicht in die Notwendigkeit von deren Tun förmlich auf. Becker selbst spricht von „Folgerichtigkeit“ jenseits banal-psychologischer Erklärungsmuster: „Wir haben uns nicht gefragt: Wo verstehen wir die Figur, wo nicht? Oder: Was hat das mit uns zu tun?“

„Wir“ – das meint das eingespielte Team Becker/Thalheimer, das sich bei der „Orestie“ 2006 am Deutschen Theater Berlin gefunden hat. Einmal mehr haben die beiden einen alten Stoff in seiner zeitlichen Distanz belassen, im Falle der „Medea“ gespiegelt in der räumlichen Entfernung, die Olaf Altmanns Bühne vermittelt. Doch gerade der Abstand, die Draufsicht auf das Stück, ermöglicht den klaren Blick auf den Menschen in seiner ganzen Monstrosität. Um mit Sophokles zu sprechen: „Nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ Die Einladung zum diesjährigen Berliner Theatertreffen für diese „Medea“ und die Auszeichnung mit dem begehrten Gertrud-Eysoldt-Ring für Constanze Becker in der Titelrolle scheinen da mehr als angebracht.

 

Ich bringe häufig Leute um

 

Dass der ungeheure Mensch in antiken Tragödien seinem Schicksal nicht entgeht, versteht sich von selbst. Beinah schon kurios dagegen, dass Constanze Becker ihre größten Erfolge mit nahezu ebensolcher Zwangsläufigkeit in entsprechenden Rollen feiert. Als wäre es ihre Bestimmung. Sie selbst freilich sieht sich gar nicht als Tragödin und meint lapidar: „Ich erzähle Geschichten, die nicht immer gut ausgehen. Und ich spiele meist Menschen, die nicht wahnsinnig sympathisch sind. Ich bringe häufig Leute um. Vielleicht kommt das Image daher?“ Die Gretchens und Julias jedenfalls sucht man vergeblich in ihrer Rollenbiografie.

Selbst während ihrer Ausbildung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ schien Becker bereits auf die antiken Frauenfiguren abonniert und durfte sich unter anderem an der Königinmutter Atossa in den „Persern“ des Aischylos abarbeiten. Sie selbst fand das einerseits toll, „weil das eine große Herausforderung war. Diesen Figuren stellen sich einfach weltumspannendere Probleme als kleinen blonden Mädchen, deren Probleme auch schlimm sein können, keine Frage. Aber ich fand die antiken Königinnen spannender.“ Andererseits habe sie sich nach einer Weile schon nach Abwechslung gesehnt und gefragt, weshalb sie als gut Zwanzigjährige eigentlich immer mit Söhnen spielen müsse, die deutlich älter waren als sie selbst. Als sich endlich ein wenig Abwechslung einstellte, haftete ihr das Etikett der geborenen Tragödin längst an. Sie ist es seither nicht losgeworden. Selbst Kritikerinnen schreiben schon mal von ihrem „imposanten Amazonen-Körper“. Nun ja, seufzt Becker, es gebe Schlimmeres.

Früh zementiert hat dieses Bild Andres Veiels Dokumentation „Die Spielwütigen“. Der Filmemacher begleitete Becker und drei Mitschüler an der Ernst-Busch-Schule über die Jahre ihrer Ausbildung hinweg mit der Kamera. Das führte dazu, dass sich das Theaterpublikum ein Bild von ihr machen konnte, ohne die Schauspielerin selbst auf der Bühne erlebt zu haben. Constanze Becker war schon bekannt, ehe sie bekannt wurde. Mit teils aberwitzigen Folgen. „Ich hab zum Beispiel mal erlebt, dass eine Dame zu mir sagte: ‚Und dann gingen Sie ja nach Dresden.‘ Worauf ich erwiderte, dass da eine Verwechslung mit einer anderen Schauspielschülerin aus dem Film vorliege, und korrigierte: Ich ging nach Leipzig!“ Nein! Nach Dresden!, habe die Frau auf ihrer Version beharrt. Das sei schon sehr lustig, wenn man so über sein eigenes Leben belehrt werde, „weil die Leute meinen, sie wüssten Bescheid – besser als man selbst“, kommentiert Becker diese Anekdote, die sie mit sichtlichem Vergnügen am Rollenspiel schildert, wobei sie der besagten Dame mit ihrem keinen Widerspruch duldenden „Nein!“ einen besonders penetranten Tonfall verpasst.

Sie habe die Dame dann in ihrem Glauben gelassen, beschließt Becker die Erzählung. Ein süffisantes Lächeln umspielt dabei ihre Lippen, wie so oft während des Gesprächs. Es scheint nicht dem Interviewer zu gelten, sondern ganz allgemein dem medialen Interesse an ihrer Person, das sich unter anderem in solchen Interviews ausdrückt. Bei aller Ernsthaftigkeit, mit der sie sich Fragen stellt, schwingt immer auch eine gesunde Portion Selbstironie mit. Ein ebenso trockener wie treffender Humor, der dem Gegenüber schnell bewusst macht, dass er es hier trotz des gewöhnlichen Schlabberpulli-Outfits eben doch mit einem ganz und gar ungewöhnlichen Menschen zu tun hat; mit einer Art Wölfin im grau-faserigen Schafspelz, wenn auch mit einer sehr komischen, die es gar nicht nötig hat, die Zähne zu fletschen, wo doch ihr sanft-ironischer Biss Wirkung genug zeigt.

 

Die schneewittchenschöne Hedda

 

Etwas von dieser Souveränität zeichnete auch ihre schneewittchenschöne Hedda Gabler in der Frankfurter Inszenierung von Alice Buddeberg aus, diese „müde getanzte“ Ibsen-Heldin, deren haushohe Überlegenheit gegenüber all den faden Durchschnittsmenschen um sie herum sich in beißendem Spott ein Ventil suchte. Oder Beckers desillusionierte Professorengattin Jelena Andrejewna in Tschechows „Onkel Wanja“, einer der letzten Inszenierungen von Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin. Zur Schauspielerin des Jahres wurde Becker 2008 in dieser Rolle gekürt – erfreulich, weil es doch bestätigte, dass sie’s auch tragikomisch kann. Auch diese Frauenfigur hat den verpfuschten Existenzen, in deren Gesellschaft das Leben sie geworfen hat, etwas voraus: das Wissen um die Ausweglosigkeit der eigenen Lage. Wie Beckers Jelena Andrejewna wider diese Einsicht gegen das unvermeidliche Schicksal ankämpfte, schroff gegen ihre Mitmenschen und am allermeisten gegen sich selbst – das war von subtiler Verzweiflungskomik.

Jürgen Gosch war sicher einer der prägenden Regisseure für Constanze Becker. Unter ihm spielte sie bereits in Gorkis „Sommergästen“, als sie noch am Düsseldorfer Schauspielhaus engagiert war. Und er hätte wohl noch wichtiger für sie werden können, wäre er nicht 2009 verstorben. So bleibt vor allem Michael Thalheimer als zuverlässiger Regiepartner, bei dem sie immer wieder zu Höchstform aufläuft. Becker schwärmt von der Arbeit mit ihm, die so intensiv sei, wie sie das von kaum einem anderen Regisseur kenne. Irrwege nicht ausgeschlossen. Einmal habe Thalheimer beim Ausprobieren zu ihr gesagt: „Das ist so toll, das machen wir nicht!“ Bei ihm hält sie so etwas aus. Weil das Ergebnis am Ende meist für die Anstrengung entschädigt, die solche Suchbewegungen kosten. Das erlebe man beileibe nicht bei allen Regisseuren. „Es staut sich so einiges an im Laufe der Berufsjahre“, sagt Becker.

Um ein wenig Luft abzulassen, hat sie sich jüngst selbst als Regisseurin versucht und mit Schauspielschülern Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ inszeniert. „Mein Beruf ist ja ein eher passiver. Man muss oben auf der Bühne sehr viel erfüllen von dem, was der da unten von einem will. Ich möchte mir gewisse Mechanismen angucken, die ich als Schauspielerin nicht durchblicke, damit ich meinen Beruf besser verstehen lerne.“ Scheint so, als würde Becker nicht planen, die Seiten dauerhaft zu wechseln. Der Ausflug ins Regiefach ist wohl eher als Teil der schauspielerischen Feldforschung zu sehen, die sie zuweilen mit beängstigender Vehemenz betreibt. „Auf den Proben und auf der Bühne gibt es eigentlich nur die ernsthafte Suche nach der Theaterwahrheit. Das mag manchmal ziemlich verbissen und humorlos wirken. Vorher und nachher: Humor!? Ja, gerne, jederzeit!“ Fürchten muss man sich vor Constanze Becker eben nur, wenn sie spielt. Dafür dann umso mehr. //

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