Theater der Zeit

Die profane Wut und der heilige Zorn

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)

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Wer kennt sie nicht, die alltäglichen kleinen Explosionen der profanen Wut? In der langen Kassenschlange verliert plötzlich jemand die Nerven. Zornig ruft er etwas Richtung Kasse und verlässt schimpfend das Geschäft. Seine Einkäufe bleiben zurück, und ich frage mich, wie wütend er erst zu Hause sein wird, wenn ihm die Lebensmittel fehlen. So beruhige ich mich selbst mit dem eingeübten Mantra, dass die kleine Genugtuung durch die öffentlich zur Schau gestellte Wut ein zu geringer Gewinn ist gegenüber dem Schaden, ohne Einkäufe zurückzulaufen. Schwieriger wird dieses Mantra, wenn noch das Gefühl der Ohnmacht hinzukommt, etwa wenn ich in einer Telefonwarteschleife hänge oder in einem Zug sitze, der sich von Station zu Station immer mehr verspätet. Aber auch hier gilt, wer das Warten nicht erträgt und aussteigt, wird auf Auskunft oder Ankunft verzichten müssen. So durchläuft der durchschnittliche Bewohner der modernen Welt regelmäßig das älteste aller menschlichen Emotionsmuster: Er wird wütend.

Die profane Wut ist die kleine Schwester des heiligen Zorns. Der normale Bürger wird wütend. Helden dagegen ergreift der Zorn. Der Zorn des Achill, der in der „Ilias“ geschildert wird, entzündet sich an der Kränkung durch Odysseus. Und sein Zorn treibt ihn zu den Heldentaten, an deren Ende seine Selbstzerstörung steht. Dass der Zorn zu den edlen Teilen des Seelenlebens gehören soll, geht auf Platon zurück. Er unterscheidet zwischen dem erkennenden Teil, dem begehrenden Teil und eben dem zornigen Teil der Seele. Der Thymos, wie er auf Altgriechisch heißt, ist für das Streben nach Anerkennung verantwortlich. Wer sich in seinem Wert als Mensch verletzt fühlt, in dem erwacht der Thymos. Und wer die Werte seiner Gemeinschaft bedroht sieht, in dem soll der Thymos erwachen, um in ihrem Namen in den Kampf zu ziehen. Schon hier zeigt sich die Doppelgesichtigkeit des Zorns. Er ist eine fundamentale Energiequelle, durch die der Mensch seinen Selbstwert verteidigt. Und genau diese Energie kann die Ursache von Zerstörungen werden, die weit über den eigentlichen Anlass hinausreichen. Im Zorn kann der Mensch nicht nur über sich selbst hinauswachsen, sondern auch blind und maßlos werden. Es braucht den Thymos, um Gefahren vom Menschen und seiner Gemeinschaft abzuwehren, und zugleich muss der Thymos eingehegt werden, damit er nicht den Menschen selbst oder seine Gemeinschaft zerstört. So entstehen seit der Antike immer neue Zornkulturen, die das Feuer des Thymos zugleich anheizen und eindämmen sollen.

Die bis heute prägnanteste Beschreibung für die psychologischen Ursachen des Zorns hat Aristoteles gegeben: Zornig wird, wer Mangel leidet und dessen Mangel man Geringschätzung entgegenbringt.1 Es wird als kränkend empfunden, wenn das eigene Leiden nicht gesehen wird. Die Ursache des Zorns liegt also in einem Mangel an Anerkennung. Seinen Ausdruck kann er in verschiedenen Varianten finden. In der antiken Heldenerzählung wird der Thymos als eine Öffnung der Seele für das Göttliche begriffen. Der Zornige durchläuft eine Verwandlung, die ihn über ein menschliches Maß hinausführt. Im Zorn des Achill bricht eine Kraft hervor, die je nach Interpretation entweder seine tierische Seite hervortreten lässt oder das spezifisch Übermenschliche bedeutet: Achill, das Vieh, oder Achill, der göttergleiche Held.

Die Verwandlung des zornigen Menschen verläuft seitdem in unterschiedlichen Bahnen. Sie kann bewusst herbeigeführt werden oder sie ist eine Passion, die erlitten wird und gegen die der Mensch machtlos ist. Je nach Tradition wird der Zorn zu einer außermenschlichen Macht, die den Menschen überfällt und in ein blindwütiges Rasen versetzt. Oder der Zorn ist ein Zustand, den es planmäßig herbeizuführen gilt, um die gestörte soziale Ordnung wiederherzustellen. Die Doppelgesichtigkeit des Zorns besteht also darin, dass der Zorn über den Menschen verfügt, weil er das Göttliche oder Tierische in ihm hervorbringt, und der Mensch über den Zorn verfügt, da er diese maßlose Energie absichtlich provozieren kann. So zeigt der Zorn, dass der Mensch einen Zugang zur Transzendenz hat und zugleich nicht hat, weil er bewusst hergestellt werden kann.

In der Aufwallung des Zorns vollzieht sich die Bewegung zwischen der göttlichen und der menschlichen Seite oft als zeitliche Abfolge. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, übernimmt der selbst erzeugte Zorn die Herrschaft über den Menschen und kann von ihm nicht mehr beeinflusst werden. Der Mensch hat sich nun durch seinen Zorn selbst verzaubert. Er ist blind vor Zorn. Dieser Umschlag hat in den postmodernen Wutkulturen unserer Zeit eine wichtige Funktion bekommen. Inmitten der Haltlosigkeit des Relativismus wird die Selbstverzauberung des Wütenden als neues Fundament anerkannt. Aus der kleinen Wut wird der heilige Zorn, aus dem Wütenden in der Kassenschlange wird ein Rebell gegen das verrottete System, und aus der Ohnmacht in der Komplexität der Widersprüche wird der klare Blick des Thymos, der die Welt in Freunde und Feinde scheidet.

Die antike Thymos-Philosophie begründete eine Hierarchie zwischen dem edlen Zorn und der alltäglichen Wut. Der Zorn braucht die großen Fragen der Anerkennung, um zu erwachen, die kleinen Provokationen ignoriert er. Die Wut hingegen steht als permanente Drohung hinter jeder kleinen Verzögerung, die der Alltag in der Moderne bereithält. Etwas funktioniert nicht, der Lebensfluss wird gehemmt, die kostbare Zeit verrinnt, und das gehetzte, nervöse Subjekt wird wütend. Die Wut lauert an jeder Straßenecke, wo das chaotische Leben eine Blockade errichtet hat. Sei es nur die Ampel, die zu früh auf Rot springt, oder sei es der Knopf, der von der Jacke fällt, die endliche Lebenszeit erfährt unentwegt empfindliche Stöße, in denen die Brüchigkeit der Existenz aufscheint.2

In der Moderne wird der Wechsel von beschleunigtem Leben und störenden Blockaden zur alltäglichen Erfahrung. Wir leben häufig in der Spannung zwischen einem andauernden Alarm und einer gleichzeitigen Hemmung unseres Lebensflusses. Man muss schnell zur Arbeit, wartet jedoch eine Ewigkeit auf den Zug, die grüne Ampel oder die immer zu langsamen Verkehrsteilnehmer. Alle Hemmnisse werden als Kränkung der eigenen Existenz verstanden, aus der die Wut über die Missachtung der eigenen Bedürfnisse entsteht.

Doch die menschliche Psyche hält noch ein weiteres unendliches Reservoir von Wutanlässen bereit: Wer zusehen muss, wie eine Gruppe gewalttätiger Männer einen wehrlosen Menschen überfällt, wird eine wachsende Wut in sich spüren. Die Wut, die sich einstellt, wenn ein ungerechtes Geschehen beobachtet wird, ist allgegenwärtig und machtvoll. Schon kleine Kinder haben ein feines Sensorium für Ungerechtigkeiten, auf die sie mit Wut reagieren. Die Fähigkeit, fremdes Leid fühlen zu können, gehört zum Fundament des sozialen Wesens „Mensch“. Die Beobachtungswut ist so tief verwurzelt, dass sie sogar dann entsteht, wenn man weiß, dass man nur einem fiktionalen Geschehen beiwohnt. Theater, Roman und Film beziehen einen großen Teil ihrer Faszination aus der Zuschauerwut über ungerechte Handlungen.

Der Zeitgenosse erlebt also eine Inflation von alltäglichen Wutprovokationen und führt sich als Zuschauer noch regelmäßige Dosen von wutstiftenden Ereignissen zu. Der heilige Zorn und die profane Wut gehen dabei oft eine gefährliche Mischung ein, die zum Kennzeichen von Massengesellschaften geworden ist.

1Vgl. Aristoteles: Rhetorik, II. 2. 9: „Darum sind die Menschen im Leiden, in der Armut, der Liebesbegierde, als Dürstende, überhaupt in jedem Zustand des Verlangens nach etwas, ohne Befriedigung zu erlangen, zum Zürnen und zur Aufwallung bereit – vor allen Dingen denen gegenüber, die dem gegenwärtigen Zustand Geringschätzung entgegenbringen.“ (Übersetzt von Frank G. Sieveking.)

2Von dieser Wutbestimmung geht Johannes F. Lehmann aus: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2012.

d Literaturgeschichte des Zorns, Freiburg i. Br./ Berlin/Wien 2012.

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