Stück
Waffen gegen die Idiotie
Dietmar Dath über sein neues Stück „Die nötige Folter“ im Gespräch mit Jakob Hayner
von Dietmar Dath und Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Abgründe des Alltäglichen – Das Staatstheater Braunschweig (06/2019)
Assoziationen: Dramatik Staatstheater Augsburg

Dietmar Dath, nachdem Ihre Romane „Waffenwetter“, „Sie schläft“ und „Die Abschaffung der Arten“ für die Bühne adaptiert wurden, Sie außerdem Überarbeitungen von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ und kürzlich von Mary Shelleys „Frankenstein“ erstellt haben, folgt nun nach „Annika oder Wir sind nichts“ und „Regina oder Die Eichhörnchenküsse“ mit „Die nötige Folter“ ihr drittes Theaterstück, ein Auftragswerk des Staatstheaters Augsburg. Im Untertitel heißt es „Spiel für sechs Unschuldige und ein Bild“. Gibt es überhaupt Unschuldige in einer Welt mit Ausbeutung und Krieg?
Schuld heißt: Eine Person kann was dafür. Die Abhängigkeits- und komplementär dazu Verwahrlosungsdynamiken der Gegenwart sorgen ja leider dafür, dass es tatsächlich fast nur noch Unschuldige gibt. Wer könnte nicht mit Recht sagen: Ich selbst hätte es anders gewollt, aber was soll ich machen? Das gilt für die Aufsichtsrätin so gut wie für den Obdachlosen. Mein Stück stellt sich auf die Seite der einzig Schuldigen darin, der Künstlerin. Sie kann was dafür, sie hat es gewollt (wenn auch nicht genau so, aber das ist die List der Vernunft dabei).
In „Die nötige Folter“ befinden sich Sven, Baqil, Eva und Hark in einer misslichen Lage. Fixiert auf ihren Stühlen, sind sie in einem Raum gefangen, der als eine Mischung aus Medizinlabor, Supermarkt und Folterkammer beschrieben wird. Sie rätseln, wie sie wohl dorthin gekommen sind. Es scheint, als müssten sich die Menschen anhand des Resultats ihre vorhergegangenen Handlungen vergegenwärtigen, um die Ursachen ihrer Lage zu erfahren. Ist das eine neue Form der ältesten Geschichte des Theaters, die qualvolle Selbsterkenntnis wie bei Ödipus?
Leider nein. Sie lernen und erkennen ja nichts, die Griechen hätten sie nicht ernst genommen. Das Stück nimmt sie auch nicht ernst, aber es nimmt den Umstand ernst, dass man von Leuten gequält wird, die man nicht ernst nehmen kann. Dass sie sich über das Woher und Wie ihrer Lage unterhalten statt darüber, wie man rauskommt oder was man als Nächstes tun kann, kennzeichnet ihre ganze unschuldige Verdorbenheit. Ich habe Mitgefühl, aber Gefühl ist ja immer erst der Anfang beim Malen. Es wird nicht leicht, diese Leute zu spielen, aber wir alle, wie gesagt, sind ja leider sehr oft diese Leute, und da es auch nicht leicht ist, diese Leute zu sein, halte ich’s für gerecht, dass jemand sie spielen muss.
Über die gefangenen Protagonisten erfahren wir, dass sie aus der Kunstwelt und der Wissenschaft stammen. Eine eigentümliche Neuroperformance scheint außer Kontrolle geraten zu sein. Ihr Titel lautet „Trophische Kaskade“, ein Begriff aus der Biologie, der die Veränderung eines Ökosystems durch Veränderungen einer Nahrungskette beschreibt. Doch hier wird er für soziale Systeme verwendet. Warum?
Das ist der satirische Zugriff des Stücks. Dauernd wird uns im Datenkapitalismus erzählt, Signale hätten mehr Gebrauchswert als Sachen, „Ideen sind das neue Geld“, Info sei Nahrung wie in der Biologie, oder es entsteht eine „Medienökologie“ (Agentur Bilwet, treffend und spöttisch), die sich um Vergiftung durch Reizüberflutung Gedanken macht. Der satirische Dreh bei mir ist: Gut, nehmen wir das wörtlich. Das ganze Geschwätz über Filterblasen, Framing von Propaganda und so weiter behandle ich nicht als Stoff oder Thema, sondern als Formfrage: Wie wirtschaftet man mit Signalen, Ideen, wenn das wirklich Nahrung wird, wenn davon wirklich gelebt werden muss? Mein Modell ist die Kunstwelt, weil die ja leicht daran glauben kann, man lebe in ihr von Ideen. Dann zeigt sich: Fressen und Gefressenwerden ist ein lustiges Spiel, haut man an einer passenden Stelle in die Nahrungskette, dann bebt das ganze Ökosystem. Ich nehme es bewusst als was Technisch-Wissenschaftliches, weil das Technisch-Wissenschaftliche im gegenwärtigen Kreativ- und Kunstideologiemüll immer unterbelichtet bleibt, weil man immer nur über Stoffe und Themen redet statt über die Techniken dabei (ich meine nicht nur Maschinen, auch Genres, Gleichungen …). Als gäbe es ein Wesen von Ideen ohne Erscheinung, als hätte jemals irgendwer einen Inhalt ohne Form gesehen. Das Stück handelt davon, wie Inhaltsverblendete von Formfragen eingeholt und bestraft werden. Die Wahrheit der Kreativitätslüge ist die Menschenschinderei. Da dachte ich, wenn es doch in Augsburg stattfindet, kann man ja die „Maßnahme“ noch mal ein wenig durchrütteln, Brecht ehren und so weiter. Es geht um den Extremfall des Mittels, das den Zweck verändert und umgekehrt: das richtig hässliche Mittel im Ringen mit dem richtig schönen Zweck, dem der Kunst nämlich.
Als weitere Figuren treten Stier und Widder auf und vor allem die rätselhafte Figur Bild, die wiederum auch etwas mit einer Doro aus der Vergangenheit zu tun hat. Sie ist die eigentliche Hauptfigur, Leiterin eines riskanten Experiments und gigantomanische Künstlerin zugleich. Ganz im Stile der neuesten immersiven Performanceprojekte will sie mit ihrer Kunst nichts zeigen, sondern soziale Welten zerstören und rekonstruieren. Das klingt wie die dystopische Erfüllung des Programms der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, Unterwerfung statt Befreiung. Oder wie würden Sie die Funktion der Kunst beschreiben?
Kunst teilt nicht Daten mit, sondern Haltungen zu Daten (und nur deshalb auch Daten, sonst weiß man ja nicht, wozu die Haltung eine Haltung ist). Realistische Kunst teilt Haltungen mit, die man aushält und die sich in Handlungen übersetzen lassen. Deswegen gibt es so wenig realistische Kunst heute, weil man das alles ja kaum aushält und weil sich so wenig dagegen machen lässt. Man muss es trotzdem versuchen. Welche Mittel dabei die beste Wirkung machen, wenn wirklich Leute auf einer Bühne stehen, das lerne ich langsam – weil ich ja aus der Stille der reinen Textarbeit komme, neige ich zum Text- und daher Sprechtheater, aber bei der Arbeit mit F. Wiesel, einem Performance-, Figuren- und Raumtheaterduo, an dessen Projekt „Superquadra“ ich so ein bisschen am Rand beteiligt war, konnte ich einen Einblick in andere Formen und Techniken theateradäquater Kunst riskieren, dessen Resultate nicht aufhören, mich zu beschäftigen. Ich hoffe, in diese Richtung weiterarbeiten zu dürfen, Gespräche finden schon statt; ein Teil der Figurenführung in „Die nötige Folter“ hat jedenfalls mit Puppenperspektivischem zu tun.
Im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass die Beziehungen der Menschen einigermaßen zerrüttet sind, vor allem ihre eigene Wahrnehmung, „Erlebnisraten“ genannt. Und ob die Welt nicht eigentlich schon untergegangen ist, ist zumindest nicht sicher. „Zerstörung als Teamwork“, heißt es an einer Stelle. Beschreibt das die Dynamik einer Gesellschaft, in der die soziale Umwelt so massiv gestört ist, dass sich die Menschen in einer destruktiven Kaskade nach unten hin anpassen?
Das beschreibt zuerst Idioten, die eine Frau schlecht behandeln, weil ihr noch was einfällt und den Idioten nicht. Die Jungs sind neidisch und daher eklig. Der Frau fällt aber dann wirklich was Neues ein: Sie macht aus den Idioten ihre Waffe gegen die Idiotie. Es klappt – ganz anders, als sie will, aber es klappt, auf dem Umweg über einen der Idioten, den Forscher, der denkt, er manipuliere sie. Pustekuchen. Das Stück ist sehr optimistisch.
Und das, obwohl das Stück eine fatale Situation zeigt. Alles schreit geradezu nach einer Unterbrechung. Zugleich sind die Personen gefesselt, müssen zunächst ihre Lage analysieren. Doch sie kommen nicht zusammen, einer entscheidet sich für den Tod, einem anderen ist schlicht egal, was passiert. Begreifen, um einzugreifen, sagte Bertolt Brecht einmal. Gilt das hier noch? Welche Optionen haben denn die Menschen am Ende?
Dieselbe wie immer: Das, was an ihnen schlecht ist, nicht auch noch gut finden. Das geht noch in der übelsten Not und demoralisierten Scheußlichkeit. Selbst wenn ich schon ganz unrettbar abscheulich bin, muss ich nicht glauben, ich wäre toll. Wahrhaftigkeit ist das Minimum, das geht, solange noch Hirn ist. //