Essay
Das Risiko des zeitgenössischen Dramas
Die Sala Beckett in Barcelona als internationales Textlabor
Die Sala Beckett in Barcelona ist seit ihrer Gründung 1989 als lebendiger, einzigartiger Theaterort der Gegenwartsdramatik bekannt. Dieser Artikel lässt einige der jüngeren Arbeiten Revue passieren, die aus dieser, für das Verständnis des katalanischen und spanischen Gegenwartstheaters so bedeutenden, Theaterwerkstatt hervorgegangen sind.
von Aina Tur
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)
Assoziationen: Dramatik Dossier: Neue Dramatik Dossier: Spanien

Im Januar 2016 habe ich mit Toni Casares, dem Leiter der Sala Beckett, Kaffee auf dem Platz vor Can Felipa im Stadtteil Poblenou1 getrunken. Nachdem wir uns über Wünsche, Zweifel, Träume und Hoffnungen ausgetauscht hatten, wurden wir uns einig, und seitdem gehöre ich zum Team dieses außergewöhnlichen und beispielhaften Theaterprojekts, das sich der Gegenwartsdramatik widmet.
Ich bin so mutig, diese beiden Adjektive zu verwenden, „außergewöhnlich und beispielhaft“, denn solche Räume sind rar, um nicht zu sagen, so gut wie nicht existent: Theaterräume, in denen Theaterausbildung, Theaterschaffen, Theaterexperimente, Forschung, Produktion und Ausbildung unter einem Dach vereint sind. Daran hat sich seit 1989 nur wenig geändert, als der ehemalige Hauptsitz der Sala Beckett im Stadtteil Gracia seine Tore öffnete, dank der Kompagnie Teatro Fronterizo und ihres Leiters José Sanchis Sinisterra.
Es blieben noch sechs Monate, bis die Sala Beckett ihre Wiedereröffnung feiern sollte, und alles war noch Baustelle. Doch selbst mit dem Baustaub war er wunderschön, der Ort, an dem das Projekt Beckett florieren und wachsen sollte. Wachsen, – daran erinnerte mich Casares – jedoch ohne zu verlieren, was die Spielstätte in Gracia ausgemacht hatte, die aufgrund des steigenden Drucks am Immobilienmarkt hatte schließen müssen. Ein Konflikt, der auch eine Chance bot und uns dazu brachte, das Projekt Beckett größer zu denken, weiträumiger und mit neuen Ideen für Außergewöhnliches. Mit dieser Herausforderung im Blick widmete ich mich, da ich ja nun zur künstlerischen Abteilung des Theaters gehörte, gemeinsam mit Víctor Muñoz der Spielplangestaltung – den Kopf voller Ideen und einer Frage, die sowohl Casares als auch mich umtrieb: Wie lässt sich der Dialog zwischen Theater und Gegenwartsgesellschaft anstoßen und ausbauen?
Man kann sich leicht vorstellen, wie mit dieser Verantwortung im Nacken, zumal unter den an der Zukunft der Sala Beckett interessierten Blicken der Stadtbevölkerung, aus meiner – unserer! – Besorgnis endlose Arbeitsstunden wurden: Texte bewerten, Inszenierungen sichten, Gespräche mit Künstlern führen, Spielpläne verschlingen; all das im ständigen Kontakt mit dem Leiter der Sala Beckett, um nach und nach die Puzzleteile unseres Programms zusammenzufügen, neben all den anderen Dingen. Ich trainierte mir analytische Muskeln an und begann, langsam eine Vorstellung davon zu entwickeln, was es heißt, Autoren, Texte und Gruppen für einen so vielfältigen Spielplan zusammenzubringen, bei dem die Gegenwartsdramatik im Mittelpunkt steht und sich aus ganz unterschiedlichen Aktivitäten in den Bereichen Theaterausbildung, Theaterschaffen und Theaterexperimenten zusammensetzt, die zwar alle gemeinsam unter einem Dach arbeiten, aber eben auch in der Stadt, im Land, in Europa und der Welt.
Der Ausgangspunkt war klar: Wir wollten all das tun, uns aber zusätzlich aktiver an den Debatten der Gegenwartsgesellschaft beteiligen, uns mit unserem Theater einmischen. Wir wollten unseren Spielplan um Denk- und Debattenformate erweitern. Und das war dann auf einmal doch nicht mehr so leicht – oder zumindest kam es mir so vor. Uns blieb also nichts anderes übrig, als aufmerksam zu bleiben. Und dann ging alles ganz schnell. Die Migrationskrise im Mittelmeer stand plötzlich (leider) auf der Tagesordnung. Die Toten im Meer und die Bilder der Menschen, Opfern von Gewalt, die unter fürchterlichen Bedingungen loszogen, ohne zu wissen, wohin, fluteten unsere Bildschirme – und das machte auch etwas mit den Theaterschaffenden. Wir stellten fest, dass uns immer mehr Vorschläge zu diesem Thema erreichten und entschieden uns für eine Themenreihe: „Mar de miralls. Fluxos de migració a la Mediterrània“ (dt. „Ein Meer aus Spiegeln. Migrationsströme im Mittelmeer“), die im Herbst 2016 lief. Es ist uns gelungen, die Thematik unter künstlerischen, historischen, sozialen und politischen Gesichtspunkten zu beleuchten. Unser Plan ging auf. Wir beschlossen, das Format fortzuführen.
Ich kann an dieser Stelle nicht auf sämtliche Arbeiten eingehen, die aus unserem Vorhaben entstanden sind, Gesprächsräume zu öffnen, die den Spielplan in Themenreihen unterteilen, einige interessante Beispiele möchte ich aber trotzdem nennen. Es scheint mir bemerkenswert, wie manche Themen zur gleichen Zeit sowohl in unser Leben als auch unsere dramatische Literatur eingebrochen sind. Nach dem Attentat auf den Ramblas2 erreichten uns viele Texte, in denen die Figuren von Angst und Terror verfolgt wurden, also stellten wir eine weitere Themenreihe auf die Beine: „Terrors de la ciutat. Escenaris de conflicto i de por“ (dt. „Terror der Stadt. Szenarien des Konflikts und der Angst“). Weitere folgten. Als der 30. Jahrestag der Öffnung der Sala Beckett näher rückte, der mit dem 30. Todestag des irischen Autors zusammenfiel, stellten wir überrascht fest, dass wir gleich mehrere Konzepte auf dem Tisch liegen hatten, die um das Thema Tod kreisten. Und wir entschlossen uns, dem illustren Dramatiker eine komplette Spielzeit unter dem Motto „Memento Mori. Recordem-nos de morir“ (dt. „Memento Mori. Erinnerung ans Sterben“) zu widmen. Doch dann brachen Seuche und globale Gesundheitskrise auch über uns und das Theater herein, und wir konnten sie nicht zu Ende bringen.
Ein weiteres Beispiel für den Dialog, den wir mit der Gegenwartsgesellschaft führen wollen, entstand mit der Entscheidung für die Reihe „#jotambé. Violències de gènere i estructures de poder“ (dt. „#Ichauch. Geschlechtsspezifische Gewalt und Strukturen der Macht“). Wir hatten unzählige Texte zu dem Thema erhalten und dann, nur wenige Wochen bevor das Format starten sollte, haben Missbrauchsopfer am Institut del Teatre3 ihr Schweigen gebrochen. Offensichtlich hatte das eine nichts mit dem anderen zu tun, und doch konnten wir so auf unsere Weise zur gesellschaftlichen Debatte beitragen.
All das bestärkte unsere Dramatiker umso mehr darin, ihre Realität, ihre Zeitgenossenschaft, ihre Konflikte und Interessen zu reflektieren, ihre Zweifel und Nöte. Wir haben sie lediglich willkommen geheißen und versucht, einen Dialog in Gang zu setzen, zwischen ihnen und der Gesellschaft, die sie unterstützt, fördert, zu ihnen kommt, um ihnen zuzuhören. Viele unserer Reihen befassen sich mit kontroversen und unbequemen Themen, oder sogar mit Tabus. Das Publikum unterstützt unser Programm trotzdem, und das gibt uns Rückhalt. Die Gesellschaft braucht und sucht nach Räumen der Reflexion, um zu verstehen – und um einander zu verstehen.
Das Beckett hat in den letzten fünf Spielzeiten 166 Inszenierungen gezeigt, immer um ein Gleichgewicht zwischen etablierteren Autoren und jüngeren Stimmen bemüht, zwischen den unterschiedlichen Ästhetiken, die wir unter dem Begriff Gegenwartsdramatik subsumieren. Und auch wenn wir auf zeitgenössische katalanische Dramatik spezialisiert sind, sind wir doch davon überzeugt, dass unsere Theaterlandschaft von den vielen Kontakten des Beckett mit anderen Theaterprojekten in Spanien, Europa und der Welt profitiert. Bei Entscheidungen müssen wir viele verschiedene Faktoren berücksichtigen, doch das hilft dabei, unseren persönlichen Geschmack hintanzustellen und nicht zu bequem zu werden. Unser Weg führt uns unweigerlich mitten hinein ins Risiko.
Ich glaube, ich liege nicht falsch, wenn ich behaupte, dass mehr als 90 Prozent der Texte auf unserem Spielplan neue Texte sind. Texte, die sich vor ihrer Inszenierung an unserem Haus noch nie einem Publikum stellen mussten und die oft erst während der Proben zu Ende geschrieben werden. Texte, für die wir uns entscheiden, weil sie uns etwas erzählen, das uns beunruhigt, weil sie uns bewegen, wütend machen, oder uns scheinbar grundlos anziehen und umtreiben. Texte junger Autoren, mit denen wir arbeiten wollen, damit sie wachsen, sich entwickeln und vor dem Publikum bestehen können.
Texte, die es noch nicht gibt, die erst noch geschrieben werden müssen, und die wir deshalb blind unterstützen, weil es beim Spielplanmachen auch darum geht, Verbindlichkeiten einzugehen und Vertrauen zu schaffen, damit ein Autor in dem Wissen schreiben kann, dass sein Stück auch inszeniert und aufgeführt wird. Wir lesen Texte über Texte und bewerten sie – immer mit gebührendem Respekt für die Arbeit der Autoren. Es sind Autoren, die ihre Texte zum ersten Mal vor Publikum präsentieren und weder wissen, ob sie funktionieren noch, wie sie beim Publikum ankommen werden … Das Beckett ist ein Versuchslabor, und wir möchten, dass man es auch als solches wahrnimmt. Auch dann, wenn die Premiere und die anschließenden Begegnungen vorbei sind, ist unsere Arbeit noch nicht zu Ende. Von unserem Theatersaal im Poblenou aus arbeiten wir an der Förderung katalanischer Gegenwartsdramatik, auch dank verschiedener Kooperationsprojekte mit spanischen und europäischen Partnertheatern, ebenso mit Catalandrama, einer digitalen Plattform, von der man übersetzte Stücktexte online und kostenfrei herunterladen kann.
Zum Schluss möchte ich noch betonen, dass die spanische Dramatik, mit all ihren Formen und Ästhetiken, im Laufe des 21. Jahrhunderts zunehmend ihren Platz sowohl auf den nationalen Spielplänen als auch in der internationalen Theaterszene gefunden hat. Die Zahl der Dramatiker ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn diejenigen Theater, die Gegenwartsdramatik spielen, keine Räume der Risikobereitschaft geschaffen hätten. Solche Versuchslabore erleichtern es den Dramatikern, ihr erstes Publikum zu finden. Und durch diese neue Vielstimmigkeit des zeitgenössischen Theaters hat sich sehr viel in Bewegung gesetzt. Den zeitgenössischen Dramatikern ist es gelungen, ein unfruchtbares Erbe hinter sich zu lassen, das entstanden war durch die Kastration und Unterdrückung zu Zeiten der Diktatur, deren Ende erst 40 Jahre zurückliegt. Die zum Schweigen gebrachten Stimmen. Unser Erbe. Mit dem wir zu kämpfen hatten und mit dem wir dank der Bemühungen Einiger und der Entschlossenheit Anderer heute die Befreiung von diesem Joch feiern können. Der Vulkan ist ausgebrochen, und wir können nicht anders, als weiterzumachen und von der Gegenwart aus die Gegenwart aufs Spiel zu setzen. //
1 Poblenou ist ein Stadtteil Barcelonas, Can Felipa ein soziokulturelles Stadtteilzentrum.
2 Gemeint sind die Terroranschläge in Barcelona vom 17. August 2017. Ein Attentäter fuhr mit einem Lieferwagen durch die Menschenmenge auf Las Ramblas, dem Prachtboulevard Barcelonas. Es starben 15 Menschen, über Hundert wurden verletzt. Für den Anschlag soll eine islamistische Terrorzelle verantwortlich sein.
3 Das Institut del Teatre, Barcelonas Theaterinstitut, widmet sich der Ausbildung und Erforschung der Darstellenden Künste, klassischer Tanz, zeitgenössische Dramatik, Film, Choreografie etc. Das Institut wurde 1913 gegründet.
Aus dem Spanischen von Miriam Denger