Auftritt
Nationaltheater Mannheim: Und der Haifisch zieht die Strippen
Bertolt Brecht: „Der gute Mensch von Sezuan“ – Regie Charlotte Sprenger, Bühne Aleksandra Pavlovic, Kostüme Bettina Werner, Musik Philipp Plessmann und Jonas Landerschier
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Charlotte Sprenger Nationaltheater Mannheim

An einen Ein-Euro-Shop erinnert der Tabakladen der ehemaligen Prostituierten Shen Te. Im Alten Kino auf dem ehemaligen Kasernengelände Franklin hat die Regisseurin Charlotte Sprenger Bertolt Brechts 1943 uraufgeführtes episches Lehrtheater „Der gute Mensch von Sezuan“ in Szene gesetzt. Am 125. Geburtstag des Vordenkers einer neuen, politischen Theaterkunst eröffnete das Nationaltheater Mannheim damit sein neues Theaterhaus auf Zeit. Im ehemaligen Filmsaal der US-amerikanischen Streitkräfte am Stadtrand hat das Schauspiel eine Bühne mit großzügigem Foyer gebaut. Die Wände sind bunt bemalt. Drinnen erinnert nichts mehr an die amerikanische Vergangenheit. Aber draußen sind die Spuren der Besatzungsmacht zum Beispiel im „House of Maemories“ zu finden, das die Geschichte dokumentiert. Wenn das Theater am Goetheplatz voraussichtlich im September 2027 fertig saniert ist, ziehen Intendant Christian Holtzhauer und sein Ensemble wieder um. Das Alte Kino wird dann als Kulturhaus im neuen Stadtteil Franklin genutzt.
Der in die Jahre gekommene Text, der auf deutschen Bühnen fast tot gespielt wurde, hat für die 33-jährige Regisseurin Sprenger viel Zeitloses. Wasserverkäufer Wang, in Leonard Burkhardts kluger Interpretation ein Alpha-Tier aus dem Prekariat, könnte genauso gut durch das Kreuzberg des 21. Jahrhunderts tingeln. In seinem Haifisch-Anzug aus blau-weißem Plüsch macht ihn Kostümbildnerin Bettina Werner zwar zum Underdog. Dennoch zieht er in Sprengers junger Lesart des Klassikers die Fäden. Er bringt die Götter in die Stadt, um die zerfallende Welt zu retten. Werners Kostüme schlagen Brücken in die Gegenwart. Die Gräben zwischen Edel-Trash und Glamour-Look sind immens.
Pink glitzernde Säulen in Aleksandra Pavlovićs Bühnenbild sind mit lachsfarbenen Kunststoffrosen verziert. In dieser kitschigen Plastikwelt ist alles brüchig und auf die Wegwerf-Gesellschaft getrimmt. Der moderne Neon-Säulenleuchter im Zentrum der Bühne hat etwas Sakrales. Dass ausgerechnet in diesem Edel-Trash die Prinzipien der Marktwirtschaft aus Brecht’scher Sicht verhandelt werden, ist ebenso ein spannender Kunstgriff von Sprengers erfrischend frecher Regie wie die Besetzung des Götter-Trios: Annemarie Brüntjen, die als guter Mensch von Sezuan und ihr gnadenlos-kaltes alter Ego Shui Ta eine Doppelrolle verkörpert, ist auch Teil des Göttinnen-Trios. Mit Ragna Pitoll und Jessica Higgins blickt sie ironisch-distanziert auf eine kapitalistische Welt, in der die Erfolglosen einfach weggefegt werden.
Deshalb braucht Shen Te eine zweite Identität, um sich gegen die brutalen Ausbeuter zu wehren. Menschen in Not fallen wie Schmeißfliegen über sie her. Frostig distanziert nimmt sich die Schauspielerin zurück, wenn es um Menschlichkeit und Muttergefühle geht. Diese souveräne Überlegenheit spielt Brüntjen grandios aus. In der Rolle des bösen Vetters das Charakterschwein von der Leine zu lassen, fällt ihr leicht. Gnadenlos schmettert Shui Ta die Armen ab, denen seine Cousine ihr letztes Geld gab. Ohne dogmatisch oder belehrend zu wirken, zeigt die Schauspielerin so, dass Träume von Menschlichkeit in der globalisierten Welt des Kapitalismus Neoliberalismus wie Seifenblasen platzen.
In die politische Handlung, die Generationen von Schüler:innen das epische Theater nicht gerade lustvoll entdecken ließ, hat Brecht eine Liebesgeschichte gestrickt. Der arbeitslose Flieger Yang Sun trifft in größter Not auf Shen Te, die alle „den Engel der Vorstädte“ nennen. Sie bewahrt ihn nicht nur vor dem Suizid, sondern verspricht auch, seine Karriere zu finanzieren. Arash Nayebbandi nutzt die junge Frau nicht nur schonungslos aus. Vor ihrem vermeintlichen Vetter zeigt er sein wahres Gesicht. Die Verführungskunst, die Nayebbandi meisterhaft zelebriert, hat nichts Echtes. Die Rolle legt der Schauspieler mit erotischer Dominanz an. So wirkt er wie ein Zuhälter modernen Zuschnitts. Gnadenlos legt er die ökonomischen Triebfedern der Liebe offen. Als seine Mutter läuft Ragna Pitoll zu einem Schwiegermonster auf, das die Zuschauer:innen immer wieder sprachlos zurück lässt. Ihr geht es nur ums Geld, was sie Shen Te ganz offen wissen lässt. In der Rolle des gönnerhaften Barbiers Shu Fu, der Shen Tes gutes Herz retten und dabei doch nur seine Triebe stillen will, wächst Eddie Irle über sich hinaus. Die feuchten Küsse dieses Lust-Opas in Gothic-Montur sind teuflisch.Dabei verfolgt auch er nur eigene Interessen.
Der Zeitlosigkeit tragen auch Philipp Plessmann und Jonas Landerschier Rechnung, die Paul Dessaus Musik schnörkellos neu arrangiert haben. „Das Lied vom achten Elefanten“ des Herrn Dschin interpretiert ein Chor ganz klassisch – die Rolle des Bonzen verkörpert der Musiker Landerschier. Fast zu brav tasten sich die Musiker an Dessaus Vorlagen heran. An anderer Stelle unterlegen die Musiker die Handlung dagegen mit einer kraftvollen elektronischen Klanglandschaft, was den Sound in heutige Hörerfahrungen katapultiert. Großartig taucht Regisseurin Sprenger in die dialektische Sprachkunst Bertolt Brechts ein. Das Lehrstück von einer Welt, in der gute Menschen keine Chance haben, überträgt sie mit viel Spiellust und Esprit in die Gegenwart. Familien mit Kindern, die am Ende des Monats nichts mehr zu essen haben, fristen in der gnadenlosen Welt ebenso ihr trauriges Dasein wie alte Menschen, die durch das soziale Raster fallen. Zwar mag Brechts dialektisches Theater stellenweise antiquiert wirken. In der heutigen Gesellschaft, die immer mehr Menschen an die Armutsgrenze treibt, sind die Einsichten des Theaterrevolutionärs aktueller denn je. Um diesen Bezug herzustellen, zeichnet Charlotte Sprenger das Bild einer Gesellschaft von Verlierern. Eine Chance hat nur, wer andere ausbeutet. Dieser Fehler im System, den Brecht bereits in den 1940er-Jahren erkannt hat, spaltet die Gesellschaft auch heute noch.
Erschienen am 18.2.2023