Theater trifft Kino
Das unsichtbare Dritte
Wenn Theater auf Kino trifft: Über die Hybridkunst des Bühnenfilms
von Fritz Göttler
Erschienen in: Theater der Zeit: Das Lachen der Medusa – Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken (01/2021)
Assoziationen: Dossier: Bühne & Film
Was für ein Mischmasch, klagt der Schauspieler, er steht im Hintergrund der Bühne, weiß geschminkt, in einem Rüschenkleid, wirft ab und zu einen Blick hinüber in den erleuchteten Zuschauerraum, wo in ziemlich großer Entfernung der Regisseur steckt. Er wartet auf sein Stichwort, wie er das gewohnt ist im klassischen Theaterbetrieb.
Der Mischmasch ist zum großen Teil pandemisch bedingt, aber nicht nur. Mit der Reinheit der Kunst ist es schon seit Langem vorbei, nicht nur im Theater, den ganzen Kulturbetrieb wirbelt es kräftig durcheinander, alle Medien und Genres. Nun sind dem Theater seine Räume verwehrt, dem Kino die Abspielstätten, Kunst wird nur noch direkt eingespeist in die digitalen Kanäle. Unreine neue Formen sind gefragt. Man hat ersatzweise Performances abgefilmt und dokumentiert, spontan, als Ersatz, viel Kleinkunst oder große Oper, alles sekundär. Nun versucht man eine neue Mischung, eine Inszenierung im Theater, hybrid konzipiert auf eine digitale Übertragung hin. Das erfordert und ermöglicht Anpassungen und Grenzüberschreitungen vor allem zwischen zwei Medien, die sich sonst diametral gegenüberstehen: Versuche, dem Kino sich anzunähern und doch Theater zu bleiben, das Kino zu nutzen, um echtes Theater zu machen … Der Mischmasch soll produktiv werden.
Das Schauspielhaus in Zürich hat seine Inszenierung von „Der Mensch erscheint im Holozän“ nach dem Lockdown im Frühjahr fürs Fernsehen bearbeitet, ein visual poem nach Max Frisch, Inszenierung Alexander Giesche, Bildregie Andreas Morell. Sie wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ist inzwischen unter der Rubrik Starke Stücke in der Mediathek von 3sat abrufbar. Das Deutsche Theater Berlin wiederum hat einen neuen „Zauberberg“ in seinem Programm, nach dem Roman von Thomas Mann, Regie Sebastian Hartmann, die Inszenierung wurde gezeigt als ein einmaliges Live-Event, im Stream. Die leibliche Premiere sollte im Dezember sein, aber solange die Theater geschlossen bleiben müssen, sind erst mal weitere Streams geplant im Januar. Es ist eine veritable Großproduktion, spektakulär und exzessiv, die mit Hybridität prunkt.
Die Inszenierungen machen die aktuellen Einschränkungen selbst zum Thema, das Fehlen der Präsenz, dessen, was Walter Benjamin die Aura des Kunstwerks nannte, die ihm fehlt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In Zürich hat man den Theaterraum filmisch nach allen Seiten geöffnet und spielerisch erweitert, in Berlin hat man gleich die Bühne zu einem Filmatelier gemacht.
Es sind nicht unbedingt neue Probleme, mit denen die Theatermacher nun konfrontiert werden, aber die aktuellen Produktionsbedingungen haben sie stark akzentuiert. Man hat sich mit der Grammatik des filmischen Erzählens vertraut gemacht, Montage, Wechsel der Einstellungen, Zeitsprünge und Kontinuität, aber im Grunde geht es auch in den Hybridproduktionen um die Grundfragen, die das Theater seit Jahrzehnten beschäftigen, Präsenz der Körper, Spiel und Reflexion, die unwiederholbare Intensität des Augenblicks, die Möglichkeit, die fixe Position des Betrachters im Zuschauerraum aufzubrechen. Fast natürlich hat man dabei immer stärker auch die neuen visuellen Medien integriert, die neue Aura des Authentischen, die Mobiltelefon, Selfie, Instagram produzieren. Schon Frank Castorf liebte die Erweiterung des Bühnenraums durch Video, aber vor allem, um hinter die Kulissen zu gucken, als Parallelgeschehen, in abgeschirmten Räumen.
In Zürich und Berlin wurden keine Stücke inszeniert, das Spielmaterial waren zwei Prosatexte von zwei großen Erzählern des 20. Jahrhunderts, Max Frisch und Thomas Mann. In denen es nur am Rande um Einzelschicksale geht, vor allem aber um große existenzielle und philosophische Zusammenhänge. Ein neuer Zeitbegriff bestimmt diese Bücher, Evolution statt Geschichte. Das Individuum hat nichts mehr zu suchen in diesen Büchern, in diesem Theater.
Beide Produktionen spielen in unzugänglichem Gelände, im Hochgebirge, wo die Einsamkeit des Menschen sein Schicksal ist. Es geht darum, Distanzen zu überwinden, Gelände zu vermessen. In Zürich gibt es ein Intermezzo mit Kindern, die spielerisch sich in unwegsamem „Gelände“ vorarbeiten. In Berlin dominiert ein gewaltiges Stangengerüst die Bühne, das an geometrisches Gerät erinnert, einen Zirkel oder einen Sextanten. Beide Produktionen sind sich einig: Die Natur kennt keine Katastrophe, diesen Begriff gebraucht nur der Mensch. Danach bemisst sich die neue Position des Menschen, auch auf der Bühne.
Die Geschichte eines doppelten Spiels
Als Zuschauer, dem das Theater und seine physische Präsenz eher fremd und fern ist, begegnet man den neuen filmischen Inszenierungen mit – zugegeben skeptischer – Faszination. Und bekommt hier, nicht zum ersten Mal, vorgeführt, wie stark die beiden Künste ineinander verwoben sind. Jahrzehntelang wurde filmisches Erzählen durch die Montage und das Storyboard bestimmt, analysiert und propagiert durch große Filmautoren wie Sergej Eisenstein und Alfred Hitchcock, perfektioniert im Hollywoodkino. Einzelne, exakt komponierte Einstellungen, die hintereinander montiert zum kontinuierlichen Fluss des Erzählens wurden. Anschlussfehler zwischen den einzelnen Stücken zu vermeiden, für korrekte continuity zu sorgen, das war ein eigener Job im Studiobetrieb. Mit der Nouvelle Vague in Paris, danach dem New Hollywood, wurde diese Rigidität aufgebrochen, das Erzählen gewann an Offenheit. Jean-Luc Godard machte in „À bout de souffle“ den jump cut, den Sprung in der Kontinuität, zum Stilelement.
Wenn solcher Zwang zu Korrektheit und Kontinuität gelockert wurde, war oft Theatralisches im Spiel … wenn die Einstellungen länger und eigenständiger wurden, wenn eine Bewegung in einer Einstellung nicht mit der in der vorherigen zusammenpasste, aber eine Gesichtsregung, eine Intonation einfach intensiver war als in den anderen Takes.
In Momenten, da das Kino neue Techniken entwickelte, waren die praktischen Erfahrungen des Theaters erst mal gefragt. Als bei der Einführung des Tonfilms zunächst viele Theaterstücke verfilmt wurden, hat man vom Broadway Regisseure und Schauspieler geholt, die Inszenierungen waren, der schwierigen Technik der Tonaufnahmen wegen, sehr unbeweglich. In den Dreißigern waren dann die Broadwayleute begeistert, wie sie mit den Mitteln und Freiheiten des Kinos die Bühnenbeschränkungen ihrer Shows überwinden konnten, Busby Berkeley und Vincente Minnelli. Eine Lust, die man auch bei Sebastian Hartmann und seinem Team spürt, es gibt irrwitzige Momente einer Berkeley-Choreografie, wenn die Menschen kreuz und quer krabbeln, in verschiedenen Dimensionen, und über diese Bewegungen ist ein Labyrinth geblendet, das an alte hieroglyphische Zeichensysteme erinnert.
Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger hat das neue Medium Fernsehen sich in Amerika etabliert, und es war in diesen Jahren dem Theater näher als dem Kino. Die TV-Stücke wurden mehrere Tage geprobt in verschiedenen Dekorationen und schließlich zum Sendetermin aktuell gespielt – manchmal musste dabei für den Szenenwechsel eine kleine Pause einkalkuliert werden, bis die Kamera und der Kameramann den neuen Schauplatz erreicht hatte. Live-TV war dem Theater ganz nahe, eine einmalige Aufführung, ein Unikat, ohne Korrektur oder Wiederholung.
Das Cinemascope-Format hat dann Anfang der Fünfziger mit seiner breiten Bildfläche und den komplizierten Apparaten gern auf das Stückwerk der Montage verzichtet und mit langen, theatralisch inszenierten Szenen gearbeitet. Ausgerechnet Alfred Hitchcock, der Meister der Montage, hat Ende der Vierziger von einem ganzen Film in einer einzigen Einstellung geträumt und diesen Traum mit „Rope“ realisiert, der in einem einzigen Raum spielt, an einem Nachmittag, der langsam in Abendrot versinkt, zwei Studenten, die einen Mord verbergen wollen und doch versucht zu sein scheinen, ihn zu enthüllen. Durch komplizierte Bühnentricks wurden heimlich Dekorationen verschoben, um den Akteuren und der Kamera Raum zu verschaffen. Hitchcock musste schummeln, da die Kameras nur Filmrollen über zehn Minuten fassten, und den nötigen Schnitt kaschieren. Mit den Digitalkameras löste sich dieses Problem, als später Sebastian Schipper seine Bankraub-Elegie „Victoria“ drehte oder Alexander Sokurow seinen legendären „Russian Ark“, eine eineinhalbstündige Kamerafahrt durch die Petersburger Eremitage und die russische Geschichte.
Plansequenz nennt man solche Filmszenen, wenn eine Sequenz aus einer einzigen Einstellung (französisch: plan) besteht. In ihr verschmelzen die beiden Richtungen des Kinos, Inszenierung und Dokumentierung, Arrangement und Improvisation. Eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit steckt in diesen Plansequenzen, die sicher auch übers Theater führt. Die alte Einsicht, die am Anfang des Kinos steht und bis heute gilt: Die Kamera sieht mehr als das menschliche Auge.
Es ist wohl kein Zufall, dass die Filmzeitschrift Positif in diesen Streaming-Zeiten, in ihrer Novembernummer, sich ausführlich der Plansequenz widmet, ihren Meistern Orson Welles und Brian de Palma, Alexander Sokurow und Kenji Mizoguchi, und die vertrackte Dialektik der Plansequenz anspricht, die auch mit dem Theater zu tun hat. „Zu Beginn spielt die Plansequenz ein doppeltes Spiel mit der Montage und ihrer Kunst des Schnitts“, schreiben Laetitia Mikles und Erika Haglund. „Die Plansequenz ist die intakteste und purste Einstellung, bewahrt vor den Narben der Montage, die sich ganz dem Blick des Betrachters öffnet in ihrer Nacktheit, aller Kunstgriffe entblößt. Diese Authentizität aber ist in Wirklichkeit sehr fabriziert, ist oft trügerisch.“
Kann man die Zeit erzählen?
Der Berliner „Zauberberg“ strebt eine andere Authentizität an, die des Theatralischen, die natürlich nie trügerisch ist, ihrer Natur nach spekulativ. Es ist eine tastende, tapsige Inszenierung, von einer aufrichtigen Unförmigkeit, die bewegend ist, weil nur so neue Formen gefunden und erprobt werden können. Hartmann konzentriert sich auf das Kapitel, das von Hans Castorps Irren in einem Schneesturm handelt, das Verlorenheit und Ausbruch zugleich bedeutet.
Kann man die Zeit erzählen, das ist die Frage der Inszenierung, die Frage des Schriftstellers Thomas Mann und seines Jahrhunderts. Wie hängt das Erzählen mit der Zeit zusammen, mit dem Körper der Menschen, dem Fleisch, dem Leben? Gibt es Körper ohne Seele? Die Figuren auf der Bühne stecken in monströsen weißen Bodysuits, die ihren Bewegungen eine eigentümliche Schönheit vermitteln, diese wulstigen Brüste und wabbelnden Bäuche und rippendürren Skelette. Hartmann geht nah ran an die Gesichter, die weiße Schminke verschmiert mit dem Schweiß, der Blick wird immer wieder abgelenkt auf Figuren im Hintergrund, ein Gemenge von Perspektiven ineinander geschraubt. Das Sein des eigentlich Nichtseinkönnenden. Die Kamera sieht mehr als das menschliche Auge. Am Ende sinken Ascheflocken herab, wie Schnee, das ist so sublim, wie man es nur aus den Filmen von Mizoguchi kennt.
Das Ende einer Welt, markiert, auch im Roman, durch den Ersten Weltkrieg, aber auch der Anfang einer neuen Dimension der Wahrnehmung der Welt und des Denkens, für das der multiperspektive Rausch die linearen Strukturen ersetzt. „Das weiße Rauschen“, heißt es in der Zürcher „Holozän“-Aufführung, „das sind alle Visionen aller Menschen aller Zeiten in einem Augenblick … Wer das weiße Rauschen sieht, der wird sofort wahnsinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist. Dann wird er normal.“
Der Rausch, der Traum. „All that we see or seem is but a dream within a dream“, wird bei Hartmann Edgar Allan Poe zitiert. Er braucht die Totale, die leere Bühnenlandschaft, oder die extreme Nahaufnahme, das Gesicht. Die klassischen Formen des traditionellen Erzählkinos meidet er, den two shot, zwei Leute gemeinsam in einer Einstellung, oder die Alternation zwischen zwei halbnah gefilmten Personen im Dialog. Lieber umkreist er die Akteure, um sie in ihrer Unsicherheit zu ertappen, wie die amerikanischen Dokumentarfilmer der Sechziger es machten, Richard Leacock oder Donn A. Pennebaker und Chris Hegedus.
Die Kamera sieht mehr … Der kreative Moment im Kino, der, den es im Theater nicht geben kann, ist, wenn zwei Einstellungen im Schnitt aneinanderstoßen und – so Godards berühmte Formel – daraus etwas Drittes entsteht. Kreativ für den Filmemacher wie für den Zuschauer. Die jungen Filmemacher der Nouvelle Vague hatten diese Erregung verspürt, aber auch die jungen amerikanischen Fernsehmacher der Fünfziger, John Frankenheimer, Sidney Lumet, Arthur Penn mit ihren TV-Playhouses. Auch Sebastian Hartmann hat für solche Momente den Bühnenboden verlassen. Etwas Drittes entsteht aus dem Clash der beiden Einstellungen, etwas Ungeahntes, bislang Unsichtbares. In diesen Momenten wird das Kino erfunden, immer wieder aufs Neue.
Was die Kamera sieht … Am Anfang des „Zauberbergs“ gibt es die Alpen, aber man erlebt, wie sie Wellen schlagen. Das Festgefügte, Monumentale, Steinerne windet sich, gerät in Bewegung. Eine tolle Einstellung, ein Stück Animation, das schon die ganze Inszenierung in sich trägt. Der Animationsfilm gilt vielen als Inbegriff des Kinos, als cinema pur. //