Ikone und Ikonoklast
Der Regisseur und Dramatiker Meng Jinghui revolutioniert das Theater aus der Mitte des Systems heraus
von Claire Conceison
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)
Meng Jinghui ist seit zwei Jahrzehnten der wichtigste und auch erfolgreichste Regisseur Chinas und schreibt zudem auch selbst Theaterstücke. Seine künstlerische Laufbahn begann in den achtziger Jahren an der Pädagogischen Universität Beijing, wo er in der Frog Experimental Drama Troupe spielte. Auch später, während seines Graduiertenstudiums an der Zentralen Theaterakademie in Beijing und während der demokratischen Bewegung 1989, trat er erfolgreich auf. Während seiner Ausbildung an der Akademie konzentrierte er sich eher auf Meyerhold als auf den in China vorherrschenden sozialistischen Realismus, der von Stanislawskis Einfluss geprägt war.
Sein erstes Stück war „Sehnsucht nach weltlichen Freuden“ (Sifan) 1993 am Zentralen Experimentellen Theater in Beijing, das entstanden war aus einer Performance an der Zentralen Theaterakademie ein Jahr zuvor, einer Mischung aus einem klassischen Kun- Opernstoff aus dem 16. Jahrhundert und einem Text aus Boccaccios „Dekameron“. Das Stück mit dem Titel „Ich liebe XXX“ (Wo ai cha-cha-cha), das 600 Mal mit den Worten „Ich liebe …“ beginnt, war das erste Stück in China ohne einen direkten Handlungsverlauf. Zudem wurden zum ersten Mal Medien auf der Bühne eingesetzt.
Im Jahr 2000 adaptierte Meng Majakowskis Stück „Die Wanze“. Die Arbeitsweise, die er als Regisseur bei der Erarbeitung dieses Stückes entwickelte, nennt er „kollektive Improvisation“.
Meng verlegte die „Zukunft“ des Stückes, also den Moment, als Prisypkin und die Wanze nach 50 Jahren aufgetaut werden, in eine sozialistische Vergangenheit. So prangerte er das ungebremste Konsumverhalten und den Egoismus im gegenwärtigen China an. 2002 schrieb er „Kopf ohne Schwanz“ (Guanyu aiqing guisu de zuixin guannian), das die Themen Gier, Ruhm und die eigenen egoistischen Bedürfnisse verhandelt. Fünf Jahre später kam „Lebensansichten zweier Hunde“ (Liang zhi gou de shenghuo yijian) heraus, das Einflüsse des amerikanischen Vaudeville und des chinesischen Volkstheaters Er ren zhuan aufnahm. Es wurde ein Riesenerfolg.
2001 schlossen sich das Zentrale Experimentelle Theater und das Chinesische Jugendtheater zur Nationalen Theaterkompanie Chinas (National Theatre Company of China, NTCC) zusammen. Dort, am NTCC, arbeitet Meng bis heute hauptsächlich. Der Präsident des NTCC, Zhao Youliang, gab ihm die Freiheit, sein eigenes Studio, das PlayPlay-Theaterstudio, später in Meng-Jinghui-Theaterstudio umbenannt, aufzubauen und mit gewagten Stücken zu experimentieren, ohne dass die Zensur zu stark einschritt. 2008 mietete er ein Kino an und baute es zum Beehive-Theater (Fengchao juchang, auf Deutsch: Bienenstock-Theater) um, wo seitdem seine Stücke aufgeführt werden. Im selben Jahr wurde er künstlerischer Leiter des Beijinger Jugendtheaterfestivals, das junge Talente aus China fördert und gleichzeitig auch neue Stücke von außerhalb einlädt. Seine eigenen Stücke wurden in und außerhalb Chinas aufgeführt, beispielsweise beim Festival in Avignon 2011 („Ein Hirsetraum“, Anm. d. Red.) oder am Thalia Theater in Hamburg 2015 („Leben“ nach Yu Hua, Anm. d. Red.).
Meng Jinghui sagt, dass er vor allem von Meyerhold, Grotowski, Brecht und Foreman, aber auch vom Dadaismus beeinflusst wurde. In China heißt sein besonderer Stil – eine Mischung aus Dekonstruktion und Satire – Mengshe xiju (Meng-Stil-Theater). Seine Experimente, die auch wirtschaftlich erfolgreich sind, werden von Kritikern als widersprüchlich bezeichnet. Denn auf der einen Seite experimentiert er auf kleinen Bühnen mit jungen, unbekannten Schauspielern, auf der anderen Seite arbeitet er mit Stars, die in leicht verständlichen Stücken in großen Theatern auftreten. Viele griffen ihn auch deshalb an, weil er zu stark von seinem ursprünglichen experimentellen Stil abweiche. Meng setzt dagegen, dass Experiment und wirtschaftlicher Erfolg durchaus Hand in Hand gehen können. Je stärker er experimentiere, desto mehr Besucher kämen, je weniger Rücksicht er auf den Geschmack der Zuschauer nehme, desto mehr würden sie seine Spielweise schätzen.
Meng sieht Avantgarde als eine Bewegung in einer bestimmten historischen Phase. Er sieht sich selbst und andere Regisseure als Fenqing (wütende Jugend), die die Ideale einer früheren Generation wie Liebe, Prinzipientreue, Religion und die gesamte Lebensauffassung dekonstruieren wollen. Revolutionärer Mut, Humor, Ideologie, schonungsloses Demaskieren und Durchsetzungskraft sind charakteristisch für das experimentelle Theater, so wie er es sieht. Es sollte nach Freiheit streben, Mittelmäßigkeit bekämpfen und sich niemals nach den Vorlieben und dem Geschmack des großen Publikums richten. Der Erfolg des Theaters müsse darauf beruhen, dass es seinen eignen Idealen treu bleibt. Es müsse auch von denen geschätzt werden, die selbst diese Ideale verfolgen. Für ihn muss das Theater die Menschen erziehen, es muss deshalb auch gleichzeitig versuchen, ein größeres Publikum zu erreichen. Deshalb sei es ganz natürlich, wenn experimentelles Theater viele Menschen anspricht. Insofern ist auch die Namensgebung für sein Theater, Fengchao (Bienenstock) symptomatisch.
Mengs Proben bestehen zunächst aus Übungen, Spielen, einer offenen Auseinandersetzung über das Stück zwischen Schauspielern und Regisseur, bisweilen nah am Text, bisweilen charakterisiert durch körperliche Übungen. Erst ab der letzten Woche werden die Proben strikter, disziplinierter und auch autoritativer. Die Atmosphäre wird dann dichter, es wird auf das Ergebnis hingearbeitet. Während der Proben sind die Hierarchien sehr flach, was auch Einfluss auf die Aufführung hat. Das Publikum fühlt sich als Teil der Aufführung, nicht nur als Betrachter von außen. So können sich die Schauspieler ihre Spontaneität und ihre Energie auch nach vielen Aufführungen bewahren.
Nach Meng Jinghui sollte ein erfolgreiches Theater durch vier Elemente charakterisiert sein: Humor, Satire, Poesie und Kritik (Huanxiao, Fengci, Shiqing, Pipan). Progressives Theater, das diese Elemente enthält, kann dem Publikum neue Einsichten eröffnen. Es beeinflusst das Zeitempfinden der Zuschauer. Eine weitere Methode Meng Jinghuis, die Zuschauer mit einzubeziehen, sind regelmäßige Diskussionen nach den Aufführungen.
Gewöhnlich sieht man den Mainstream im Zentrum, während die Avantgarde an der Peripherie auf den Mainstream zurückwirkt und ihn veranlasst, selbst radikaler zu werden. Mengs Theater schafft es, den Mainstream herauszufordern, nicht von der Peripherie aus, sondern aus dem Zentrum heraus und gleichzeitig kommerziell erfolgreich zu sein; er entwickelt Stücke, die experimentell und dunkel bleiben, auch wenn sie sich gut verkaufen.
Seine Arbeiten könnte man mit folgenden Gegensatzpaaren beschreiben: obszön und ernst, profan und ehrwürdig, brutal und schön, derb und lyrisch. Die britische Theaterwissenschaftlerin Rosella Ferrari bezeichnet dies als „Pop Avantgarde“. In der Tat, entsprechend seinem theoretischen Ansatz, seiner Ästhetik und Sensibilität ist das Pop. Mengs Avantgarde ist charakterisiert durch ein besonderes Vergnügen, das man beim Zuschauen empfindet, eine Kombination von Körperlichkeit, Spielfreude und Stilisierung. Dekonstruktion, Ironie, interkulturelle Hybridität und mediale Experimente sind weitere Merkmale, die Mengs Stil zugeschrieben werden.
Mengs Regie ist offensichtlich beeinflusst von Brecht und Meyerhold. Theater, das auf den Körper fokussiert, fordert das konventionelle realistische Theater heraus, es untergräbt die Bedeutung des Textes und stellt den Körper des Schauspielers und seine Bewegungen in den Mittelpunkt. Es bezieht das Publikum ein, und es überschreitet die Grenzen zwischen Theater, Tanz, Musik und Medien. In Mengs Theater ist der auditive Aspekt der Aufführung ebenso wichtig. Chorische Arrangements, Töne, Laute, Sprachen, Stimmen, Rhythmus, Sprachspiele werden bedeutungsvoll, ebenso wie die Fluidität und Geschmeidigkeit des Textes, der noch in den Aufführungen verändert wird.
Meng Jinhuis Produktionen kann man in drei Gruppen unterteilen: Stücke, die die Zuschauer nicht verstehen (Kan bu dong); Stücke, die als Mainstream geschätzt werden; und Stücke, die soziale Probleme behandeln. Zur ersten Gruppe gehören „Ich liebe XXX“ und „Kopf ohne Schwanz“ oder „Blumen im Spiegel – Mond auf dem Wasser“ (Jinghua shuiyue). Zur zweiten Gruppe gehören „Die Liebe eines Nashorns“ (Lian ai de xiniu), „Bernstein“ (Hupo) und „Exotische Begegnung“ (Yanyu). Alle schrieb er zusammen mit seiner Frau Liao Yimei, die er während seines Studiums an der Zentralen Theaterakademie kennenlernte. „Die Liebe eines Nashorns“ ist sicher sein erfolgreichstes Stück mit über 1500 Aufführungen seit 1999, einschließlich einer Tour durch 60 Universitäten in ganz China mit über 100 Aufführungen.
Meng hat die Avantgarde in Richtung Mainstream gedrängt. Trotz seines Images als Anti-Establishment-Regisseur schafft er es, im Ausland auftreten zu können, Aufführungsgenehmigungen durch die Zensur zu bekommen und Auszeichnungen zu erhalten, sowohl im In- wie auch im Ausland. Seine Adaption von Yu Huas Novelle „Leben“ (Huozhe) wurde 2013 in Shanghai mehrfach prämiert: bestes Stück, bester Regisseur, bester männlicher Schauspieler (Huang Bo).
Zur dritten Kategorie gehören Stücke, die „die Gesellschaft herausfordern und sich direkt auf unser aller Leben beziehen“, so Meng. Dazu gehören die Adaption von Dario Fos „Zufälliger Tod eines Anarchisten“ zusammen mit dem bereits erwähnten „Lebensansichten zweier Hunde“, das seit 2007 ununterbrochen aufgeführt wird und das bislang mehr als eine Million Zuschauer gesehen haben. Schriftsteller, Reporter, Studenten, Intellektuelle, Künstler, Verkäufer und Schwindler sind die Charaktere in solchen Stücken. Ihre Kämpfe gehen um Authentizität und Künstlichkeit, um unerwiderte Liebe, um eine entmenschlichte Gesellschaft.
Meng gesteht, dass er die drei Arten von Stücken bisher nicht in einer einzigen Produktion zusammengebracht hat. Wobei sich seine Produktionen sowieso nicht vollends einer einzigen Kategorie zuordnen lassen. Für Meng Jinghui ist es wichtig, seinem früh gefundenen experimentellen Stil treu zu bleiben, ob die Stücke nun populär geworden sind oder nicht. Sein Impuls beruht auf Spielfreude und darauf, Theater mit dem Leben zu konfrontieren. Für ihn ist das eine Frage der Form und des Inhalts zugleich, aber auch des Geistes, der dahintersteht. Meng möchte nicht eine Kopie seiner selbst werden, er ist sich der Gefahr bewusst. Er arbeitet deshalb mit jungen Talenten zusammen und fördert sie besonders. Er kollaboriert aber auch mit alten Weggefährten.
Er sieht den Unterschied zwischen sich und der neuen Generation so, dass diese außerhalb des offiziellen Staatssystems arbeitet, während er innerhalb und außerhalb arbeitet. Er bewundert die jungen Regisseure, denn sie müssen ihre Mittel außerhalb des Systems finden, während er das Privileg hat, Unterstützung innerhalb des Systems zu finden. Er hat aber auch gleichzeitig seinen eigenen Workshop, der ihm Experimente erlaubt.
Meng Jinghuis Stücke illustrieren auch, wie bedeutsam für ihn und seine Landsleute allgemeine menschliche Themen sind wie Tod, Niedergang, Desillusionierung, Entmenschlichung, Verlust von Idealen, Verlust der eigenen Identität, die Schwierigkeit, mit anderen zu kommunizieren, seelenloser Materialismus, das Fehlen eines Sinns im Leben. Für Meng ist Theater die Kunstform, die am stärksten befreit, die am deutlichsten Mut und Hoffnung geben kann. Er gibt keine Antwort auf Fragen in seinen Stücken, aber er glaubt, dass das Sehen und Erleben der Stücke bereits ein Teil der Antwort ist. //