Theater der Zeit

Gespräch

„Durch Umständlichkeit zum Wesen der Dinge“

von Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt

Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)

Assoziationen: Sprechtheater

 Szene Der haarige Affe, Regie: Frank Castorf, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2018
Szene Der haarige Affe, Regie: Frank Castorf, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2018Foto: Thomas Turin

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HANS-DIETER SCHÜTT: Charly Hübner, wozu spielen?

CHARLY HÜBNER: Schön.

Schön was?

Dass die einfachste Frage gleich zu Beginn kommt. Is’ wie die Frage: Was ist Kunst?

Erfolgreich vom Weg abzukommen.

Hm. Klingt gut, ist wahrscheinlich aber falsch.

Wie heißt das geflügelte Wort? Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten kommen, werden Fragen warten.

Wozu spielen … Vielleicht so: Im Spiel kann man das Leben angenehm vereinfachen.

Stimmt das denn?

Man kann auf der Bühne vieles von dem weglassen, was einen sonst ziemlich plagt. Es tut beim Spielen nicht mehr wirklich weh, was ansonsten schmerzt.

Das Leben.

Ich würde präziser sagen: die landläufige Realität. Spielend lässt man das Öde weg, dafür bringt man anderes auf den Punkt.

Was?

Wesentliches, im besten Falle. Schillernd, wenn möglich.

Was ja auch so furchtbar peinigt, ist all das, was auf digitaler Ebene tagtäglich über uns kommt.

Ja. Aber das kommt nicht, das wird geschüttet. Du steigst in die S-Bahn und guckst Fernsehen, das ist eine ständig laufende Schleife dröger, an dir herumfressender Bilder, immer, überall. Du wirst, wenn du nicht aufpasst, fortwährend zerstreut. Das ist in grässlicher Art auch eine Art Klimawandel, in seiner Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen.

Fake News.

Die sind inzwischen eine eigene Welt, die uns umzingelt, uns bedrängt und uns die Luft abdrückt. Die Lüge übt eine ganz eigene Herrschaft aus. Das macht unsicher und ratlos und misstrauisch. Es gibt ein böses Spiel mitder Welt, das ist leider kein Spiel – aber es gibt eben dieses Spiel in der Welt, und das hat was mit Freiheit zu tun, mit schöner Verantwortungslosigkeit. Wie sie von Kindern ausgeht. Wir stehen am Spielfeldrand und geben ungefragt Kommentare ab. Wir nehmen uns heraus, ständig zu rufen: „He, Leute, das stimmt doch alles nicht! Hier stimmt doch überhaupt nichts!“ Und keiner kann uns was.

Gib dem Menschen eine Maske, und er sagt die Wahrheit.

Im Spiel darfst du lügen, ohne dass es gleich eine Schelle gibt oder ein Krieg ausgelöst wird. Mit dem Problem schlage ich mich rum: dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit, von Realität und Fantasie. Ich bin interessiert – und verwirrt.

Das Künstlerthema.

Na ja (lacht), vielleicht ist das bei mir auch nur die soziale Mitgift, ich komme aus der Gastronomie und vom flachen Lande, von den einsamen Landstrichen, also auch vom Alkohol – aus einer Welt, da gehören Betäubungsstrategien zum Standard.

Wo nicht?

Anders kommst du nicht durch die Erträglichkeit.

Wozu spielen … Weil einem die echte Welt also zu viel ist.

Oder zu wenig. Oft ist sie gar nüscht. Im Spiel fallen die Moralfesseln. Ich bin kein Mörder, darf mir aber den Mörder auf den Leib holen; ich bin auf der Bühne jemand, auch wenn ich nur so tu, als wär ich dieser Jemand.

„Spielkinder“ nannte Jürgen Holtz die Schauspieler. Glücksmomentesammler.

Davongekommene. Tänzer auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken.

Es ist eine leidige Erfahrung: Immer sollst du der Welt entsprechen, immer sollst du etwas Erlerntes für das Eigene halten. Andauernd und möglichst erfolgreich soll man so tun, als wär man der und der.

Is’ man nicht.

Eindeutig definierbare Menschen sind langweilig.

Gibt es sie denn? Ist man die und der? Ist man nicht eher ein Wechselbalg? Es ist doch erstaunlich, wie viele Meinungen in einem einzigen Menschen Platz haben. Sobald ich eine Meinung heftig vertrete, mobilisiere ich in mir sofort auch das Gegenteil.

Öffentliche Auskunft tendiert dazu, allgemein zu bleiben.

Technisch schwierig für mich! Zu viele Details bedrängen! Gegen das Allgemeine ist Kunst ein Gegenmittel.

Ist man verantwortlich für das, was man spielt, was man schreibt?

Es ist nicht wichtig, was ich spiele oder schreibe. Es ist nicht wichtig, was ich will. Entscheidend ist die Wirkung.

Die können Sie nicht beeinflussen. Man nennt das Aura.

Das sagen Sie, von außen. Ich sag, ’ne Nummer kleiner: Ich kann nüscht dafür (lacht).

Suche nach dem, was unerledigt ist

Aus der mechanischen Physik ist die schöne Auskunft bekannt, etwas habe Spiel. Das bedeutet: Bewegung ist möglich.

Was dich bewegt, damit kannst du spielen. Was aber erledigt ist, das bringt keine Bewegung mehr zustande, da gibt’s keine Bewegtheit mehr in dir. Also musst du nach dem suchen, was noch offen, was noch unerledigt ist. Her mit allem, was die Dinge bunter, grauer, dunkler, heller macht.

Auch dazu sagen manche: Lüge.

Nö, es ist Ermöglichung.

Gehen Sie auf die Bühne, weil Sie ein Ziel vor Augen sehen?

Eher gehe ich da hoch, weil ich keines vor Augen habe. Aber doch eins sehen will. Das treibt an.

Sie spielen nicht, weil Sie Einsichten haben, sondern weil Sie uneinsichtig sind?

Uneinsichtig … Kann man so sagen. Unerzogen. Darüber hat schon Feeling B in der DDR gesungen: „Wir wollen immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne.“ Ein Reiseführer durch alle Zeiten ist das, auch durchs Heute. Bei der Erziehung lernt man, sich auf was anderes zu konzentrieren als auf sich selbst. Am Ende kommt hauptsächlich raus, dass man von dir sagen kann, du seist „gut erzogen“. Aber ist denn dies das Ding, um das es geht im Leben?

Die Lüge soll lächeln, der Schein soll glänzen, die Wunden tragen schicke Pflaster.

Und das Elend singt die lustigsten Lieder. Auch fragwürdig – mindestens.

Allerdings: Man kann die Welt letztlich nicht überwinden.

Erstens: Natürlich nicht! Zweitens: Doch! Mit Fantasie.

So lernt man aber auch den Verlust kennen.

Unser treuester Begleiter.

Was schützt davor?

Nur das Spiel mit diesem ganzen Zeug, gegen dieses ganze Zeug.

Vladimir Nabokov schreibt vom Jungen, der aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt. Der Tag dieses Berichts, so der Schriftsteller, sei aber nicht jener Tag, an dem die Literatur in die Welt kam. Sie kam in die Welt, als ein Junge aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt – und es war gelogen.

Sich auszudrücken, das hat die Menschheit mit Kreidebrocken gelernt, die nicht aus den Läden von MacPaper stammen. Spielen heißt, aus dem Sichtbaren in etwas Unsichtbares gelangen zu wollen. Ist das nicht ein schönes Schlusswort für unser Gespräch? Tschüs, Herr Schütt.

Netter Versuch. Vergessen Sie’s. Beschreiben Sie Ihr anfängliches Berufsgemüt, etwa am Theater am Turm in Frankfurt am Main, Ende der neunziger Jahre.

Arbeit bei Tom Kühnel und Robert Schuster. Das war ein großes, offenes Heranreden ans mögliche Wesen einer Aufführung. Ich redete als Schauspieler bei den Proben mit, aber für eine vordere Stimme hatte ich zunächst viel zu viel Respekt – vor dem, was ich vom Theater wusste und kannte. Und ich kannte und wusste ’ne Menge, das kann ich schon so sagen.

Ein Widerspruch.

Stimmt. Gelesen hab ich wie blöde. Aber dieses Wissen, diese Kenntnis machten mich nicht unbedingt sicherer, im Gegenteil, der Respekt hemmte mich.

Und was war’s, das Sie sicher machte?

Am Anfang nicht viel. Eigentlich null. Ich spürte, auf der Bühne funktioniert bei mir ein gewisser Bauernwitz, und über eine Art Grundmasse verfügte ich auch. Aber ein Vorkommnis war ich ganz und gar nicht. Natürlich hatte ich Brecht und Stanislawski gelesen. Schweres Gepäck, das würde mir Kraft geben, dachte ich, es war aber Gepäck, das lastete auch, es war das Gepäck, das ich vergessen musste beim Spiel. Kannst auf den Wiesen nicht Heu wenden mit dem Buch in der Hand. Und: Zu meinem Empfinden gehörte ein tiefer Zweifel, ob das alles überhaupt Sinn macht und ich darin glücklich werde. Im Kopf umzingelt von den Größen des deutschen Theaters. Herr Peymann, Herr Langhoff, auch diese Typen um Castorf, und dann gab es noch Flimm und Baumbauer. Hamburg, Köln, München – Galaxien sonst wo. Aber an der Schauspielschule war es anregend konkret und ermutigend geworden: Ostermeier, von Treskow, der verrückte Kühnel, der analytische Schuster. Ehrgeizige, tolle Jungs. Wär doch schön, sich mit denen zusammenzutun und gemeinsam was auszuhecken. Viel besser, als auf die Anfrage aus der Intendanz des Deutschen Theaters zu warten. Nicht, dass ich die Sehnsucht nach dorthin leugnete, aber woher sollte ich den Mumm nehmen, darauf zu hoffen.

Das Theater am Turm in Frankfurt wurde die große weite Spielwiese.

Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Tom Kühnel und Robert Schuster, die anfangs noch als Regieduo inszenierten, Bernd Stegemann als Dramaturg, im Ensemble waren Christian Tschirner, Jenny Schily, Felix Goeser, Bettina Schneider, Eckhard Winkhaus, dazu Christian Weise und Suse Wächter als Puppenspieler, Jan Pappelbaum baute die Bühnen.

Zuvor das Schauspiel Frankfurt.

Ja, dort hatte Intendant Peter Eschberg den Mut, eine ganze Truppe zu engagieren, ein Riesenvertrauensvorschuss. Aber es war uns bewusst, dass diese gesamte Konstellation nicht lange halten würde, die Energien drängten naturgemäß auf den Markt, der Markt machte jedem und jeder seine verlockenden Angebote …

Das Theaterleben als Konkurrenzbetrieb.

Vom Sport her kannte ich den Wettkampfgedanken, du musst mithalten, du musst durchhalten, auch dagegenhalten. Musst stark sein. Musst gucken, was läuft. Andererseits war mein Narzissmus sehr begrenzt. Ja, klar, ich hatte ein Empfinden dafür, wer ich in etwa bin, was mir gefällt, was mir guttut, aber nie war ich auch nur in Ansätzen überzeugt, das Maß der Dinge zu sein. Welcher Dinge auch immer. Am Anfang meiner Theaterzeit dachte ich, mach dein Ding, kümmer dich nicht ums Drumrum, aber ich weiß noch, wir probten Tschechow, und mich drängte es zu fragen, rund um die Figur, ich warf irgendwie Steine ins Wasser und die Kreise interessierten mich, die sich immer weiter zogen, ich spürte meine Aufwändigkeit, ich merkte, wie umständlich ich auf andere wirken musste. Mich beschäftigte das: Warum hatte Tschechow Bock, genau so zu schreiben, wie er schrieb? Warum sind die Sätze so und so gebaut? Warum nicht so wie bei Dostojewski, der ein Serienautor war.

Jede Zeile brachte Kopeken.

Wieso diese Hysterie bei Schiller, diese Atemlosigkeit bei Kleist? Ja, ich bin durch Umständlichkeit zu den Dingen gekommen, somit auch zu etwas größerer Sicherheit, mit der Zeit. Zugleich kommst du ja durch Umständlichkeit leicht ins Hinterhertraben, du bist der Stolperer, wo alle schon rennen. Seltsamerweise wirkst du begriffsstutzig, wo du doch gerade was begreifen willst. Da half Sten Nadolnys Buch über die Entdeckung der Langsamkeit sehr.

Kommt einer zu sich, rütteln ihn die anderen: Komm endlich zu dir!

Lina sagt …

Ihre Frau Lina Beckmann.

Lina sagt: Mach es nicht so kompliziert! Stimmt wahrscheinlich, aber ich kann’s nicht anders. Es muss so sein, wie es ist – umständlich eben. Es gibt doch ständig Fragen, wenn du in den Tag hineinstiefelst. Welche Stimme hast du am heutigen Proben- oder Vorstellungstag, wie sehr quietschen die Gelenke. Es ist wie im Sport, die Muskeln müssen warm sein, wenn du das Parkett oder den Rasen oder die Laufstrecke betrittst. Wie kriegst du das heute alles hin? Worum es geht, sind diese ersten Peitschenhiebe auf den Brummkreisel. Wenn der dann in Schwung ist, dreht er sich von allein. Aber wie kommt er in Schwung? Von unterwegs kam ich vor kurzem zu einer Geheimagent-Vorstellung am Schauspielhaus. Auf der Autobahn nach Hamburg plötzlich ein Unfallstau. Hitze. In mir stieg die Nervosität, dann die Müdigkeit hoch. Die nahm ich mit ins Schauspielhaus. Dann war auch noch der Souffleur krank, Corona. An solchen Vorstellungstagen – und das zudem bei einem Castorf-Marathon – kannst du dir nur aufmunternd aufs Gemüt klopfen und sagen: Tja, fang irgendwo und irgendwie an. Ich hörte an diesem Abend die Texte wie neu, ich hörte mich wie einen Fremden, aber das Erstaunliche war: Alles ergab doch einen Sound.

Sound. Wichtiges Wort?

Es geht um Abläufe, klar, aber entscheidend ist der Sound. Der erst macht dich. Der erst macht die Truppe. Der erst macht die Aufführung.

Als Peter Handke seinen Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht schrieb, ging er jeden Morgen, bevor er sich vors weiße Papier setzte, für eine Stunde in den Wald bei Paris, Goethe lesen oder was Griechisches.

Ich hab’s nur ’ne Nummer profaner, zum Beispiel beim Polizeiruf ließ ich meinen Bukow vorm jeweiligen Drehtag boxen. Das Boxen war mein Goethe.

Dieses Sportmotiv …

Ein muffliger Typ, dieser Bukow, nicht sehr sozial, das mit dem Boxen treibt die Figur. Ich frage mich bei jeder Figur, welcher Sport zu ihr passt.

Joseph Conrads Geheimagent?

Der macht gar nichts, der sitzt und grübelt.

Jetzt eine so grobe wie halbseidene These: Leute Ihrer Statur, Kurt Böwe, Thomas Thieme, Peter Kurth, Ulrich Wildgruber, Josef Bierbichler, bleiben spielend gern, wie sie sind. Gewicht, Verdrängungsmasse genügt, auf den ersten Blick. Der Verwandlung bedarf es nicht.

Na ja, weiß nicht … Verwandlung ist doch der größte Spaß!

Ich sag doch: grob, halbseiden. Wolfgang Dehler fällt mir noch ein, Dieter Pfaff, Josef Ostendorf, Dietrich Körner, aus fernen Leipziger Tagen der legendäre Hans-Joachim Hegewald …

Der sein, der man ist … Ich sehe da die Gefahr, dass du irgendwann nur noch bei dir landest – also bei dem, was als Du gilt, also der eindeutig Definierbare – und das war’s dann? Es ist schwierig für mich, auf solche Art wiedererkennbar sein zu sollen oder zu müssen, also routiniert die Sprüche zu liefern, wie man es erwartet, wie ich sie nun mal drauf hab – das ist schwierig bis niederschmetternd. Ich strecke Fühler aus. Nach vielen Seiten. Das passiert quasi von allein.

Da verliert man leicht die Balance und die Übersicht.

Unsinn. Dagegen wehrt sich ein innerer Ordnungsdrang. Ordnung gewissermaßen als Notwehr. Also: Das Grundprinzip der Verwandlung hat mich schon sehr interessiert. Immer schon. Verwandlung, nicht Verstellung, das muss man ja auch erst mal begreifen. Das Wichtigste mit den Jahren war die Erfahrung: Jede Arbeit sagt dir, wie sie’s will. Hermann Beyer sagte immer: Wir treffen uns in der Mitte, die Figur und ich. Beim Film merkte ich: Du musst nicht in die Kamera reinspielen, die holt sich, was sie braucht – aber auf der Bühne musst du schon was mehr reingeben in den Saal. Film ist also noch mal was ganz anderes. Besonders extrem war das natürlich beim Bukow, man lebt ja gewissermaßen zusammen, über so einen langen Zeitraum. Über zehn Jahre Kommissar!

Dann Schluss!

Ein Mann Mitte vierzig, kein Krawattenträger, natürlich nicht, kann schon nicht mehr richtig rennen, wenn er einen Flüchtigen verfolgt. Ich wollte nicht, dass er ein alternder Kommissar wird, wie so viele andere, ich wusste nicht mehr, wohin dieser Typ sich noch entwickeln sollte. Soll er doch nach Hause gehen oder nach Sibirien fahren oder …

Herr Hübner, jeder Schauspieler ist ein Clown.

Nicht nur wir – alle. Aber was auch immer ich spiele, ich bleibe der „Carsti“.

Das ist Ihr Vorname: Carsten.

Ja.

Wie wurde daraus Charly?

Das ist der krasse Gegensatz von Elternhaus und Schule. Muddern sagte „Carsti“, Mitschüler „Charly“. Charly, wie immer es gemeint sein mochte, nahm ich als Adel: Charlie Brown, Charlie Chaplin. Wenn man in dieser Linie einmal Charly ist und also Hochstapelei betreibt, will man nie wieder zurück zu Carsten. Und später sagten auch die Eltern Charly.

Ein Wort fiel schon: Präsenz!

O Gott: Ausdruck, Präsenz! Das klingt, als wenn du gegen Marmor klickst. An so was darf ich gar nicht denken, wenn ich morgens in den Spiegel gucke (lacht).

Jürgen Holtz schrieb, er wolle als Schauspieler auch mal „das Schwein sein, das in die Steckdose guckt und sagt: ‚Komm raus, du feige Sau!‘“

Herrlich! Aber manchmal sagt der Regisseur nur: „Guck die Wand an, mehr ist nicht nötig.“ So war das bei dem Hausmeister in der Fernsehserie Hausen. Alles reduziert bis zum Gehtnichtmehr. Wände anstarren, die spielen die Hauptrolle, nicht du. Der du doch als Hausmeister ein Typ bist, der das Rechthabenmüssen und Besserwissen geradezu erfunden hat. Aber irgendein unbekanntes Außen, das dich bedrängt, ist stärker. Spiel den Druck, der auf dir lastet! Aber tu nichts! Da stehste und glotzt (lacht).

Hausen war eine Horrorserie bei Sky, neben Ihnen spielen Lilith Stangenberg, Tristan Göbel und Alexander Scheer.

Hausmeister Jaschek Grundmann überwacht das Haus mit Kameras. Die Heizungsrohre sind alle verstopft, und überall drückt eine geheimnisvolle Flüssigkeit durch die Wände. Klebriger Schleim. Das Gebäude, in dem wir drehten, war einsturzgefährdet, es lag im Norden Berlins, in Buch. Abgesicherte Teile des Hauses, es war das ehemalige Regierungskrankenhaus der DDR, hatte man extra für uns abgesperrt. Es gab kein Internet da, das steigerte ein Gefühl von Isolation und Untergang. Die Dreharbeiten brachten die Dealer der Gegend gegen uns auf, wir störten ihre Kreise an diesem Unort. Diesem Jaschek Grundmann drückt sich ein Außen auf, das er nicht beherrscht. Seltsam, wie du dieses Empfinden mitnimmst. Gruselig. Schön. Also: Manchmal gar nichts machen beim Spiel, aber manchmal holst du eben die Lucie raus wie John Ford im Western.

Das ist dann die alte Bergsteiger-Regel beim Abstieg: Spring ins Geröll – oder meide es!

In Neustrelitz, in meiner Anfängerzeit, wohnte ich eine Weile bei einem sehr erfahrenen Schauspielerehepaar, Dieter Unruh und Bettina Mahr. Sie waren genau das, was man leichtfertig Provinzgrößen nennt, ohne zu erfassen, dass Provinz das Wesen der Welt ist. Ja, das kleine Stückchen Erde, auf dem ich stehe und stolpere, ist mein Schlüssel zum Kosmos. Einen anderen hab ich nicht. Spätabends, nach Vorstellungen, fuhren Unruh und ich mit dem Trabant nach Haus, das lag abseits, in einer Straßenkurve am Wald, wir wechselten uns am Steuer ab, einer hatte in der Kantine getrunken, einer fuhr. Ich hatte in irgendeiner Inszenierung eine kleine Rolle, ich gab ordentlich Gas auf der Bühne, ich dampfte und drückte, und nie habe ich den Satz vergessen, den Dieter Unruh auf einer unserer Heimfahrten sagte, karg, knapp, aber deutlich: „Du, schrei immer erst, wenn’s Grund zum Schreien gibt.“ Das saß, das sitzt immer noch. Bilde eine gewisse Tiefe aus, erst daraus erwächst dem Eisberg die Spitze. Unser Beruf ist: Ausdruck. Da ist aber immer etwas drunter, und genau das gibt die Befehle, genau das ist zuständig für das Gewicht, mit dem du gehst und stehst.

Eben fiel der Begriff Provinz.

Vielleicht versteht man es nur dort, wo alles niedrig erscheint, die Träume hoch zu hängen.

Provinz kann das Ende sein, aber es ist doch das wahre Labor fürs Leben?

Ich habe das in Neustrelitz erlebt, später auch am TAT in Frankfurt: Es kommt darauf an, dass in einem Theater ein Wille wirkt, in solchen Momenten erwacht ein Haus. Und dann passiert eben etwas, das man „Ensemble“ nennt.

Charly Hübner, wie entsteht eine Gestalt?

Im besten Sinne hat es was vom Flohmarkt. Die Proben, das ist ein wunderschöner Sonntag mit vielen lockenden Buden, am Ende ist so vieles zusammengekommen und gesammelt worden, wir gehen umher und suchen aus, na, was soll das nun für eine Wohnung werden, die wir uns einrichten wollen. Und plötzlich sind es nur noch zehn Tage bis zur Premiere, dann werden gemeinsam schnelle Entscheidungen getroffen. Erst hast du wochenlang draufgepackt bei den Proben, immer mehr, dann entdeckst du, was du alles weglassen kannst. Erst Prunk, dann Askese. So ist es bei Karin Henkel, bei Karin Beier.

Und Frank Castorf?

Ist für mich Jazz. Du klinkst dich in etwas ein, mit einem eigenen Ton, den du erst mal finden, dann behaupten, auch mal wieder zurücknehmen musst. Sei wach für deinen Part. Bis in die Füße hinein geht das: Wann öffnet sich für dich der Spalt in der Tür, zack, rein! Behaupte dich. Frank lässt dich ziemlich allein, er vertraut dir auf eine fast gefährliche Weise (lacht) – weil er weiß, du vertraust auch ihm. Vieles bleibt ungesagt. Das läuft einfach, wie die legendären unterirdischen Flüsse, das hat seine ganz eigene Kartografie. Ziemlich lange undurchschaubar.

Die spürbare Steuerung durch Regie kommt in Schüben?

Frank fasst in Abständen seine Wahrnehmungen zusammen: Ja, ganz gut, nee, langweilig; doch, doch, kann man so machen … Was bei ihm immer heißt: Man könnte es auch ganz anders machen, aber so, wie du’s machst, kann man’s eben auch machen, na, dann mach mal. Es klingt oft wie ein müdes: Na, wirst schon sehen, was du davon hast – es ist gewiefte Kontrolle und doch immer auch leidenschaftliches Dabeisein, das vor allem, du darfst dich sicher fühlen. Wenn du dir selber was zutraust. Wildnis, nicht Zoo.

Sicherheit in der Kunst …

Danach hatten Sie mich vorhin schon gefragt. Na ja, eigentlich ist das Blödsinn: Sicherheit in der Kunst. Du darfst dich nur in einem sicher fühlen – im Wagnis. Klingt jetzt auch wie ein Klischee, ich weiß. Als sei das Wagnis die pure Freude.

Ist es nicht?

Nö. Beim Yank im Haarigen Affen las ich Monate vor den Proben das Stück, und ich habe von Anfang an überlegt, richtig unter Qualen und Versagensängsten, Mann, wie komme ich bei diesem Kohleschipper auf See in so eine Einfalt hinein, ein Kerl ist das, der nicht nur ungebildet ist, sondern auch unfähig zu Bildung. So ein Trumm, so ein Gorilla, der einem Gorilla aber natürlich nicht wirklich die Kraft reichen kann, so eine schwere, mächtige Langsamkeit hat der, er ist eine von den sehr speziellen Figuren, sozial ungeformt. Getto, unterste Ebene. Der aber lieber stirbt, als sich weiter verachten zu lassen. Der kennt keine Zwischenstufen. Die Art kenn ich von Rostocker Hooligans. Wenn du denen als Schauspieler was von Zwischenstufen flüsterst, dann fragen die barsch und bullig zurück: Junge, was für Zwischenstufen? Aber wie macht man das so, dass es dich als Zuschauer reinzieht …

Sie haben beim Haarigen Affen gesagt: „Ich durfte Rimbaud sprechen.“

Rimbaud schüttelte mich, in die Hybris, in die Wut, ins Schäumende hinein. Ich wollte Mäßigung, fand aber Beben.

Etwas zu dürfen: Demut, Dank?

Ja. Du gehst ins Dunkle des Kampfes, des Lebens hinein. Damit spielen, als wär’s. So wie wir’s vorhin besprochen haben.

Hinein „in den Dreck der Ungleichheit“, wie Volker Braun über Rimbaud schreibt. Der haarige Affe war Ihre erste Arbeit mit Castorf.

Frank zieht durch, was allem den Boden der Ordnung wegzieht. An der Übersicht ist das Beste: sie zu verlieren.

Nicht so spielen, als ergäbe sich eins aus dem anderen. Nichts in ein Nacheinander bringen, was auch übereinander geht?

Man kann spielend jede Haltung einnehmen, aber man sollte davon ausgehen, dass man sich von ihr auch wieder verabschieden kann. Schon nach Sekunden.

Immer kann der Mensch anders handeln, als er gerade handelt?

Wäre das nicht so, wie sollte man dann an widerspruchsvolle Entwicklung, an Überraschung von Lebensprozessen glauben? Mut und Feigheit, Sehkraft und Blindheit, Güte und Gewalttätigkeit, Liebe und Hass, Kraft und Ohnmacht – das bildet Klumpen, die von Situation zu Situation in anderer Rezeptur geknetet sein können. Als Schauspieler summiere ich Möglichkeiten, wie man sich in ausgedachten Lagen verhält.

Oft ist es bei Castorf so: Frag nicht nach Handlung; halt nicht dagegen, auch wenn’s nervt und dich früh ermüdet; halt einfach aus. Die Monologe ziehen lange Bahnen durch den Dämmer. Gib nicht auf. Gib dich hin.

Immer erfahren wir erst durch Entzug, was fehlt.

Das meint?

Versunkene Welten, versoffenes Geld. Vertane Liebe sowieso. Bei Castorf steckt alles drin, was sich unter europäischer Kultur fassen lässt. Das ist also ’ne ganz pralle Kiste. Du wirst angezogen und ausgekotzt. Vollgepumpt und leergesogen. Mahlstrom und Fleischwolf. Es gibt diese zwei großen Kräfte, die die Welt in Bewegung halten: Liebe und Geld – oder Sex und Nahrung, wie ein Verhaltensforscher jüngst festhielt. Und mir scheint, im Kern geht es Frank, bei allen offenbaren Extremen und Nacktheiten und allem Dröhnen, um tiefen Humanismus. Liebe oder Geld? Liebe! Und das ist ein Theater, dem ich ein Ganztagsprogramm wünsche, alle Türen offen, bis nachts, man kann rausgehen und reinkommen und natürlich Bier trinken. So verliert der Ort seine Isolation, er wird Anschlussgebiet. Theater hätte somit Anschluss an den Zug des Lebens, an die Vermischung der Dinge, ans Chaos des Alltags.

Nach Der haarige Affe kam – erneut bei Castorf und am Schauspielhaus – besagter Geheimagent von Joseph Conrad.

Das ist erst mal die undramatischste Rolle, die man sich vorstellen kann. Aber er wird in ein Drama geschubst, das ihn verschlingt. Sehr defensiv. Nicht sehr fleißig, der Mann. Der lebt nicht, der tropft. Da sitz ich mit Josef Ostendorf an der Rampe, wir reden und reden, einundzwanzig Seiten Text. Ich merke bei den Aufführungen ganz schnell, wie Josef gerade drauf ist, wie er heute gestimmt ist, und ihm geht’s ähnlich mit mir, wir tasten und scannen uns ab, es gibt ein inneres und ein äußeres Tempo. Die beeinflussen einander. Die sind nie gleich. Mal sitzen wir da eine ganze Stunde, mal vierzig Minuten.

Als Spieler haben Sie sozusagen Ihr jeweils tagesaktuelles Gemüt auf der Zunge? Oder eben nicht?

Du merkst sofort, in welchem Maße du den anderen heute mit Pausen schonen musst oder mit Schnelligkeit kommen darfst. Dem geht es mit dir genauso. Dabei merkst du, wie lebendig so eine Szene ist.

Das braucht eine große Freiheit bei der Arbeit, ein ganz anderes Selbstbewusstsein als beim gewöhnlichen Schauspiel.

Gewöhnliches Schauspiel? Das ist, wenn man den Beruf ernst nimmt, sowieso ein Widerspruch in sich. Gewöhnliches Schauspiel ist keins. Du musst dich bei Frank von Anfang an selber als etwas Besonderes sehen, auch wenn du dich scheiße fühlst. Man ist es also wert, ohne Vorbedingung in so was wie Kunst überführt zu werden, so, wie man eben ist. Pur. Ohne dass schon vorher eine Form gefunden wird, in die dann eine Persönlichkeit hineingepresst werden kann. Es geht nicht darum, die Psychologie einer Figur gewissermaßen am Schreibtisch dingfest zu machen und dann den Menschen da reinzustopfen. So nur entstehen Bühnensituationen, in denen wir umherirren …

Die Zuschauer auch.

Wir alle versuchen gleichzeitig, die Situation zu beherrschen. Beschleunigung oder Verlangsamung spielen da eine ganz entscheidende Rolle. Da kann die Castorf-Bühne wie eine Zentrifuge sein, alles wird immer schneller und chaotischer, aber dann kommt ein Punkt, wo es sehr artifiziell wird und man das Ganze durchaus mal mit Kunst verwechseln kann (lacht).

Chaos hin und her. Er arrangiert doch aber, sorgt für Struktur.

Er arrangiert dich, klar, nur enthält er dir den Text vor (lacht). Aber irgendwann, sagte Marc Hosemann, irgendwann während der Aufführungen verstehst du, was er da zusammengeschraubt hat.

Karin Beier, Karin Henkel, Frank Castorf – Regie ist Instinkt, der überzeugt, egal, wie viele Worte man dafür aufwendet. War das bei Jürgen Gosch auch so?

Unbedingt! Jürgen Gosch, wie ich ihn kennenlernte, brauchte nur sehr wenige Worte. Seine Regie sagte dir hauptsächlich: Du selbst bist verantwortlich für das, was du tust. Und so mische ich mich mit Eindrücken über die Figur ein, mit dem, was die Regie sucht und evoziert, und die Figur mischt sich in mein Leben ein, schleicht sich hinein, bemächtigt sich meiner. Und danach ist jeder wieder allein.

Erst danach?

Stimmt, nicht erst danach. Es geht ja immer, in jeder Situation jeder Geschichte, um das Alleinsein. Letzten Endes. Oder um die Einsamkeit. Darum, wie schwer es ist, das zu unterscheiden. Es war vor fast zwanzig Jahren, ich spielte in der Serie Der Dicke mit, ach, Dieter Pfaff, Gott hab ihn selig. Es war pure Fernsehware, scheinbar nichts Aufregendes, ich hatte eine völlig unbedeutende Rolle, ich war der Obdachlose Harry Simon – und doch empfand ich das als Schlüsselerlebnis: diese Einsamkeit des Mannes, der wohnt allein, lebt vom Verkauf der Obdachlosenzeitung, ich erzähl mit dieser Figur von jemandem, der in Not ist, und mir war plötzlich, als habe mich eine Erleuchtung getroffen: In Not zu sein, das ist das Los aller Leute.

In irgendeiner Not mit dem Alleinsein oder der Einsamkeit ist jeder?

In Robert Seethalers Buch Der letzte Satz über Gustav Mahler heißt es: „Es gibt keine Hilfe, dachte Mahler. Und es gibt keinen Trost, man ist alleine in dieser Welt.“ Aber dann steht da auch, dass in der Trostlosigkeit auch so etwas wie Glück liegen kann, ein Glück der Erleichterung. Nur vorübergehend, aber immerhin.

Der Satz, irgendwie seien wir doch alle Eingesperrte, Betrogene, Verdammte gar, ist Kitsch. Aber irgendetwas gibt es dort, unter der Straße unserer Sicherheit. Eine Mahnung, eine Drohung, ein Schatten Gorkis oder Dostojewskis, der uns daran erinnert, dass wir so unerreichbar weit von den Losern nicht sind. Dort genau siedelt Castorf, siedelt Karin Henkel. Und Gosch. Auch Karin Beier.

Herr Hübner, wir sprachen über Ordnung.

Als Notwehr.

Ja. Sind Sie ein Ordnungsfreak?

Nein.

Wenn wir uns zu Gesprächen verabreden, spüre ich: Sie achten Ihren Terminkalender, aber Sie vergöttern ihn nicht, und Sie bringen ihn nicht in die Gefahr, dass er zum Terroristen gegen Sie wird. Sie sind vielbeschäftigt, aber kein Gejagter. Trotz genauer Absprachen die Grundhaltung: Es kommt, wie’s kommt. Im Rennen mit Ihren Terminen sind Sie ein Sprintsieger.

Na ja. Ich bin im Clinch mit meinem Kalender immer der beste Zweite (lacht). Ich bin ein Mensch, den man leicht verwickeln und ins Vibrieren bringen kann.

Wieder die Statur: Ihre spricht dagegen.

Wir waren uns doch einig: Statur ist nicht alles.

In Ihren Termin-Mails kommen einander ähnelnde Sätze vor: „Tut mir leid, aber hier ist gerade wieder mal total was los … Hier ist eben immer was los … Ich komme noch nicht dazu, meinen Kalender zu ordnen … Also, hier ist einiges los, ich bin der Kreisel, und die Peitsche knallt, oder bin ich die Peitsche – was ist besser …“ Wann ist denn ein Tag ein guter Tag?

Ich möchte eigentlich am Abend eines jeden Tages sagen können: Heute war ich mit mir, meiner Fantasie, meiner Energie, meiner Sehnsucht dort, wo ich noch nie gewesen bin, und heute habe ich mit meinen Augen oder meiner Einbildungskraft gesehen, was ich noch nie gesehen habe. Das ist möglich. Ohne Fahrkarte. Ohne Reisebüro. Ohne realen Ortswechsel.

In Ihrem Beruf ja.

In jedem Leben. Nur eben: bei jedem Menschen anders.

Stimmt es, Sie hatten mal eine Art Aktenordner, mit einem Fragekatalog zur inneren, zur seelischen Ordnung?

So hochtrabend, wie’s bei Ihnen klingt, war’s nicht. Frankfurt hat mir als jungem Schauspieler zugesetzt, diese radikale Ich-Gesellschaft. Mein Körper vertrug das nicht. Ich kam nach Frankfurt und wusste nicht, was Small Talk ist. Wir waren intuitiv als Gruppe ans Theater gegangen, das war wie ein vorauseilender Schutz. Aber ich hatte trotzdem meine Schwierigkeiten. Ich kam aus meiner ganz anderen Sozialisation, ein bisschen ideologisiert, ein bisschen nach dem Großen und Ganzen fragend, ein bisschen zurückhaltend, mehr als ein bisschen an Einordnung gewöhnt.

All das, von dem Sie gesagt hatten: Raus hier!

Was einem angehört, wird man nicht los, auch wenn man’s fortwürfe. Die Westler guckten, halb mitleidig, halb genervt: Was hat er denn? Und da traf ich auf eine Ärztin mit japanischem Hintergrund, die sagte: Red nicht über die Welt, bevor du nicht über dich selber ein bisschen mehr Klarheit hast – stell dir Fragen, an dich selbst. Interessant fand ich, dass sie sagte: Ich bin Heilerin, nicht Ärztin, und wenn du wiederkommst, habe ich schlecht gearbeitet. Diesen Ordner gibt es nicht mehr, aber die Beschäftigung mit ungelösten Fragen, die ist geblieben, das ist mir zur Gewohnheit geworden, wie Haarewaschen.

Und was drückt gegenwärtig besonders?

Die Zeit. Aktivität in so viele Richtungen ist möglich. Ich merke, es läuft einiges rund, aber Vorsicht! Also: Ich entwickle einen Sinn fürs Innehalten.

Um was zu tun?

Um über die Phasen nachzudenken, die ich bislang gelebt habe. In jüngster Zeit sind fünf Menschen gestorben, die irgendwie zu meinem Leben gehörten. Sind unerwartet gestorben. Sofort bewertest du dein Leben anders. Du merkst: Es wird Kasse gemacht. So war das auch bei Vaters Tod. Dieses Erschrecken, dieses Hochblicken: Moment mal, was war das denn! Du interessierst dich plötzlich für Zwischenstände. Für den Zwischenstopp wie bei der Formel Eins: Was ist mit deinen Reifen? Haben Sie noch genügend Griff? Prüf den Tank. Gibt’s noch mehr Welt als nur immer Monaco?

Wie sehen Sie Ihr Naturell?

Ich war als Kind ein Zappelphilipp.

Das hat sich gelegt?

Geduld, Geduld. Sie wuchs mit den Jahren. Herkunft lässt sich auf Dauer nicht leugnen. Auf dem Lande weiß man, dass man niemals stärker als das Wetter ist, und vom Wetter hängt viel ab, Ernte oder Missernte. Immer fällt der Natur was ein, um dir Arbeit zu machen, um dich zu prüfen, um deine Geduld zu trainieren.

Sie sagten, Sie strecken Fühler aus.

Tentakel, so wie eine Qualle.

Qualle? Jetzt sind Sie aber nicht sehr charmant sich selbst gegenüber.

Wieso? In der Ostsee soll es eine Qualle geben, die hat Tentakel, mehrere Meter lang. Manchmal komme ich mir auch so vor: ein Wesen mit Tentakeln, die überall sich verglühen. Aber klar, es gibt Momente, da sind die Tentakel eingezogen, es gibt sie dann gar nicht.

Und Sie sind dann keine Qualle mehr.

(Lacht) Stimmt. Dann bin ich eher ein glotzender Bison (lacht wieder). Stehe auf einer Wiese und malme Gras.

Gras malmen ist Arbeit.

Es gibt Rollen, da bau ich was, und es gibt Rollen, da bau ich gar nichts.

Arbeitsverweigerung.

Exakt. Gras malmen.

Was denken Sie über Virtuosität?

Ich habe dazu ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite betreibt man als Schauspieler Selbstbeobachtung: Was kann der Körper? Zu welchen Höhen turnt er sich hinauf? Wie artistisch ist man?

Das schafft doch Genuss, Befriedigung.

Man ist sozusagen Herr der Lage, man steuert, wie es jeder Leistungssportler tun muss. Man formt, man turnt. Virtuosität, das ist ja ein bisschen so, als sei einem nicht mehr nur das Essen wichtig, sondern auch das Besteck. Andererseits gibt es den Sog, den die Figur ausübt, du bist spielend Teil eines Energiefeldes, das über dich bestimmt, dem du dich fügst, dein Körper ist in einem fordernden Sinne Diener. Als Kind hatte ich einen wiederkehrenden Albtraum. Wir waren in Oberhof in Urlaub, in diesem Thüringer Winterkurort, im Hotel „Panorama“, das ist gebaut wie ’ne Sprungschanze, und im Traum stehe ich auf dem Dach und springe hinunter, auf Skiern, ich springe so, wie man sich in den Anlauf einer Schanze abstößt. Immer wieder dieser Traum und die Angst, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verliere. Schauspiel ist Körper- und Geistkontrolle, zugleich muss man Kontrolle vergessen. Grenzstellenarbeit. Um die Grenze wissen und sie vergessen. Ich versuche, auf den Punkt hin leer zu sein, simpel zu bleiben, mich nicht zu verzetteln.

Thomas Bernhard: „Immer an der Grenze der Verrücktheit / niemals diese Grenze überschreiten / aber immer an der Grenze der Verrücktheit / verlassen wir diesen Grenzbereich / sind wir tot.“

Ja.

Heißt Virtuosität: Man muss seine Tricks kennen?

Meine Agentin sagt, du hast einen Werkzeugkasten, und die Frage ist, ob du zwölf oder nur zwei Schraubenzieher drin hast. Im Laufe der Jahre füllt sich dieser Werkzeugkasten … Wir machten Faust II in Frankfurt, Regie führte Tom Kühnel, gemeinsam mit Bill Forsythe, dessen Ballett-Compagnie war einbezogen. Forsythe war nicht an Literatur, an Goethe interessiert, er wollte Bilder bauen. Ich gab den Lykeus, „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. In Erinnerung ist mir geblieben, wie Forsythe über den Körper sprach. Im Tanztheater kannst du Tempo und Körperzentrum ganz anders steuern als im Schauspiel. Bill interessierte der Körper. Und Sprache, unser Heiligtum? Nee, sagte Bill, konzentrier dich auf den Ellenbogen, erzähl es vom Ellenbogen her. Klingt ein bisschen absurd, aber ich habe begriffen, dass es möglich ist.

Interessant, was Sie sagen. BE-Legende Ekkehard Schall erzählte: „Ich fieberte nach gestischem Übersprung. Das ging so weit, dass ich mir ausspann, die nächste Rolle nur mit der Stimme, mit einem Vokal, die übernächste vielleicht nur mit den Händen zu spielen. Wie wär’s, mal eine Rolle nur mit dem Rücken zum Publikum zu spielen? Das hat der große Albert Bassermann mal so gemacht, Mitte der zwanziger Jahre, die Weigel hat es uns erzählt. Es war Ibsens Stützen der Gesellschaft. Ein Mann, den das Schicksal fortwährend peitscht. Man peitscht nicht Gesichter, man peitscht Rücken – das erhob Bassermann zu seiner gestalterischen Idee. Er spielte mit dem Rücken zum Publikum, der Rücken tanzte, krümmte sich, reckte sich, wurde weiche Masse oder harte Mauer. Das Publikum war erschüttert. Das Gesicht Bassermanns aber blieb ganz privat, man sah es ja nicht, die Weigel war entsetzt, dass er ihr sogar mitten im Spiel zuzwinkerte – während sein Rücken auf bestechende Weise schwere Tragödie spielte. So was durchfuhr mich wie ein Blitz. Es musste also möglich sein, den kleinen Finger einer Hand zum Hamlet zu erheben?“

Auch Gosch kümmerte sich null um die Überbetonung von Sprache, wichtig war: Was du tust, darf nicht langweilig sein. Das ist sozusagen das elfte Gebot, auf der Bühne ist es das erste Gebot.

Sie sprachen im Zusammenhang mit Jürgen Gosch vom Instinkt des Schauspielers. Bedeutet das: nicht denken?

Für mich als Schauspieler heißt das: nicht auf dem falschen Feld herumzudenken. Wir erzählen mit unseren Geschichten Wahrheit: Erstens kommt es anders, zweitens, als man denkt. Damit so ’ne Geschichte aber wahrhaftig wird, braucht es auch die andere Wahrheit: Erstens kommt es anders, zweitens, weil man denkt. Das bedeutet für den Regisseur was anderes als für mich, einen Schauspieler. Andrei Tarkowski hat gesagt, er teile seinen Schauspielern nie mit, worum es im Ganzen bei einem Film gehe.

Wichtig ist nur immer die Szene, die gerade gedreht wird?

Es wäre doch Quatsch, mit Frank Castorf oder Matti Geschonneck über Dramaturgie reden zu wollen, das haben sie im Blick, dazu brauchen die so einen Flachland-Erwin wie mich nicht.

Das ist kokett!

Fakt ist, dass ich mich schnell langweile, etwa in den Pausen bei Dreharbeiten. Ich kann schweigen, aber manchmal ist das falsch. Wir haben uns damals in Frankfurt die Mitbestimmungsprotokolle der Palitzsch-Zeit reingezogen, bei Stein an der Schaubühne gab es das ja auch. Ist schon wichtig, der eigenen Intuition eine Stimme zu geben. Manchmal ist es gut, wenn Schauspieler was sagen, aber manchmal nicht. Es gibt Momente, da muss ich lange nachdenken, was ich sage, und es gibt Momente, da muss ich lange nachdenken, ob ich überhaupt was sage. Ich bin ein Grummler.

Wie bitte?

Lina zum Beispiel kommt total aus dem Instinkt. Erste Probe, und schon hat sie, meistens jedenfalls, eine ernstzunehmende, eine tragende Setzung. Das ist toll, weil es trotz der weiteren Proben, auf denen naturgemäß vieles hinzukommen wird, doch meist Bestand hat. Bei mir ist das ganz anders. Ich grüble rum, beschäftige mich mit dem Autor, mit allen möglichen Fragen, da kommt kein Tempo auf bei mir, kein Tempo, keine frühe Entscheidung für den Zugriff, das nervt mich, aber ich kann nicht anders. Ich sagte ja: die Umständlichkeit. Lina hat eine ganz andere Wahrnehmungsökonomie als ich. Sie ist ein Spielkind, wie Jürgen Holtz das formuliert hat. Beim Schiff der Träume in Hamburg stieg sie aus terminlichen Gründen etwas später in die Arbeit ein. Bei ihrer ersten Probe als Servicekraft des Schiffes …

Lina Beckmann war grandios in dieser Inszenierung von Karin Beier, sie vibrierte, wieselte, stolperte durch dieses Europäische Requiem ganz aus Flüchtlings- und anderen Krisen – ausgerüstet mit einer rührend komischen Sprachstörung, die aus ihrem Namen Astrid „Arschtritt“ machte. Sie spielte erschütterndes Ungelenk, war mit patschigem Tollmut eine Arsch- und Seelengetretene. Eine Gedemütigte des bürgerlich kalten Arroganzmiefes, der von der Passagierkaste des Schiffes ausging. Einmal trat sie an die Rampe und weinte, tief herzeinschneidend, das Unglück ihrer Nichtigkeit in den Saal.

Und bei dieser besagten ersten Probe sollte sie bloß mal, gewissermaßen um sich aufzuwärmen, den Speiseplan für die Passagiere vorlesen. Die Probe war im Grunde beendet. Wir lagen flach, und Lina war ohne sichtbare Mühe in ihrem Element. Da war alles schon angelegt. Als habe sie Proben gar nicht mehr nötig. Mich fasziniert das. Ich komme eher aus den Problemen, sie dagegen aus ganz natürlichen Spielzusammenhängen, ihre Geschwister sind ja ebenfalls Schauspieler. Mein Unter- und Hintergrund ist diese ganz andere, diese sehr spezielle nichtfiktionale Welt, beim Denken eine Zeitlupenwelt. Mein Weg zur Kunst war nicht vorgezeichnet, die Kunst wurde mir, glücklicherweise, zum zufälligen Superfluchtweg.

Was ist das Wichtigste, wenn Sie sich einer Rolle nähern?

Mich inständig um deren schwächsten Punkt zu kümmern. Den herausarbeiten. Diese kleinste Größe, die hat mich immer interessiert. Weil man an dieser Schnittstelle all die Schwierigkeiten kennenlernt, die eine Figur bedrängen.

Sie stehen hinter jeder Entscheidung, die die Figur für sich selber trifft?

Als Spieler ja. Die Figur kann für Zuschauer lächerlich sein, kann mörderisch sein, kann feige sein und moralisch elend – aber wenn ich die Kritik an den Reaktionen der Figur gleich mitspiele, dann müsste man sich als Zuschauer fragen: Warum handelt der Typ denn weiter so, wie er handelt, er weiß doch offenbar längst, wie kritisierenswert er ist? Nein, nein, ich bin ihr Hüter.

Im Leben ist es die Geschichte, die ein Urteil über den Menschen fällt. In der Dramatik ist es die Story, die zu einem Urteil über die Figuren führt.

Ja. Aber der Schauspieler hat nicht das Recht, seine Gestalt darstellerisch bloßzustellen.

Waren Sie ein rebellischer Schüler?

Ich empfand mich als normal, nicht als rebellisch.

Normal heißt: natürliche Reaktionen zu haben.

Ja. Ich empfand es zum Beispiel als sehr natürlich, zum Beispiel beim feierlichen Auftakt der Oberschulzeit, in der Aula der Schule, kein FDJ-Hemd zu tragen. Feierlich sollten wir uns kleiden? Kein Problem: Jeans und T-Shirt. Wir waren vier, die sich zu dieser Kleiderordnung entschlossen. Es folgte umgehend die Vorladung zum Direktor. Uns wurde sehr deutlich ans Herz gelegt, bei der nächsten feierlichen Veranstaltung das FDJ-Hemd zu tragen. Na gut. Und was geschah, bei einer weiteren schulischen Feier, etwa acht Wochen vor dem Mauerfall? Wir trauten unseren Augen nicht: Zwei Mädchen stellten sich vors Auditorium, zogen die blaue Bluse aus und sagten, das sei ihr letzter Tag in der FDJ gewesen. He, was war das denn! Ein Blitz schlug ein. Dass so was möglich war und kein großer Bestrafungshammer mehr niederrauschte …

Litten Sie am Kollektivismus in der DDR?

Gelitten habe ich nicht – aber unter cool hatte ich Teenie mir schon was anderes vorgestellt.

Ist kollektiv totalitär?

Heute sehe ich überall Uniformierte. Die gleichen Anzüge, die gleichen gesunden Salate mittags am Rewe-Imbiss.

Ja. Meine Erfahrung im Westen war: Alle predigten dauernd ihre unverwechselbare Individualität und delegierten den Kollektivismus an den Osten. Kollektiv war gleichgesetzt mit totalitär. Aber möglicherweise liegt doch in diesem schrankenlosen, oft genug nur eingebildeten Individualismus von heute eine viel größere, eben auch ungeheure Konformität. Im Schatten der kollektiven Strukturen der DDR konnte man durchaus das Ich trainieren.

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