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Auf der Kippe zur Wirklichkeit
Die Arbeiten des Dichters und Vortragskünstlers Wolfgang Krause Zwieback schweben zwischen Start und Landung. Der Künstler im Gespräch mit Ute Müller-Tischler
von Wolfgang Krause Zwieback und Ute Müller-Tischler
Assoziationen: Akteure
Herr Zwieback, ist der Horizont eine Kugel?
Für mich unbedingt, ja. Ich gehe gern auf den Horizont zu. Aber wenn ich mich entferne, krümmt er sich und wird eine Kugel. Deshalb habe ich damals auch den Titel meines Buches so genannt.
Mittlerweile bezeichnen Sie Ihre Arbeiten als sinnlichen Surrealismus. Was muss man sich darunter vorstellen?
Mehr als diese zwei Worte braucht man kaum zu sagen. Es geht nicht nur um ein surreales Prinzip, das alles auf den Kopf stellt, nicht nur auseinandernimmt und neu zusammensetzt. Für mich ist es mehr eine unendliche Sehnsucht, Hand in Hand mit Sprache und Bildern zu inszenieren. Sehnsucht trifft und verliert sich in Landschaften. „Der Horizont ist ein Kugel“ handelt von der Suche nach idealen Landschaften. Landschaften des Denkens, Fühlens. Ich öffne die Tür zum Universum … Es zieht … und die Luft steht. Früher, als die Erde noch eine Scheibe war, da konnte man tagelang sehen, wie jemand auf einen zukommt, und seitdem die Scheibe eine Kugel ist, kann es schon sein, dass man am Horizont einen Schornstein entdeckt und nicht weiß, ob das eine Fabrik oder ein Schiff ist.
Worum es immer wieder geht, ist der besondere Moment. Muss man dafür auf der Suche sein, oder wird man überrascht?
Den besonderen Moment kann es zu jeder Zeit geben, das muss nichts Außergewöhnliches sein. Die großen Ereignisse und die kleinen Dinge, und man muss ihnen nicht nachjagen, sondern sie empfangen. Ich könnte eine Stunde alleine an diesem Tisch sitzen und warten. Ganz pur ohne Fernsehen und Radio. Es kann dabei viel passieren, obwohl eigentlich nichts geschieht. Man sieht dann Zusammenhänge und kann denken. Auf diese Weise schalte ich die Zeit ringsum aus. Und in so einem besonderen Moment gewinne ich Zeit.
In Ihren Texten spielt die Zeit oft eine Rolle. Man hat den Eindruck, als würden Sie durch Wortlandschaften und Assoziationsfelder jagen.
Ich fahre zwar wahnsinnig oft zwischen Leipzig und Berlin und sonst wo hin und her – aber eigentlich täuscht das. Da findet keine Jagd statt, eher versuche ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Gedanken zu sein, und zwar dann entspannt. Man wandert so zwischen den Welten. Welten, die in sich stimmen, aber nicht zusammenpassen. Das ist herrlich uferlos.
In Ihren Performances wird man das Gefühl nicht los, dass der Text direkt auf der Bühne entsteht, dass sich die Worte aneinanderreihen und immer wieder neue Bilder und Sinn bauen. Was ist da dran?
Das ist gut so. Bei den meisten Stücken aber steht jedes Wort fest, nur wenn ich eine Ministerrede halte oder einen Hafen beschreibe, kann das von Tag zu Tag eine völlig andere Schattierung bekommen. Und gerade das verdichte ich in Behauptung und Erfindung so weit, dass Zuschauer und Zuhörer die Chance bekommen, ihre eigenen Geschichten zu entdecken. Das funktioniert am besten, wenn sich jemand zurücklehnt und nicht jedes Wort verstehen will. Wenn man sich hingibt, laufen Geist und Körper gewissermaßen mit und werden verführt. Was habe ich mal gesagt? Der Kopf ist ein Satellit des Magens. Man kann es ja auch einmal so sehen. Das Zentrum ist nicht etwa nur der Kopf. Ich denke durch den Kopf hindurch nach oben offen. Das Denken ist ganz wichtig, aber es ist genauso wichtig, dass ich damit spiele, dass ich nicht zu sehr auf das vermeintliche Wissen baue, sondern ebenso auf alles andere. Es wird sinnlich. So wie beim Kochen. Ich kann nach Kochbuch kochen, aber ich kann auch frei variieren.
In Ihren Ansprachen behaupten Sie oft Themen vom Rand her. Ihre Reden lassen sich immer leicht an und führen die Zuschauer dann plötzlich ins Absurde, zum Schluss treffen Sie aber doch genau den Kern.
Ist das so? Ich finde mich nicht am Rand. Es gibt eine Übung, da schreibt man am besten in der Nacht Geschichten ohne nachzudenken. Corinna Harfouch und ich haben das oft gemacht. Wir haben uns nachts hingesetzt, und einer sagt einen Begriff, und dann geht es los, jeder eine Seite zu dem Begriff. Oder eine Zeichnung. Und dazu dann eine Geschichte. Das ist trainieren, ohne zu denken … oder denken, ohne zu trainieren …
In meinem letzten Stück gibt es zwei Freunde, die per Sie sind und sich jeden Tag treffen, der Türmer und der Lehrer, und über das Leben reden, über die Welt. Am Schluss fährt der Türmer dann hoch auf den Turm und sagt: „Reden ist ein Fest. Und zwischendrin nicht reden ist auch ein Fest. Denken ist ein Fest. Und zwischendurch nicht denken kann auch ein Fest sein, wenn man nicht immerzu denkt.“ Darum geht es, in der Stille einen Partner für das Laute zu finden, für das Volle und das Schnelle. Zwischen diesen Extremen gibt es enorme Möglichkeiten. Das habe ich gewollt. Gerade das mit der Stille. Man muss dafür nur einen Abstand gewinnen.
Wie machen Sie das mit dem Abstand?
Durch Einsamkeit … auch in einem vollen Café … Dadurch, dass ich mich nicht andauernd update … sondern eher die Besonderheiten aufsauge … Oder die Zeit arbeitet für mich … Ich schweige viel, um viel zu reden, damit meine Auftritte ein Konzentrat werden.
Obwohl Sie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert haben, liegt Ihre Kunst vor allem in der Sprache.
Ich komme von den Bildern und fand die Sprache. Wir haben so eine fantastische Sprache! Dieses Deutsch. Ich habe vor ein paar Jahren festgestellt, dass ich die Begriffe, die Worte befreien möchte. Ich möchte sie in ihren ganzen Möglichkeiten nutzen. Viele Worte sind vergewaltigt und verbraucht. Ich will ihnen ihren Ursprung zurückgeben. Dazu gehört natürlich auch jemand, der das liest oder hört und entsprechend offen ist. Wenn man das Wort loslässt, auf die Wiese zum Tanzen schickt, wie ich es so gerne sage, dann kann es aufatmen. Und so ist es auch mit Bildern und dem Nichts zwischen den Gedanken. Eine Möglichkeit, ein Ausgangspunkt, unbedingt auf die Theaterbühne zu kommen.
Melancholie und Vergeblichkeit sind auch dabei, die sich durch Ihre Texte ziehen. Ohne die geht es in der Poesie nicht.
Ich denke nicht so. Es ist eine Gratwanderung, was das betrifft. Es gibt Bilder, wie das mit dem Stabhochspringer, der mit Höchstgeschwindigkeit läuft und sich hochschwingt und dann im Handstand auf dem Stab verweilt. Was ist denn daran bedrückend?
Klingt fantastisch, aber wie fühlt es sich an, da oben auf dem Stab zu stehen?
Ich habe vor kurzem einmal in einem Büro gesessen, mit dem Chef. Wir kennen uns schon ewig. Als er plötzlich eine Flasche Rotwein herausgeholt hat, habe ich ihm die Geschichte mit dem Stabhochspringer erzählt. Zuerst hat sich bei ihm nichts geregt. Und dann fing er an: „Ja, aber, Zwieback, das da oben auszuhalten, das ist doch schrecklich! Es muss doch weitergehn.“ Daran hat sich gezeigt: Man ist unnötig vertraut mit dieser Art von Weltsicht. Es gibt viele, die das überhaupt nicht nachvollziehen können, obwohl das so ein klares Bild ist!
Ihr Kunstverfahren nennen Sie gern räumliches Erzählen. Welche Rolle spielt dabei die Bühne?
Die Bühne ist ein Raum in einer Ausnahmesituation … Hier kann eine Erfindung auf der Kippe zur Wirklichkeit balancieren. Man kann mit den Möglichkeiten der Bühne alles behaupten. Und verzaubern … und die Zuschauer fühlen dann: So ist es, obwohl es so nicht ist.
Es gibt genug in Ihren Arbeiten, für das Sie keine Theaterbühne brauchen. Wie zum Beispiel in den Jahresblättern, den Kalendern. Sind das zumindest theatrale Räume?
Ja, das stimmt. Gerade in den Jahresblättern kreieren wir Figuren, die auf die Welt treffen und fast immer einsam und allein sind. Dadurch gewinnen wir einen besonderen Fokus in eigentlich gewohnter Umgebung und unendlich viel Kostbares.
Die Jahresblätter entstanden bisher mit dem Fotografen H. Christoph Bigalke. Wie war die Zusammenarbeit zwischen Ihnen?
Wir sind ein eingespieltes Team, was das betrifft, und sind einfach losgezogen, fast ohne Drehbuch. Es gab vor allem Ideen, die wir versucht haben umzusetzen. Aber hauptsächlich sind wir mit unserem Ansatz los, dass die Geschichten bereit sind und dass wir bereit sind. Mal machen wir ein Angebot, mal der Ort, die Situation und mal die Geschichte.
Beim Blättern entsteht aber so etwas wie ein dramaturgischer Blick, als inszenierten Sie sich selbst. Was hat es damit auf sich?
Es gibt eine Figur, den Ingenieur, der schaut aus einem Gully (eine Betonskulptur) inmitten einer Sandlandschaft, einer Baustelle, und der Text dazu ist: Er war genau an der richtigen Stelle groß rausgekommen … aber er war zu früh.
Sie spielen schon mit gewissen Typen oder Archetypen. Auffällig ist ein Hang zur Uniform. Wo kommt das her?
Ja, das ist interessant. Man könnte sagen, ich ziehe in den Kampf für die Sinne oder die Poesie. Natürlich bin ich kein Gewaltmensch. Aber ich muss mich verkleiden, damit ich eine gewisse Kraft erlange, so als würde man seine Rüstung anziehen und ginge dann … ne? Klar, irgendwie so etwas ist das! Ich lasse meine Kostüme keiner bestimmten Zeit zuordnen. Alle Figuren spielen in einer Unzeit oder einer Zeit X, die nicht genau definiert ist. Wenn man so dünne Tanzschühchen anzieht, ist man doppelt so leicht. Und plötzlich kann man Dinge tun, die sonst gar nicht möglich sind.
Auf manchen Bildern scheinen Sie zu schweben.
Das war beim letzten Jahrgang der Jahresblätter ein Thema, diese Sprünge, das Abheben. Es muss alles in der Schwebe bleiben … „Schweben geht nur ohne Start und Landung“ … das finde ich überhaupt nicht abgehoben. Durch das Schweben erlangt man neue Kräfte.
Aber jetzt, im Kalender 2014, sind Sie nicht mehr zu sehen und stehen selbst hinter der Kamera.
Ich wollte mich näher heranzoomen und eigentlich Makros machen, Ausschnitte. Aber ich bin dann doch wieder ein Stück weggegangen und bei diesen Arrangements gelandet, die ich entweder gefunden oder selbst inszeniert habe. Ich nenne das performative Stillleben. Der stillste Moment kann unglaubliche Energien und Dimensionen erlangen. Da fällt mir vieles ein. Es entstehen Geheimnisse, wenn ein alter Partyscheinwerfer zum Beispiel ein Licht macht wie ein ganzer Regenbogen. Dann fand ich ein kleines Schachbrett und habe die Schachfiguren ins Essen getan, das ich gerade zubereitet hatte. Und so ergaben sich alle möglichen Geschichten. Das ist herrlich, wie die blauen Birnen da. Ich möchte auch gar nicht auflösen, was es bedeutet. Denn da liegt die Kraft, und das Potenzial.
In Ihrer jüngsten Produktion „Woher ist Wohin“, die gerade in Leipzig herauskam, versuchen Sie sich aber an Definitionen. Wie kommt das?
Im Kern geht es darum, dass bei jeder Klärung neue Fragen auftauchen, die vorher nicht da waren. Und wenn jemand anfängt, das auseinanderzunehmen, fällt es auseinander. Das ist es!
„Ja, nur mal angenommen, wenn ein Radikaler mit unverschämtem Charisma und Brusthaar an die Macht kommt und immer wieder verkündet, dass Männer mit Brusthaar höhere Wesen sind und Frauen nur im Schutz von Brusthaar auf die Straße dürfen, warum machen dann so viele mit? Der wird doch nur stark, weil die alle mitmachen, anstatt den Teufel zu scheren.
Schlimmer wird es dann noch, wenn das einer verkündet, der gar kein Brusthaar hat – oder wenn das so verstanden wird, dass Männer mit Brusthaar nur im Schutz von Frauen auf die Straße dürfen … und andere wieder sehen das so … dass die Männer nur in Bekleidung von Frauen …“
Das ist sehr kompliziert, es drückt aber aus, wonach ich suche. Da muss man kühn sein, da kann man auch über das Ziel hinausschießen. //