Theater der Zeit

Vorwort

von Christine Richter-Nilsson und Paul Bargetto

Erschienen in: Dialog 9: Voices from Undergroundzero – Neue Theaterstücke aus New York City (10/2008)

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In den letzten Jahren hat die kulturelle Globalisierung auch in Amerikas Theatermetropole ihre Spuren hinterlassen. Die New Yorker Theater setzen zunehmend auf Auslandsimporte. New York läuft Gefahr, seinen Status als Theaterschmiede der Avantgarde zu verlieren, wie er einst von Theatern wie dem La MaMa, Mabou Mines und The Living Theater begründet wurde. Sogar der kommerzielle Broadway ist in vielerlei Hinsicht eine Kolonie des Londoner West-End geworden.

Keine leichten Zeiten für amerikanische Nachwuchsdramatiker, denn auch die zahlungskräftigeren Off-Theater setzen mit Blick auf Europa auf Gewinn versprechende Namen oder produzieren einen neuen Autor erst, wenn er sich als sogenannter „Art-Star" bereits in der Off-Off-Szene erfolgreich durchgesetzt hat.
Amerikanische Theaterinnovation findet weit weg von den kommerziellen Theatermeilen um den Times Square statt: Off-Off-Broadway, Downtown, unweit des Ground Zero, wo sich die meisten der 99-Plätze-Spielstätten der freien Theaterszene befinden, die von kleinen not-for-profit-Theaterkompanien mit winzigen Budgets betrieben und bespielt werden. Die kleinen Bühnen in Kellern, ehemaligen Läden, Büchereien oder stillgelegten Schwimmbädern bilden den Nährboden für eine neue Generation amerikanischer Dramatiker, die aus allen Bundesstaaten (und sogar aus dem Ausland) hierherziehen, um die Form zu erneuern und ihre Stimme auf die Bühne zu bringen.

Voices from Undergroundzero versammelt einen Querschnitt der besten zeitgenössischen Dramatik aus NYC und stellt sie erstmals in deutscher Sprache vor. Die Stücke der acht New Yorker Nachwuchsdramatikerinnen und -dramatiker wurden für das gleichnamige Festival am Theater Bielefeld ausgewählt. Die Übersetzungen entstanden in enger Zusammenarbeit mit den Autoren in NYC und Bielefeld sowie dem S. Fischer Theaterverlag und bilden die Grundlage für die deutschsprachigen Erstaufführungen und szenischen Lesungen, die vom Theater Bielefeld in Kooperation mit dem Schlosstheater Moers und der Theaterakademie Hamburg eingerichtet werden.

Idee und Name für das Festival in Bielefeld gab das New Yorker Undergroundzero Festival, das Paul Bargetto gemeinsam mit Collective:Unconscious 2007 ins Leben gerufen hat. Als weiteren Experten in Sachen Theater-Nachwuchs konnte das Summer Play Festival gewonnen werden, das nach alljährlicher Ausschreibung aus einer Flut von circa 600 Stücken aus ganz Amerika die acht besten Autoren auswählt, um deren Stück zum ersten Mal in New York in einer vollen Inszenierung vorzustellen. Aus der diesjährigen Auswahl wird GRÜNES MÄDCHEN in Bielefeld präsentiert. Den Theater-Studiengängen der Columbia University School of the Arts haben wir Emily Conberes Stück DER NACHFOLGER zu verdanken sowie das Gastspiel THE TED HAGGARD MONOLOGUES in der Regie des Absolventen Michael Rau, der ebenfalls in Bielefeld zu Gast ist.

Wichtigstes Kriterium bei der Auswahl der Stücke war, dass die Autoren noch nie in deutscher Sprache gezeigt wurden. Damit kamen die bereits in Deutschland etablierten Repräsentanten der Neuen Amerikanischen Dramatik für unsere Auswahl nicht mehr in Frage. Interessanterweise aber wurden fast alle New Yorker Dramatiker, die in der Szene in aller Munde sind, noch nie deutschsprachig aufgeführt - geschweige denn in einem solchen Gesamtkonzept wie jetzt am Theater Bielefeld einem deutschen Publikum gemeinsam vorgestellt.

Ein weiteres Kriterium war, eine repräsentative Schnittmenge von „Art-Stars" und Neuentdeckungen der Off-Off-Szene zusammenzustellen. Dazu gehören Anne Washburn und Sheila Callaghan, die den Schritt zur Off-Theaterbühne bereits geschafft haben, genauso wie Saviana Stanescu, die in diesem Jahr am Womens Project ihre erste Off-Theaterproduktion erhalten hat und repräsentativ für die Stimme der dort lebenden Migranten steht. Alle hier versammelten Autorinnen und Autoren wählen Themen oder Formen, an die sich Broadway-nähere Bühnen häufig nicht heranwagen, wie etwa Thomas Bradshaw, der vom wichtigen Szene-Magazin Village Voice zum „Best Provocative Playwright 2007" gekürt wurde. Vor allem stehen sie aber für eine bestimmte Off-Off-Arbeitsweise, -Perspektive oder -Erfahrung - wie etwa unsere Neuentdeckung Michael Yates Crowley, der sein Stück DIE TED HAGGARD-MONOLOGE als Lesung begonnen und über die Zeit zu einer einstündigen One-Man-Performance weitergeschrieben hat. Auch Steven Fechter ist ein typischer Vertreter der Downtown-Szene, wie sie auch genannt wird. Er behandelt in seinen Stücken häufig schwer verdauliche Tabubrüche und macht die „Misfits" der Gesellschaft zu seinen Protagonisten. Trotz ansehnlichem Kino-Erfolg seines Dramas The Woodsman, mit Kevin Bacon in der Hauptrolle, ist Fechter der Schritt aufwärts zur Off-Theaterbühne bislang nicht gelungen. Seine Stücke werden regelmäßig beim größten Off-Off-Festival, dem NYC Fringe Festival, uraufgeführt, so auch 2007 sein Stück DIE KOMMISSION. Auffällig ist der hohe Frauenanteil unter den New Yorker Theaterautoren, dem wir in unserer Auswahl ebenfalls Rechnung getragen haben.

Wir haben nicht nach einem thematischen oder formalen roten Faden gesucht. Vielmehr war uns wichtig, eine Auswahl zusammenzustellen, die die aktuellen Themen, Formen und Stile der Szene widerspiegelt; diese reichen thematisch vom klassischen Familiendrama über die Auseinandersetzung mit tagesaktuellen gesellschaftlichen Ereignissen bis hin zu globalen Diskursen. Formal und stilistisch stellen sich die Autoren in die Tradition des well-made-plays, genauso wie sie sich der Montagetechniken aus Hollywood bedienen, wählen aber auch das theatralische Gegenextrem des absurden Theaters, des Tableaus und des Sprachexperiments. Interessanterweise ergibt sich beim genaueren Hinschauen dann aber doch ein durchgehendes Motiv: Gewalt. Die Stücke reflektieren gewalttätige Zeiten, außen und innen, bewusst und unbewusst. Es scheint fast, also ob die Post-9-11-Personnage schwerere Geschütze auffahren muss als ihre Vorväter.

Die Absolventin des Playwriting Programs Emily Conbere liefert in DER NACHFOLGER einen psycho-realistischen Generationskonflikt ganz in der Tradition ihrer bekannten Vorväter: Der Selbstmord des einzigen Sohnes eines Mittelschicht-Paares wird zum unüberwindlichen Prüfstein für die Ehe, als der beste Freund des Sohnes an einem Wochenende zu Besuch kommt.
Thomas Bradshaw nimmt in MORGENGRAUEN ebenfalls die amerikanische Mittelschicht ins Visier. Der afroamerikanische Autor entlarvt mit filmischer Schnelligkeit und nahezu unpsychologischer Kälte das Missbrauchsverhalten einer ganzen Familie.
Die Kollision sexueller Sehnsüchte mit dem christlichen Fundamentalismus in den USA zeigt Michael Yates Crowley in seinem Stück DIE TED HAGGARD-MONOLOGE auf, die er vor dem Hintergrund des Skandals um den berühmten Fernsehprediger Ted Haggard schrieb, als dessen homosexuelle Beziehung aufgedeckt wurde. Die originellen, die Bekenntnisliteratur ironisierenden, sehr heutigen Monologe wurden auf dem Undergroundzero Festival 2007 zum Überraschungs-Hit!
Anne Washburn lässt in ICH HABE FREMDE GELIEBT die traditionelle Dramenform ganz hinter sich und experimentiert mit historischen und modernen Textformen. Die poetisch-philosophische Collage aus mitgeschnittenen Gesprächsfetzen und eingesprengten Paraphrasen aus dem Buch Jeremiah, die die Geschichte um eine terroristische Gruppierung vor einem geplanten Terroranschlag einbetten, bilden die direkteste Auseinandersetzung mit der apokalyptischen Stimmung in NYC nach den Anschlägen vom 11. September.
Sarah Hammond nähert sich diesem kollektiven Trauma von einer Außenperspektive. Sie erforscht in GRÜNES MÄDCHEN die Wurzeln der Gewalt in der amerikanischen Geschichte. Die surreale Erzählung ist gleichzeitig in den Sümpfen South Carolinas zu Zeiten des amerikanischen Bürgerkrieges und heute angesiedelt, wo zwei Schwesternpaare den Krieg unterschiedlich erleben: direkt am eigenen Leib oder medial vermittelt scheinbar fern. Hammonds Stück steht in der Tradition des Southern Gothic und wird atmosphärisch verdichtet zum magischen Realismus.
Die Kontinuität des Krieges zeigt Steven Fechter auch in DIE KOMMISSION: In vier Rückblenden, die er „irgendwo in Osteuropa" ansiedelt, trägt er Schicht für Schicht die Auswirkungen des Krieges auf sechs Menschen ab, die durch die Ereignisse schicksalhaft miteinander verkettet werden.
In BRÜCHIG (MACH MICH SCHWACH, JUSTIN TIMBERLAKE) lässt Sheila Callaghan die Trauer um den verunglückten Vater und Ehemann und die erotischen Sehnsüchte einer pubertierenden Tochter und ihrer vereinsamten Mutter in Hollywood-Figuren und einem personifizierten Haus manifest werden - eine poetische Reflexion ver-rückter Zeiten.

Saviana Stanescu verarbeitet in ihrer Tragikomödie die Migrationserfahrung und die Altlast des Kommunismus. In LENINS SCHUH lässt sie osteuropäische Neu-Einwanderer und bereits etablierte Amerikaner russischer Herkunft in Queens, New York, aufeinanderprallen, ein sehr explosives Gemisch, wie sich am Ende herausstellt. Virtuos verbindet sie in ihrem Stück die verschiedenen Kommunikationsebenen von sprachlosen Menschen, die sich im fremden Land mittels Gangsta-Rap, Poesie oder eben Schweigen artikulieren müssen.

Es war unser gemeinsamer Wunsch, neue Stimmen zu finden: originelle, aufwühlende, verstörende, grenzüberschreitende. Wir haben eine kleine Auswahl getroffen und hoffen, dass diese neuen amerikanischen Stimmen ihren Weg auf deutsche Theaterspielpläne finden. Im kulturellen Dialog ist Theater ein wesentliches Werkzeug, um andere Denkweisen und Haltungen zu verstehen. Dieser Dialog muss von den Stadttheatern kontinuierlich aktualisiert werden, um am Puls der Zeit zu bleiben. Es gibt noch viele unentdeckte Stimmen. Wir hoffen, dass Voices from Undergroundzero nur der Anfang einer Kooperation zwischen Autoren, Übersetzern und Theatern ist, die die neuen Stimmen aus Amerika hörbar machen, Stimmen, die in vielerlei Hinsicht die globalen Diskurse von morgen erahnen lassen oder bereits vorwegnehmen.

Unser besonderer Respekt gebührt den Autoren, die die Off-Off-Szene in NYC nähren, schützen und immer weiter befruchten. Trotz Vollzeit-Brotjob, geringen Gagen und fehlender Krankenversicherung. Trotz alledem. Und unser besonderer Dank gebührt dem Collective: Unconscious, das gerade der Gentrifizierung zum Opfer fiel und wo alles anfing, und dem Theater Bielefeld, wo alles weitergeht.


Christine Richter-Nilsson und Paul Bargetto
Bielefeld, New York City, August 2008

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