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Die Tanzplattform 2016 am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main zeigt ein großes Spektrum an Formen, Formaten und Themen
von Stefanie Carp
Erschienen in: Theater der Zeit: Frau Kulturstaatsministerin Grütters – greifen Sie ein!? (05/2016)
Die Tanzplattform findet alle zwei Jahre an einem anderen Ort statt. Sie zeigt zwölf von einer Jury ausgewählte relevante Positionen des zeitgenössischen Tanzschaffens. Im Jahr 2016 fand sie in Frankfurt am Main statt und wurde vom Mousonturm ausgerichtet. Ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Künstlern, Featurings, Panels und Diskussionen begleitete die Aufführungen, die über das ganze Rhein-Main-Gebiet verstreut gezeigt wurden.
An der Auswahl fällt positiv auf, wie unterschiedlich die Arbeiten in Bezug auf Form, Format und Umgang mit Themen sind. Es fällt außerdem auf, wie stark sich der zeitgenössische Tanz mit anderen Genres mischt und wie weit er in die Performance übergegangen ist. Viele Arbeiten beziehen sich thematisch auf das heutige soziale Miteinander. Sie verhandeln ethnische oder Genderzuschreibungen, Fragen der transkulturellen Bedeutung oder einer kritischen Praxis. Andere sind ganz auf die Beziehungen der Körper zum Raum und der Performer untereinander orientiert. Einige Arbeiten widmen sich in unterschiedlichen Weisen den markanten Manifestationen der frühen Moderne. Das Spektrum der Formen reicht von Aufführungen, in denen keine Sekunde getanzt wird, bis zu solchen, die ganz der Bewegung gewidmet sind.
Die frivole postkoloniale Show „Not Punk, Pololo“ über kulturelle Aneignung und die Unmöglichkeit des Übersetzens von Gintersdorfer/Klaßen und großartigen ivorischen und deutschen Performern eröffnete das Festival. Auch wenn man schon schärfer formulierte Arbeiten von Gintersdorfer/Klaßen gesehen hat, war sie politisch und energetisch eine gute Party.
Auch Meg Stuarts wunderschöne Arbeit „Until Our Hearts Stop“ ist eine Party des Miteinanderseins von Tänzerinnen und Tänzern, Jazzmusikern und einem Schauspieler. Zu immer entfesselterer Musik suchen Körper einander, schichten sich aufeinander, verknäulen sich, schreien, prügeln sich; zwei nackte Performerinnen lieben sich, dann fallen alle in einen Traum, jeder in seinen eigenen. Kristof Van Boven stellt in einem mäandernden zweiten Teil ganz private Fragen an den Pianisten; schließlich wollen die Darsteller dem Publikum Obst, Whisky oder ihre Hausschlüssel schenken, bitten jemanden, nachher zu ihnen ins Hotel zu kommen oder gleich mit nach Berlin. Wir wollen doch etwas voneinander, sagt diese Arbeit, so zerbrechlich, rührend und komisch, wie nur Meg Stuart es kann.
Ein anderer künstlerischer Höhepunkt, ganz und gar Bewegung, ist Ian Kalers „Gate- ways to movement“, der zweite Teil seiner „o.T.“-Trilogie, zu dem er Philipp Gehmacher eingeladen hat. Zum Intensivsound der Musikerin Aquarian Jugs (aka Jam Rostron) bewegen sich zwei Männer zunächst einzeln, nur ihre unterschiedlichen Bewegungen voneinander abnehmend, in einer schwarzen Tiefe, nähern sich an, entfernen sich wieder, zelebrieren Isolationen, kommen zum Duo und lösen sich wieder auf zu einem veränderten Einzelnsein. Der starken emotionalen Affiziertheit dieses Dialogs kann man sich schwer entziehen.
Zwei sehr unterschiedliche Beschäftigungen mit den Körpern auf der Grundlage von Gruppenmaterial zeigen Isabelle Schad und Paula Rosolen. Isabelle Schad hat mit ihren 22 internationalen Tänzern die umschlingenden, kreisenden Bewegungen der Volkstänze gesichtet und sie in eine kollektive Körperskulptur übersetzt, die verblüffend schöne Bilder generiert. Paula Rosolen hat aus dem Bewegungskatalog des historischen Aerobics, das einmal eine Trainingsmethode der US-Luftwaffe für Piloten war, eine Choreografie als „Ballett in 3 Akten“ entworfen, die auch ein Gruppenkörper ist, aber einer von trostlos getriebenen Narzissten, der umso furchterregender wirkt, als der übliche Discosound fehlt und nur der hämmernde Beat der auf dem Boden aufschlagenden Sportschuhe zu hören ist.
Eine Rekonstruktion könne zu einem Werk von künstlerischer Eigenständigkeit führen, sagte Nele Hertling, eine der Gründerinnen der Tanzplattform 1994, in einer einführenden Rede zu der Rekonstruktion der Rekonstruktion des „Triadischen Balletts“ durch die Juniorkompanie des Bayerischen Staatsballetts. Oskar Schlemmers Metaballett von 1922, das sich über Strategien der Kunst verständigt, hatte Gerhard Bohner 1977 im Auftrag der Akademie der Künste nach den Zeichnungen Schlemmers neu inszeniert. 2014 rekonstruierten zwei Tänzer/-innen, die damals mit dabei waren, Ivan Liška und Colleen Scott, die Bohner-Rekonstruktion mit jungen Tänzern. In einem Programm, in dem sich viele Arbeiten auf einer Metaebene bewegen, wird dies zur Metareferenz.
Keine Rekonstruktion, sondern eine neue Setzung ist die Arbeit „Parade“ des australischen Künstlers Adam Linder, auch wenn sie sich auf ein Schlüsselwerk der Moderne bezieht: Mit „Parade“ provozierten Jean Cocteau, Pablo Picasso, Erik Satie und Léonide Massine 1917 einen Skandal, weil sie Künstler als Werbenummern zeigten. Adam Linder und der bildende Künstler Shahryar Nashat, der den Picasso-Vorhang im Bühnenbild zitiert, machen daraus eine Corporate-Identity-Show, deren Tänzer/-innen, darunter Adam Linder selbst, alle Nummern der Vorlage bedienen, aber als heutige Performer zwischen Drill und individueller Stilisierung, unaufhörlich angetrieben von der Stimme eines Super Coach: „Promote your self-articulation! Protect against standardization!“
Eine Entdeckung ist die junge Schweizer, in Berlin arbeitende Tänzerin und Choreografin Lea Moro. Auch sie macht Anleihen bei kanonischen Werken. Vor einigen Jahren tanzte sie „Le Sacre du Printemps“ als Solo. Jetzt verwendet sie für „(b)reaching stillness“ Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie“. Drei halb nackte Körper in schwarzen Business-Hosen bewegen sich unendlich langsam auf einem blauen Büroteppichboden, versuchen aufzu(er)stehen. Eine Arbeit, die zwischen Elegie und Komik balanciert, weil das Aufrichten und Versinken von konkreter Gegenständlichkeit wie einem Wasserspender oder aufblasbaren Plastikpalmen konterkariert wird. //