Theater der Zeit

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Fünf Jahre Tiroler Landestheater unter der Intendanz von Johannes Reitmeier

von Ursula Strohal

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Akteure Tiroler Landestheater

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Unsere Welt ist ein Theatervorhang, hinter dem die tiefsten Geheimnisse verborgen liegen.
Rainer Maria Rilke (Spielzeitmotto 2012/13)

Täglich geht der Vorhang auf. Und es gibt die Zeit, da hebt er sich für eine neue Theaterleitung, voller Erwartung, ob sie erfüllt werden kann, ob sie eingelöst wird. Im Herbst 2012 übernahm Johannes Reitmeier, zuvor Intendant des Pfalztheaters Kaiserslautern, als Nachfolger von Brigitte Fassbaender das Tiroler Landestheater und Symphonieorchester Innsbruck (TLT). Ein Mehrspartenhaus mit rund 400 Mitarbeitern, finanziell abgesichert, Gesamtbudget rund 27 Millionen Euro.

In den fünf Jahren erreichte Reitmeier als geschäftsführender Intendant einen Höchststand von 8370 Abonnenten und schaffte es mit seinem Spartenleiter Thomas Krauß, das stark schwächelnde Schauspiel auf den Auslastungsstand des in Innsbruck traditionell dominierenden Musiktheaters zu heben. Als geschäftsführenden Kaufmännischen Direktor hat er Markus Lutz an seiner Seite. Auf Wunsch der Politik (Land Tirol, Stadt Innsbruck) wurden 2016 die renommierten Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, künstlerisch weiterhin autonom, administrativ ins Tiroler Landestheater eingegliedert. Außerdem betreut die Theaterleitung einen Neubau, der den maroden Kammerspielen eine neue Heimat bieten soll sowie das Orchester beherbergen wird. Keine Überraschung, dass Reitmeier für weitere fünf Jahre verpflichtet wurde. Erstaunlich eher, dass er bis 2022 zusagte.

Die Fantasie kann alles. Sie ist ein mutwilliges Geschöpf.
Ferdinand Raimund (Motto 2013/14)

Dreißig Neuproduktionen sind pro Saison zu stemmen, Reitmeiers inhaltliche Bemühung gilt „regional verorteten Projekten, der Pflege des Klassischen, der erkennbaren Lust an Neuem und Unentdecktem“. Theater sei durch seine Existenz per se politisch und wende sich gerade als Ort der Internationalität und der freien Meinungsäußerung gegen Radikalisierung und Rassismus. Es müsse auch möglichst viele Menschen erreichen, die sich abgehängt fühlen und Opfer von Radikalismus sind. Dies erfordert Mut zum Unbequemen, Bekenntnis zur Identitätsstiftung, Wille zur Unterhaltung.

Reitmeiers Innsbruck-Initial war die Inszenierung von Alfredo Catalanis Oper „La Wally“, die als erste TLT-Produktion auf DVD/Blu-Ray (Capriccio) erschienen ist und den Reigen seltener gespielter Werke eröffnete. Natürlich lebt der von Haus- und vielen Gastregisseuren getragene Spielplan – Operndirektorin ist gegenwärtig Angelika Wolff – auch von großen Komponistennamen. Bei der Barockoper ist angesichts der Festwochen Alter Musik Zurückhaltung geboten. Ein Schwerpunkt ist mit Musical gesetzt. Wichtig ist Reitmeier zudem die Reihe „Opera Austria“ mit der Wiederentdeckung von Josef Netzers romantischer Oper „Mara“ und den Uraufführungen von Florian Bramböcks „Der Weibsteufel“ und Kenneth Winklers „Totentanz“.

Das Schauspiel am TLT hat keinen leichten Stand. Dank Schauspielchef Thomas Krauß ging es rasch aufwärts, bald gab es sogar ein Schauspielabonnement. In den Spielstätten Großes Haus (800 Sitzplätze), Kammerspiele (bis zur Neueröffnung 2018 in einer Messehalle zwischengelagert) und der Werkstattbühne [K2] wechseln neue Stücke mit solchen prominenter Autoren. Franzobel schrieb 2014 für das TLT sein Stück „Sarajewo 14 oder Der Urknall in Europa“, österreichische Erstaufführungen galten unter anderem Anna Gavaldas „35 Kilo Hoffnung“, Florian Zellers „Vater“ und Dea Lohers „Am Schwarzen See“. Thomas Bernhards „Alte Meister“ sind stets ausverkauft, die Premiere von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ steht im Juni bevor.

Auch im Schauspiel gibt es eine Tirol-Schiene, vom Volksstück bis zur Uraufführung, beispielsweise Martin Plattners „Maultasch“. Zudem eine Reihe von Inszenierungen, die an Verfilmungen, auch an Romane geknüpft sind („Jenseits von Eden“, „Wie im Himmel“ als ÖEA, „Einer flog über das Kuckucksnest“ u. a.).

In den Inszenierungen herrscht der identifikatorische Ansatz vor, stilistisch wird, wenn auch frei von experimenteller Überschreitung, ein breites Spektrum ausgereizt. Es ist spürbar, dass in einer nicht mehr einheitlich zu definierenden Gesellschaft Theaterarbeit unter immer differenzierteren Bedingungen stattfinden muss, das Abonnentensystem fordert zudem bei allen Vorzügen Rücksichten ein. Das Publikum kann sich auf sein Theater verlassen, nicht aber als eine Stätte des „sicheren Genusses“. Ob frech oder reduziert, süffig oder karg, illustrativ oder herausfordernd, ob preisgekrönt oder floppend, der Wille zur Qualität hat Priorität.

Die Fantasie kann alles und das Tanztheater des TLT unter der Leitung von Enrique Gasa Valga auch. Die Tanzabende umgibt ein Hype, und während deutsche Kompanien um ihre Existenz bangen, hat Reitmeier sein Tanzensemble aufgestockt. Gasa Valga bleibt in üppigen Balletten bei großen Themen („Dante“, „Carmen“, „Peer Gynt“, „Strawinski. 3 D“, „Mayerling“) und holt Star-Produktionen, unter anderem von Uwe Scholz und Jiří Kylián.

Anerkennendes Echo für Produktionen des TLT: Für „Anna Karenina“, Armin Petras’ Kammerspiel nach Tolstoi, gab es den ersten Nestroy-Preis. Den österreichischen Musiktheaterpreis erhielten die Tanzabende „Frida Kahlo“ von Enrique Gasa Valga und „Charlie Chaplin“ von Marie Stockhausen, die Sopranistin Jennifer Maines für ihre Kundry in Reitmeiers „Parsifal“-Inszenierung sowie Regisseur Bruno Klimek und Dirigent Francesco Angelico für „Adriana Lecouvreur“.

Die Kunst ist eine ansteckende Tätigkeit, je ansteckender, umso besser.
Leo Tolstoi (Motto 2014 /15)

Da leistet das Theater ganze Arbeit. Steckt mit seinen rund 190 000 Besuchern jährlich knapp ein Viertel der Tiroler Gesamtbevölkerung an und eineinhalb Mal die Einwohnerzahl Innsbrucks. Die Besucher kommen aus allen Tälern, den österreichischen Bundesländern, aus Südtirol und Bayern, auch von weiter her und haben in der Saison 2015/16 das Große Haus zu 88 Prozent, die ausgelagerten Kammerspiele sowie das [K2] zu je 93 Prozent ausgelastet. Auch die Jugend stürmt das Theater in den diversen eigenen Formaten, Reitmeier hat zusätzlich die Theaterpädagogik stark ausgebaut.

Zentraler Ansteckungsherd ist die Künstlerschaft, in deren Mitte das relativ kleine Ensemble, dem Vitalität, Enthusiasmus und höchster Einsatz abgefordert werden. Ein erhöhter Anteil an Gästen steht bevor und wird einen Hauch von Stagione-Betrieb mit seinen Vorteilen bringen. „Nur durch den Dreiklang derer, die es erfinden, die es auf die Bühne bringen und die es besuchen, entsteht Theater“, sagt Reitmeier.

Alle Dinge haben ihr Geheimnis, und die Poesie ist das Geheimnis, das alle Dinge haben.
Federico García Lorca (Motto 2015/16)

Lorca kannte dieses „tiefste Geheimnis“, vor ihm hatte Eichendorff präzisiert: „Schläft ein Lied in allen Dingen.“ Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck ist ein leistungsfähiger Klangkörper, der neben dem musikalischen Theaterangebot jährlich einen Konzertzyklus und eine Kammermusikreihe stemmt. Von seiner Vorgängerin hat Reitmeier als Dirigenten den souveränen Alexander Rumpf und den Charismatiker Francesco Angelico übernommen, die eindrucksvolle Abende bescher(t)en. Eine Nachfolgesuche steht derzeit an. Chor und Extrachor führt Michel Roberge.

Kultur beginnt im Herzen jedes einzelnen.
Johann Nepomuk Nestroy (Motto 2016/17)

Johannes Reitmeier strahlt temperamentvolle Zuversicht und Kompetenz aus. Die Führungskräfte holt er vor den Vorhang, sein Führungsstil verbindet eine starke Hand mit menschlicher Zuwendung, die allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt. //

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