Theater der Zeit

4.3 Olfaktorische Involvierung in SIGNAs Das halbe Leid

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: SIGNA

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Im folgenden Unterkapitel möchte ich am Beispiel von SIGNAs Das halbe Leid aufzeigen, wie Zuschauer*innen insbesondere über die olfaktorische Wahrnehmungsebene in das Aufführungsgeschehen bzw. in den inszenierten Mikrokosmos involviert werden. Dabei gilt es, herauszuarbeiten, welche Funktionen der Einsatz von Gerüchen im Hinblick auf die Publikumsinvolvierung in den Performanceinstallationen von SIGNA hat und inwieweit die Involvierung durch Geruchswahrnehmungen eine dezidiert vereinnahmende Wirkung zu zeitigen vermag. Denn gerade für Formen immersiven Theaters, die ihre Zuschauer*innen mit allen Sinnen in einen gestalteten Erfahrungsraum integrieren, spielen Gerüche nicht nur für die Wahrnehmung der Atmosphäre der Aufführung, sondern – so meine These – auch für die Erzeugung von Emotionen sowie die Generierung von Bedeutungen eine zentrale Rolle: Eine Arbeit wie Das halbe Leid führt dem involvierten Publikum am eigenen Leib vor, inwieweit Geruchswahrnehmungen nicht nur sozial-relational formiert sind, sondern in welchem Maß sie auch semantisiert und damit Träger von kulturell variierenden Bedeutungen und Emotionsrepertoires sind.

Es ist immer noch ein großes Desiderat der Theater- und Kunstwissenschaften, sowohl der semiotischen als auch der affektiven Dimension von Düften, Gerüchen und Aromen wie auch der performativen Kraft ihrer Wahrnehmungen die gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu zollen (vgl. Banes, 2007, S. 29).177 Dies liegt zum einen an der Schwierigkeit, ihrer ephemeren, visuellen Ungreifbarkeit durch Worte überhaupt adäquat habhaft zu werden, geschweige denn, sie angemessen beschreiben zu können178; es liegt zum anderen auch an der langen Tradition einer Hierarchisierung von Sinnen und Sinneswahrnehmungen im westlichen Denken, die Nah- und Fernsinne unterscheidet und Letztere (Sehen und Hören) in Bezug auf ihr Erkenntnispotential als »höhere« Sinne gegenüber den »niedrigeren« Sinnen des Tastens und Schmeckens privilegiert (vgl. u. a. Beer, 2000a, S. 7f.); der Riechsinn besetzt hier eine Zwischenposition. Diese kulturell formierte, historisch bedingte und sozial anerzogene Ordnung der Sinne hat Auswirkungen auf den Gebrauch unserer Sinne im Alltag. Und es stellt sich die Frage, inwieweit nicht auch die Künste ihrerseits an der Aufrechterhaltung jener spezifischen Hierarchisierung der Sinne historisch mitgewirkt haben. Sei es z. B. durch das noch immer geltende Berührungsverbot von Kunstgegenständen im Museum, das erst in den letzten Dekaden durch interaktive Ausstellungsformate oder Vermittlungsangebote Stück für Stück überwunden wird (vgl. dazu auch Kolesch, 2010; Kolesch, 2017). Sei es durch das in der Tradition des westlichen Theaters geltende Primat audiovisueller Darbietung, das nicht zuletzt auf die enge etymologische Verbindung vom griechischen »théatron« als der (visuellen) Schau zurückgeht.

Seit etwa zwei Dekaden haben wir es, wie Tanz- und Theaterhistorikerin Sally Banes formuliert, neben anderen markanten Strömungen auch mit einer »Rückkehr von Geruch im Theater« (Banes, 2007, S. 35, dt. TS) zu tun. Immer öfter werden Gerüche auch in Inszenierungen im klassischen Theaterdispositiv ganz gezielt eingesetzt. Eine Zunahme an geruchsbasierten Künsten ist zu beobachten sowie ein erhöhtes Aufkommen von interdisziplinären Ausstellungen, die sich thematisch der Welt der Düfte zuwenden.179 Diese signifikante Zunahme könnte einerseits mit der Zunahme von Geruchsdesign in außerkünstlerischen gesellschaftlichen Kontexten zu tun haben – man denke z. B. an die gezielte Raum- und Luftbeduftung im Handel, in Restaurants, Wartezimmern von Arztpraxen oder in Bürokomplexen, die u. a. das Ziel verfolgen, gezielt positiv besetzte Sinneseindrücke und Atmosphären zu erzeugen.180 Schließlich liegt die Macht von Geruchsdesign und damit möglicherweise auch der Reiz, dies gerade in immersiven Aufführungsdispositiven anzuwenden, nicht zuletzt darin, dass die Düfte den Riechenden unsichtbarerweise vollständig umhüllen. Die künstlich beduftete Luft legt sich gleichsam vollständig um das Subjekt herum, schließt es vollkommen ein und dabei von der nichtbedufteten Außenwelt ab. Die Möglichkeit zur Distanznahme wird erschwert, ist häufig nur noch möglich, indem man den Raum verlässt. Während der zunehmende Einsatz von Geruch als ein zentrales ästhetisches Gestaltungsmittel in performativen und darstellenden Formen der Gegenwartskunst mit seinem unmittelbaren und besonders einnehmenden Wirkungspotential zu begründen wäre, könnte es andererseits auch sein, dass Künstler*innen mit dem gezielten Einsatz von Gerüchen ihr Publikum gerade auf die kulturell und historisch bedingte, zu geringe Valorisierung des Geruchsinns qua eigener Geruchserfahrungen aufmerksam machen wollen. Josephine Machon vertritt in diesem Zusammenhang – der Anthropologin Kathryn Linn Geurts folgend – die These, dass insbesondere Aufführungen immersiven Theaters dem involvierten Gast Erfahrungen ermöglichen können, die in die westliche Logik fünf voneinander unterschiedener Sinne gar nicht (mehr) einzupassen seien und damit im Stande wären, körperlich die Begrenztheit dieses Ordnungssystems aufzuzeigen (vgl. Machon, 2013, S. 111).

Im Folgenden werde ich am Beispiel von insgesamt sieben Miniaturen aus SIGNAs Das halbe Leid herausarbeiten, welche Funktionen das Geruchsdesign mit Blick auf die damit verbundene olfaktorische Involvierung des Publikums in das Aufführungsgeschehen wie auch in den gestalteten Mikrokosmos erfüllt. Hierbei wird sich zeigen, dass und auf welche Weise es insbesondere der Einsatz von modifizierten Körperdüften ist, der für Affizierungsprozesse involvierter Zuschauer*innen (mit-)bestimmend werden kann (4.3.1). Im zweiten Schritt soll anhand der polyperspektivischen Beschreibung der Teilnahme von Zuschauer*innen an der Sequenz »Weinen mit Viola« dargelegt werden, wie ein Duft als Trigger eingesetzt wird, um bei Zuschauer*innen künstlich bestimmte Emotionen wie Traurigkeit, Trauer oder Schmerz zu erzeugen, und wie diese dabei durch einen Akt des Mit-Leidens zugleich auch auf der Ebene der Diegese vereinnahmt werden (4.3.2).

177 Einschlägig für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Düften und Duftwahrnehmungen sind u. a. Corbin, 1984 sowie Claasen/Howes/Synnott, 1994.

178 Ein Dilemma, das für alle ephemeren Kunstformen relevant ist, für den Duft allerdings im Besonderen gilt. Geruchskünstlerin Sissel Tolaas, die seit 1990 ein Duftarchiv zusammenstellt, hat angesichts dieses Umstands mit NASALO Anstoß für die Entwicklung einer eigenen Fantasieprache für die Beschreibung und Benennung von Düften gegeben. Einträge in ihrem »alphabet for the nose« sind z. B. »HAQSE« für den Duft einer Zitrusfrucht, »XC’UTA« für eine würzigpikante Note und »URSWE« für eine Mischung aus Schweiß und Urin, vgl. Tolaas, 2011.

179 Einige zentrale Beispiele wären die Ausstellungen Belle Haleine (2015) in Basel, Arbeiten wie Odorama (1995) oder Hypothèse de grue (2013) von Carsten Höller, The FEAR of Smell – The Smell of FEAR (2006 – 2015) von Sissel Tolaas, Olafur Eliassons Dufttunnel (2004) sowie jüngst die Duft-Performances Osmodrama der Geruchsorgel von Wolfgang Georgsdorf (2016 und 2018) in Berlin oder die Produktion Der Duft der Weltvon Markus Jeschaunig beim steirischen Herbst 2016 in Graz. Für weitere Beispiele siehe King, 2016.

180 Zum »Fragrance Marketing« siehe weiterführend Claasen/Howes/Synnott, 1994.

 

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