Theater der Zeit

POSITIONEN DER PRAXIS IN DER THEATER LANDSCHAFT

Stadt Land Tanz

Das Tanzland durchstreift die Provinz

von Sabine Reich

Erschienen in: Recherchen 146: Theater in der Provinz – Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm (05/2019)

Assoziationen: Debatte Tanz

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Der Fonds Tanzland, gestartet 2017, initiiert von der Kulturstiftung des Bundes, getragen durch den Dachverband Tanz Deutschland, fördert Kooperationen zwischen Tanzensembles und Gastspielbühnen in kleinen und mittleren Städten.

Vor allem in Städten und Gemeinden, in denen zeitgenössischer Tanz bisher wenig oder gar nicht angeboten wird, sollen die Gastspielhäuser der INTHEGA (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V.) ermutigt werden, neue Erfahrungen in der Programmplanung, Vermittlung und Durchführung von Gastspielen zeitgenössischer Tanzensembles zu machen.

Soweit die Fördergrundsätze des Programms: Der Tanz verlässt die Metropolen und geht ins Land.

Wo ist das Land?

„Die Zukunft der Welt wird auf dem Land entschieden.“ (2017)

„Die Stadt ist alles was wir haben.“ (1987)

Zwischen diesen zwei Zitaten von Rem Koolhaas liegen dreißig Jahre oder ein Jahrhundert, die Post-Moderne des 20. und der Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Ästhetische, räumliche und ökonomische Strategien konzentrierten sich in den vergangenen Jahrzehnten auf die urbanen Räume, auf Metropolen und Megacitys. Dieser Trend ändert sich momentan: Der ländliche Raum und die kleineren Städte rücken wieder in den Blick.

Die Gründe sind vielfältig, in jedem Fall sind sie berechtigt, betrachtet man, wo die Menschen in Deutschland leben: Siebzig Prozent leben in Städten mit weniger als 100 000 Einwohnern, 15 Prozent in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern und 27 Prozent in Gemeinden mit 5000 bis 20 000 Einwohnern. (Quelle: zeit.de) Die Mehrheit der Menschen in Deutschland leben nicht in Großstädten – und damit leben sie fern des kulturellen Angebotes. Glaubt man den Berichten, entfernen viele sich von Politik und gesellschaftlicher Teilhabe. Misstrauen wächst gegenüber dem urbanen Metropolen-Milieu, kulturelle Szenen bringen sich in Stellung.

 

steptext dance project e. V. und Kulturverein Winsen: Out of joint. Foto: Marianne Menke

Ländliche Regionen werden immer schon als defizitär beschrieben. Sie sind und haben von allem weniger: weniger Kultur, weniger Kunst, weniger Geld, weniger Menschen, weniger Schulen, weniger Ärzt*innen. Landflucht, „Shrinking cities“ – das sind die Stichworte, wenn über diese Regionen gesprochen wird. Auf dem Land und in den Kleinstädten leben die, die es nicht in die Stadt geschafft haben. An denen das Leben vorbeigezogen scheint. „Exterritorial zur Bildung“ stehe der, dem die „Emanzipation von der Provinz“ missglücke, so schrieb Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren. Und heute? Wird in der Provinz die AfD gewählt und in der Großstadt Diversität gelebt?

Was wissen wir überhaupt von dem Land jenseits der großen Städte? Wir wissen wenig darüber, was „das Land“ eigentlich ist, denn die Kulisse romantischer Bauernhäuser und Dörfer entspricht schon lange nicht mehr jenem verdichteten Gebiet, das sich den herkömmlichen Dichotomien von Stadt und Land gründlich entzieht. Laut Koolhaas entstehen zurzeit die größten Gebäude nicht in den Metropolen, sondern auf dem Land und sie werden nicht für Menschen, sondern für Roboter und Maschinen gebaut. Doch was wissen wir über die Menschen in kleinen Städten und Dörfern? Über ihre Interessen und Vorlieben? Gehen sie ins Theater, ins Kino oder nirgendwohin? Mögen sie Volkstanz oder Hiphop oder am liebsten ihre Ruhe? Sind sie wirklich so anders als urbane Metropolenbewohner*innen?

Die, die es wissen, sind die Leiter*innen der sogenannten Bespieltheater, die in der INTHEGA organisiert sind. Fast 400 dieser Gastspielbühnen gibt es in ganz Deutschland. Sie werden geleitet von Intendant*innen oder Kulturamtsleiter*innen, verfügen über 100 oder 800 Sitzplätze, sie sind gut ausgestattete große Bühnen und Theater oder aber sie bieten Programm in Stadthallen, Schulaulen, Schlossgärten und Gemeindesälen. In jedem Fall sind sie diejenigen, die Menschen in mittleren Städten und kleinen Gemeinden mit Kultur versorgen. Auf ihren Bühnen spielen Tourneetheater, Comedians, lokale Vereine und internationale Ensembles. Hier treffen globale Trends und Ästhetiken auf regionale Akteur*innen, Traditionen auf Experimente: Zeitgenössische Kunst wechselt sich ab mit Folklore, Volkstanz und Feierlichkeiten. Ein Mix, wie er diverser und vielschichtiger kaum sein könnte.

Tanzland in Waldkraiburg

Waldkraiburg ist eine kleine Stadt, 23 000 Einwohner*innen im südlichen Oberbayern, eine „Vertriebenenstadt“, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Eine Stadt, in der es einen Tanzsportverein, die Bespielbühne „Haus der Kultur“ und das Museum gibt, das die Gründungsgeschichte der Stadt ebenso stolz erzählt, wie es auf seinen berühmtesten Bürger, Peter Maffay, verweist. Eine Stadt, eine Stunde vor München gelegen, in der sich niemand daran stört, nennt man sie Provinz.

Im Oktober 2017 startete das Ballett Pforzheim unter der Leitung von Ballettdirektor Guido Markowitz die ersten Tanzland-Veranstaltungen und Workshops in Waldkraiburg. Für die Aufführung des Requiems von Mozart plante er einen Waldkraiburger Chor und ein Orchester einzuladen, die Vorstellungen mit seinem Ensemble auf die Bühne bringen. Doch es gab keinen Chor und kein Orchester in der Stadt – wohl aber musikalische und engagierte Bürger*innen, die die Gelegenheit nutzten, beides zu gründen. Von April bis Juli probten sie regelmäßig und im Juli 2018 brachten ein Waldkraiburger Orchester und Chor das Requiem von Mozart gemeinsam mit dem Ballett Pforzheim auf die Bühne. 500 Zuschauer*innen gaben standing ovations– sie applaudiertem dem Ensemble, aber vor allem sich und ihrer Stadt. Niemals hätten sie das gedacht, aber – so sagten sie – Waldkraiburg ist doch eine Kulturstadt. Eine Tanzstadt. „Das Schönste, das ich je erlebt habe“, sagt eine Choristin. „Dass wir das geschafft haben!“

Tanzland in Hamm

„Das schaffen wir nie“, meinten die meisten Leiter*innen der INTHEGA-Bühnen, als ihnen im März 2017 das Programm Tanzland vorgestellt wurde. Mit dem Fonds werden die Verbindung zwischen einer INTHEGA-Bühne und einem Tanzensemble für mindestens zwei Spielzeiten gefördert, erwartet werden in diesem Zeitraum mehrere Gastspiele und Vermittlungsangebote vor Ort, „so dass Produktionen des zeitgenössischen Tanzes Teil des Kulturangebots in der Kommune werden“ und sich ein „anhaltendes Publikumsinteresse“ entwickeln kann.

Langfristige und nachhaltige Kooperationen zwischen einer Bühne und einem Ensemble sind das Ziel und so war Partnervermittlung angesagt, als Tanzland die Akteur*innen zur ersten Gastspielwerkstatt nach Hamm einlud. Doch die Partner blieben skeptisch – denn wie lässt sich eine lang eingespielte Gastspielpraxis ändern? Und warum? Wie können die Programmmacher*innen der INTHEGA-Bühnen ihre langfristigen Planungen kurzfristig auf die Anforderungen des neuen Förderprogramms umstellen? Die Eingriffe in die Disposition und in die Programmierung der Bühnen sind größer als erwartet. Und trotz der Förderung, die pro Projekt bis zu 120 000 Euro betragen kann, gibt es finanzielle Hürden. Der geförderte Eigenanteil von zwanzig Prozent verlangt von den Häusern viel, noch mehr jedoch die Tatsache, dass die Bühnen die potenziellen Einnahmen von der beantragten Fördersumme abziehen müssen: gefördert wird, was fehlt, Einnahmen an der Kasse müssen ins Projekt fließen und für die Kosten der Gastspielkooperation eingesetzt werden. Diese Bedingung rührt an das Selbstverständnis der Bespielbühnen, denn sie verstehen sich ebenso als kulturelle Leuchttürme der Regionen wie auch als kommerziell erfolgreiche Betriebe, die den Geschmack des Publikums treffen und damit den gastierenden Künstler*innen volle Häuser bieten. Die schwarzen Zahlen durch Ticketeinnahmen sind wesentliche Pfeiler ihrer Budgets und Planungen, auf die sie nur schwer verzichten können. Warum also sollen sie sich auf Tanzland einlassen? Auf den ersten Blick werden Einschränkungen sichtbar und ihre Planungen nicht einfacher. Können sie ihre Bürgermeister*innen und Stadträt*innen von dem Projekt überhaupt überzeugen? Was bringt ihnen das Programm?

Doch nicht nur auf Seiten der Bühnen gibt es Bedenken, auch Ensembles stoßen an ihre Grenzen. Die sechzig festen Ensembles an Stadt- und Staatstheatern sind eingebunden in eng getaktete Spielpläne, oft gedrängt zwischen Musical und Weihnachtsmärchen. Zu wenig eigene Spielräume und fehlende Mitsprache beklagen viele Ballettdirektor*innen, der Tanz an den Bühnen ist zu wenig sichtbar und zu wenig als eigenständige künstlerische Sparte erkennbar. Wenn sie eine langfristige Gastspielkooperation eingehen möchten, müssen sie sich mit Intendant*innen und Betriebsbüro einigen, die die Abstecher nur dann begrüßen, wenn sie neben dem Aufwand und den vielen Extra-Arbeitsstunden Einnahmen ins Haus bringen. Einnahmen, die jedes Stadt- und Staatstheater in immer höheren Umfang nachweisen muss.

Tanzland, ein Programm, das Ensembles und Bespielbühnen Gastspiele erleichtern will und finanzielle Förderung verspricht, stößt an die Grenzen der Betriebe. Betriebe, die durch die Einsparungen der letzten Jahrzehnte im technischen und administrativen Bereich so geschrumpft wurden, dass zusätzliche Gastspiele mit den vorhandenen Belegschaften kaum zu leisten sind. Betriebe, die aufgerieben werden durch kommunale Strukturen, die ihre Stadttheater und Bespielbühnen einerseits fördern, aber andererseits durch strikte Vorgaben wie Auslastungszahlen und Kartenerlöse ihnen die künstlerischen und programmatischen Spielräume absprechen, zu denen eine Förderung durch die öffentliche Hand sie verpflichtet.

Der Spielraum ist eng – so begrenzt wie die Bühne in Hamm, auf der zur Eröffnung der Gastspielwerkstatt das Publikum Platz nimmt und 13 feste und freie Ensembles in jeweils drei Minuten Ausschnitte ihrer Arbeiten zeigen. Die Tänzer*innen bewegen sich zwischen den Zuschauer*innen und es gelingt ihnen, mit diesen kurzen Showcases Nähe und Intensität herzustellen. Nähe, die Partnerschaften stiftet, Begegnung und Austausch zwischen Bühnen und Ensembles ermöglicht. Die eigenständigen choreografischen Handschriften der Ensembles überzeugen in ihrer Vielfalt und Qualität. Nun müssen gemeinsam Grenzen überwunden werden um den Tanz ins Land zu bringen. In der ersten Antragsrunde wurden zwölf Projekte bewilligt, in der zweiten Runde acht weitere.

Tanzland in Arnsberg

Ein großes Interesse für den Tanz lässt sich im Hochsauerlandkreis feststellen – zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Landes Nordrhein-Westfalen. Hier findet Tanz nahezu ausschließlich in Sportvereinen und Volkstanzgruppen statt, die damit zwar wichtige Zugänge zum Tanz bieten und wesentlich sind für die Tanzszene, doch zeitgenössischer Tanz ist in der Region kaum zu sehen. Mit der sicheren Überzeugung, dass die Menschen in Arnsberg Lust haben auf zeitgenössischen Tanz, und mit der eigenen Überzeugung, dass Kulturarbeit auch Risiken eingehen muss, hat Kerstin Minkel, Kulturamtsleiterin in Arnsberg, ihr Tanzland-Projekt gestartet. Sie hat sich für das Kölner Michael Douglas Kollektiv entscheiden, eine freie Gruppe, die mit wechselnden Choreograf*innen Versuchsanordnungen zu Körper und Raum entwickelt.

Im Antrag haben sie einen Plan vorgestellt, der mehrere Gastspiele und Workshops in Arnsberg vorsieht, doch ein Wasserschaden im Theater Arnsberg macht die Bühne unbespielbar. Und die Gastspiele müssen verschoben werden und das Michael Douglas Kollektiv startet in der Turnhalle einer Schule mit einem eigenwilligen Format, das sie mit Dana Caspersen entwickelt haben: The Exchange. Es ist Choreografie, Gespräch, Partizipation und Vorstellung in einem: Niemand ist Zuschauer*in, alle beteiligen sich. Viel verlangt von den Arnsberger*innen, die zum ersten Mal das Kollektiv treffen. Doch kein Problem: Alle sind dabei. Bereit und neugierig.

Die Zuschauer*innen werden in vier Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe wird in eine Ecke des Raumes positioniert und die Performer*innen geben ihnen Aufgaben. Dabei werden weitere Paare gebildet, die ein bestimmtes Thema besprechen und dabei diagonal den Raum durchqueren. Gleichzeitig versammelt sich eine andere Gruppe jeweils zu viert im Kreis in der Mitte des Raums und zeigt durch vorgegebene Gesten ihre Interpretation zu projizierten Thesen. Eine weitere Gruppe lauscht per Kopfhörer einer Geschichte. Die Gruppen wechseln auf ein Zeichen.

25 Personen aus Arnsberg beteiligen sich an The Exchange: Schülerinnen und Rentnerinnen, ein junger Mann aus Syrien, Lehrer und Studierende. Ein diverses Publikum: divers in Alter, Herkunft und Biografie. Gemeinsam lassen sie sich auf das Experiment ein und setzen sich in großer Ruhe und Konzentration mit Fragen zu Krieg und Gewalt, Angst und Körper auseinander. Spannend finden sie es, sagen sie nachher. Viel Neues haben sie erlebt. Die Rentnerin hat ihre Erinnerungen an den Krieg in Deutschland mit den Erlebnissen des jungen Mannes aus Syrien geteilt. Eine besondere Erfahrung.

Eine Erfahrung, die Grenzen erweitert: Grenzen für das Publikum, das es plötzlich gar nicht mehr gibt, weil niemand zuschaut, sondern alle Akteur*innen des choreografischen Moments sind. Grenzen zwischen Produktion und Vermittlung, die miteinander verschmelzen, weil interkulturelle Reflexion und physisches Erleben sich gleichzeitig entwickeln. Aber auch Grenzen zwischen Stadt und Land, denn die Menschen in Arnsberg beteiligen sich so offen und neugierig an dieser Arbeit wie die Menschen in Köln. Geld verdienen kann mit diesem Gastspielformat niemand, aber mit den Menschen in Arnsberg diese Erfahrungen zu teilen, das lohnt sich allemal.

 

Tanzland – Fonds für Gastspielkooperationen. Foto: Eva Radünzel-Kitamura

Tanzland in Bremerhaven

Langfristige Arbeit für den Tanz lohnt sich, sagt auch Dorothee Starke, Kulturamtsleiterin in Bremerhaven. Ihre Tanzland-Kooperation mit der cie. toula limnaios aus Berlin kann auf ein starkes lokales Netzwerk zurückgreifen. Seit 18 Jahren schon leitet Claudia Hanfgarn tapst – das tanzpädagogische Projekt SchulTanz in Bremerhaven und leistet mit ihren regelmäßigen Workshops und Schulkooperationen wesentliche Arbeit für den Tanz. Tanz, das ist wie eine süße Erdbeere, das macht einfach Freude – darüber sind sich die Teilnehmer*innen in ihrem Tanzprojekt alle einig, egal, ob sie zehn Jahre alt sind oder 76. Die Tänzer*innen des generationsübergreifenden Stücks unter ihrer Leitung teilen sich an diesem Abend die Bühne im Fischereihafen mit dem Ensemble cie. toula limnaios, das in einer öffentliche Probe Einblicke gibt in ihr Gastspiel tempus fugit am nächsten Tag. Begeistert gefeiert werden beide Ensembles, die Profis aus Berlin wie auch das Projekt der Bürger*innen aus Bremerhaven. Hier verbinden sich lokale Strukturen mit den Gästen aus der Hauptstadt: Beide profitieren von den Synergien und der Förderung.

Die Choreografin Toula Limnaios betont, wie wichtig für ihre international tourende Compagnie mit eigener Spielstätte in Berlin die regelmäßigen Gastspiele in Bremerhaven sind. Hier findet die Gruppe ein offenes, neugieriges Publikum und kann ihre Repertoireproduktionen regelmäßig zeigen. Eine Besonderheit in der freien Szene, denn das Repertoire der Gruppen kann viel zu selten gespielt werden, oftmals erleben die Stücke nicht mehr als fünf bis acht Vorstellungen. Gefördert werden die Produktionen und Premieren in den Produktionshäusern der freien Szene, doch Vorstellungen danach sind selten. Um nicht ständig neue Projekte zur Premiere bringen zu müssen, ist es wichtig für die Gruppen, Spielorte und Publikum für das Repertoire auch außerhalb der Tanzmetropolen zu finden. In Bremerhaven gibt es ein Publikum für den Tanz, weil lokale Akteur*innen nachhaltig arbeiten können und durch das Kulturamt der Stadt unterstützt werden. Zusammen mit der internationalen Compagnie entwickeln sie ein Angebot, das den Tanzhorizont erweitert, sich aber an lokalen Netzwerken und Bedürfnissen orientiert.

Diese Verbindung zwischen globaler, internationaler Ästhetik sowie lokalen Netzwerken und Vereinen ist ein besonderes Kennzeichen der Tanzland-Projekte. Nicht nur in Bremerhaven, auch in Fürstenfeldbruck und in Düren, Hameln und Wolfsburg bilden lokale Partner die zentrale Basis für die Ensembles und ihre Projekte. In Fürstenfeldbruck führt die Partnerschaft mit tanzmainz zu einer Belebung des lokalen Tanzfestivals und bezieht Tanzschulen und Initiativen mit ein. Die Compagnie Irene K. zeigt in Düren Tanz auf den Pflastersteinen, in Hameln entwickelt Gregor Zöllig mit dem Tanztheater Braunschweig langfristige Community-Dance-Projekte und in Wolfsburg entstehen mit der JanPuschCompany Produktionen mit lokalen Vereinen, die den großen Events der Autostadt lokale künstlerische Entwürfe entgegensetzen. In Waldkraiburg sollen nach den Tanzland-Vorstellungen der Chor und das Orchester verstetigt werden.

All diese Formate zeigen, wie sich Ensembles mit ihrem Publikum verbinden können. Dabei weisen sie weit über die Provinz hinaus, denn es geht hier um beispielhafte Verbindungen zwischen den Bühnen, in Stadt- oder Dorfgesellschaft, die überall gebraucht werden. In kleineren und mittleren Städten lassen sich diese Verbindungen und Netzwerke sogar oft leichter finden und aktivieren als in Metropolen, die unübersichtlicher und dezentraler organisiert sind. Wichtig dabei sind zwei Aspekte: Jede Stadt und jede Gemeinde muss und kann ihr eigenes lokales Profil für den Tanz entwickeln, jede Stadt hat andere Geschichten und andere Vereine, andere Netzwerke und eine andere Tanzgeschichte. Es gibt Folklore und Volkstanz ebenso wie Hiphop und Modern Dance, es gibt Vereine und Bürger*inneninitiativen. Diese lokalen Besonderheiten gilt es herauszuarbeiten und zu aktivieren. In den Tanzland-Projekten treffen lokale Akteur*innen auf die Gastensembles und damit auf externe Partner, sodass ein fruchtbarer Dialog zwischen Innen und Außen entstehen kann. Dabei ist der Impuls von außen, den die Gastensembles geben, zentral, darf aber nicht als Metropolenkulturimport verstanden werden. Damit der Dialog gelingt, muss es um langfristigen, dauer- und ernsthaften Austausch gehen und damit um faire Kooperationen.

Tanzland in Essen

Verbindungen schaffen statt Vermittlung verordnen, ist der Tenor in der Arbeitsgruppe „Stadt Land Publikum“. Der Dachverband Tanz Deutschland hat mit den beiden Förderprogrammen Tanzland und Tanzpakt zur Tagung über die „Zukunft des Tanzes“ eingeladen, die begleitend zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises in Essen stattfindet. In der Arbeitsgruppe tauschen sich fünf Tanzland-Projekte mit Akteur*innen aus den Bereichen Tanzförderung und -vermittlung aus und beschreiben ihre Erfahrungen mit dem Publikum in der Provinz.

Gebraucht wird Zeit und benötigt werden Verbindungen – das sind die zentralen Anforderungen, um ein Publikum zu gewinnen. Ein Publikum, das sich durch Digitalisierung und Globalisierung immer weniger unterscheidet, das Zugänge hat zu Informationen und Diskursen, das gewohnt ist, Unterhaltung zu konsumieren. Daher geht es weniger um die Vermittlung von Inhalten und Tanzgeschichte, sondern um eine Änderung der Rezeption: Das Publikum in der Provinz hat immer weniger Möglichkeiten, Kunst intensiv und kritisch live zu erleben.

Oder anders gesagt: Tanz braucht – wie jede zeitgenössische Kunst – Zeit für Bindungen, denn es braucht Zeit und Ausdauer, um eine Verbindung zum Publikum aufzubauen. Eine Verbindung, die über den Kauf eines Tickets und eine kurze Einführung beim Sekt hinausgeht. Kein Klick und kein Like, kein Konsum, sondern Dialog, Austausch, manchmal auch Verwirrung, Überforderung, die herausfordert, Unverständnis, das zu Interesse wird, Fragen und Auseinandersetzungen, all das bedeutet es, Publikum zu sein und ein Publikum ernstzunehmen.

Es bedarf nachhaltiger Publikumsarbeit, die sich nicht allein an die Menschen jenseits der Metropolen richten darf. Bühnenkünste wie der zeitgenössische Tanz brauchen langfristige Prozesse mit dem Publikum, damit ein gemeinsamer Resonanzraum entsteht, in dem Tanz und Gesellschaft sich bewegen. Dann und nur dann kann die immer wieder geforderte Relevanz des zeitgenössischen Tanzes und der darstellenden Kunst sich einlösen, denn dann werden Erfahrungen für Künstler*innen und ihre Betrachter*innen gleichermaßen möglich, sodass beide gemeinsam zu Produzent*innen und Akteur*innen des choreografischen Moments werden.

Genau das ist die Bedingung für das Gelingen von Bühnenkunst. Eine Qualität, die nicht nur in der Provinz in Vergessenheit gerät. Eine Qualität, die Programmmacher*innen und Förder*innen in Stadt und Land, wenn sie Nachhaltigkeit und Relevanz fordern, berücksichtigen sollten. Es braucht Zeit, Ausdauer und Vertrauen. Gastspielensembles müssen wiederkommen, sie brauchen, als tourendes Ensemble wie auch an ihren Standorten Zeit, um lokale Bündnisse einzugehen und ihren künstlerischen Weg zu finden. Dazu bedarf es stabiler Strukturen und langfristiger Förderung.

Ein Stichwort, das auf der Tagung in Essen häufiger zu hören war: Vertrauen. Vertrauen ist nötig in Tanzensembles, die sich nicht mit jeder neuen Produktion unter Beweis stellen sollten, Vertrauen aber auch in das Publikum – gerade in mittleren und kleinen Städten –, das nicht unterschätzt werden darf. Die Menschen in Winsen und Düren, in Offenburg und Staßfurt, in Herford und Eschborn wissen sehr genau, was sie wollen. Sie sind im Schützen-, Kunst- oder Sportverein ebenso aktiv wie im Tanzworkshop. Zeitgenössische Ästhetik und Experimente stehen nicht im Gegensatz zu traditionellen und lokalen Formen – im Gegenteil: Sie bilden kreative Allianzen. Wenn wir uns die Differenzen nicht einreden lassen, sondern Diversität zulassen, auch die zwischen Groß- und Kleinstadt, finden sich viele Anknüpfungspunkte. Dabei müssen wir neu lernen und herausfinden, wo und wie wir leben, wo es Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt, denn an die Folklore einer idyllischen Dorf- und Kleinstadtkulisse glauben ohnehin nur noch romantische Metropolenbewohner*innen. Diejenigen, die in den kleinen und mittleren Städten leben und arbeiten, wissen sehr genau, dass die alten Gegensätze nicht mehr wirklich sind. Von denen wollen uns Populist*innen überzeugen, die die Kulissen des Alten in Stellung bringen. Wir sind aufgerufen, Verbindungen herzustellen. Die Tanzland-Ensembles, die zu festen Größen einer lokalen Kultur werden können, bilden genau diese Verbindungen, die wir in Zukunft brauchen.

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