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„Dystopien sind realistischer“. Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit – Szenen einer Erinnerung
von Felix Ensslin
Erschienen in: Theater der Zeit: Deutsche Zustände – Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis (10/2019)
A death of one’s own
Das Gästehaus für Kulturschaffende am Balaton gab Ágnes Heller eine Heimat für den letzten Sommer. In den Nachrichten und dem Buzz der Social Media höre ich von ihrem Tod. Und auch von seiner Szene. Ágnes Heller ist aufgebrochen, abends; ist auf den See hinausgeschwommen. Sie ist nicht zurückgekehrt. Diese Nachricht wird jedem ihrer Schüler die Faszination in Erinnerung gebracht haben, mit der sie in ihren Seminaren von Søren Kierkegaards Tod gesprochen hat. Nachdem alles, was er schreiben und sagen konnte, erledigt war, brach er in der Mitte des Lebensalters eines Menschen auf einer Straße tot zusammen. Ágnes Heller war sich sicher: Der Philosoph wählte den Moment seines Todes selbst. Der Vorgang des letzten Augenblicks inszeniert sich, wird bis zum letzten Moment gewoben in ein Narrativ. Ich versuche, mir den Moment ihres Entschlusses vorzustellen. Tage, Wochen, Monate, Jahre wird es gedauert haben, um einen so unaufgeregten Tod vorzubereiten. Niemand würde mit Ágnes Heller einen subjektiven Ausbruch der Verzweiflung in Verbindung bringen, keinen Trotz gegen die Endlichkeit des Lebens. Sie will nicht bedauert oder betrauert werden, sucht keinen Trost. Sie will die Erfahrung der Freiheit bis an den Rand der eigenen Existenz weiterführen. Sie hat nicht den Tod gewählt – wer könnte das? –, aber sie hat seinen Zeitpunkt bestimmt.
Enttäuschung
Wir sitzen in einem Café irgendwo im Carré der 14. Straße und der 5. Avenue in New York. Keiner von uns lernt oder lehrt noch hauptberuflich in New York. Wir alle drei sind hier nicht mehr zu Hause, doch es fühlt sich alltäglich an, dass wir dort sitzen. Wir, das heißt unsere Mentorin Ágnes Heller, mein Freund Charlie und ich. Die Gerüche um uns herum sind nicht zu identifizieren, nicht zu vereinzeln. Wir riechen den verheißungsvollen Duft unserer Stadt, vielleicht das Echo eines Versprechens von Identität. Dann kommt das Gespräch auf den Iran. Es ist die Zeit der ersten Bush-Administration in den USA. Die Diskussion ergibt, dass Ágnes Heller in dieser Sache ein hawk ist. Sie befürwortet eine harte Linie gegenüber den „Mullahs“ und fürchtet die Naivität des Westens – vor allem seiner Linken – wenn es gilt, harte Entscheidungen zu treffen.
Things Change
Die Realität: Ich bin schon lange nicht mehr Student an der New School, mein Freund hat sich für eine andere Universität in Boston entschieden und Ágnes Heller hält ihre Position an der inzwischen zur New School University umbenannten Institution mit einer Mischung aus Pragmatismus und Zorn. Ihr Pragmatismus zielt auf die Anwesenheit ihres Sohnes Juri in New York. Der Zorn auf ihre Überzeugung, dass die in den späten achtziger Jahren aufkommenden Debatten über Identität, performative Verletzungen durch Sprache und, konkreter, über sexual harassment ihrem Mann, Ferenc Fehér, nicht nur die Anstellung, sondern, aus Gram, auch das Leben gekostet hätten. Er stirbt an einem Herzinfarkt in Budapest.
Abhängigkeit
Ferenc Fehér pflegte in den Pausen der Seminare am Lang College der New School for Social Research kleine Zigarettenstummel anzuzünden. Ein kleiner Token, ein Hinweis, dem Anspruch auf Freiheit nicht wirklich zu entsprechen? Irgendwann traute ich mich, auch Ágnes Heller danach zu fragen, ob sie denn je geraucht habe. Ihre Antwort war typisch: „Aber ja! Und mit Leidenschaft! Aber ich wollte meine Freiheit zurück, also habe ich aufgehört!“
Namen
Ein Lieblingswitz von Ágnes Heller aus der Zeit der späten achtziger Jahre handelte von Helmut Kohl. Der Kanzler war auf Staatsbesuch in Südafrika, das noch immer von der Apartheit bestimmt war. Auf Safari eingeladen, sieht er immer wieder das Schild: „All animals are dangerous“. Nach einigen Rastmomenten an Wasseroasen für die Tiere fragt Kohl endlich nach: „Es ist ja wunderbar, wie viele Tiere sie hier haben. Aber warum benennen sie alle mit dem gleichen Namen: Dängerus?“
Übergang
Ágnes Heller liebte die Vorstellung des Gesamtkunstwerkes. Bayreuth war ihr nicht fremd. Analytisch kam sie dem Theater immer näher. Nach dem Schock des Postmodernismus und Richard Rortys Abgesang auf das Leitmotiv der Philosophie – die Suche nach den Kriterien wahren Wissens – griff Heller beherzt in das Repertoire ihrer eigenen Bildungskiste: Wenn Philosophie nur noch Therapie sein sollte, dann sollte sie wenigstens gleichermaßen rational und ästhetisch sein. Fündig wurde sie dabei im Theater.
Nature against nature
Die Verbindung zwischen Freiheit und Form fand Ágnes Heller nach der postmodernen Wende immer wieder im Lesen und Sehen von Theaterstücken. Und immer wieder insbesondere bei Shakespeare. Sie unterschied in der Lektüre des Barden zwischen Figuren, die sie als absolute strangers (Othello, Shylock) bezeichnete, und solchen, denen sie die Verhaltensweise von conditional strangers (Coriolanus, Romeo, Julia) zuschrieb. Dramaturgisch, also analytisch, war dabei der Bezug Shakespeares – und in Verlängerung unserer Tradition – auf die Natur entscheidend. Für die bedingt Fremden, Entfremdeten gilt, dass sie einerseits zwischen ihrer empfundenen Natur, die sie zu freier Selbstverwirklichung und zur Entfaltung ihrer Vermögen und Talente antreibt, und andererseits ihren eigenen, durch Herkunft und Tradition bestimmten Bedingungen hin- und hergerissen sind. Für die unbedingt Fremden aber gilt, dass sie sich gar nicht von einer Welt entfremden, sich ihr gegenüber fremd fühlen können, weil ihnen die Fremdheit reine Natur ist und sie keiner Welt je zugehörig waren. Mit Shakespeare zieht sie daraus den Schluss, dass die dem Menschen von Natur aus – und das heißt: durch den Menschen – zugeschriebene Freiheit nichts begründen kann. „Freiheit ist ein nicht fundierendes Fundament.“ Mit dem Theater belegt Ágnes Heller ihre These: Die Natur des Menschen ist Freiheit und daher ist nichts Natur. Philosophisch folgt für Heller hieraus die Einsicht: Jede Identität ist geteilt in Identität und Nicht-Identität. Aber sie verbindet diesen dialektischen Einstieg mit keiner Erlösungshoffnung.
Repeat
Es gibt ein Sprichwort: Wer alle umarmt, umarmt niemanden. Folgt man Ágnes Heller, ist dies die Grundeinsicht Shakespeares: Sowohl die Selbstbehauptung des Individuums, die sich auf sein Begehren, seine Vorstellungen, Hoffnungen und Talente gründet, ist „natürlich“ – als auch die Ordnung, die ebendiesem Individuum eine Rolle (Tochter, Fremder, Vater etc.) zuschreibt . Ebenso, wie die Logik des Sprichwortes behauptet, wenn alle umarmt werden sollen, verliert der Begriff der Umarmung jegliche semantische Kohärenz, so fasst Heller ihre Interpretation Shakespeares zusammen: When everything is natural – nothing is!
mémoire und histoire
Im Nachwort zu ihrer Autobiografie greift Ágnes Heller eine Kontroverse auf, die bei der Lektüre des Manuskripts unter einigen der ersten Leserinnen und Leser ausgebrochen war. Diese waren nicht mit allem einverstanden, insbesondere nicht mit der Schilderung der Beteiligung junger Intellektueller am Aufstand in Ungarn 1956. Aus ihrer Sicht verfährt sie nach einem klaren Grundsatz: Indem sie auf eine aus der französischen Geschichtsschreibung bekannte Unterscheidung zurückgreift, ordnet sie ihre persönliche Erinnerung, mémoire, dem Versuch der Geschichtsschreibung selbst, histoire, zu. Im Modus der Autobiografie – also des Schreibens eines Selbst über das Werden dieses Selbst – hat für sie die mémoire Gültigkeit. Die Aufgabe ist nicht historistisch zu schildern, „wie es wirklich gewesen ist“, sondern wie in der Performativität der Selbstnarrativierung zu beschreiben, „wie es für mich gewesen ist“. Die Ethik dieser Art Geschichte besteht darin, in der Beschreibung möglichst nahe an der Empfindung und Wirklichkeit des vergangenen Selbst zu bleiben. Heller schildert die Szene, wie die eifrigen Intellektuellen, die sich als wesentliches Teil einer revolutionären Veränderung verstehen wollten, in dem Moment, als die Kämpfe ausbrachen, verdutzt die Frage stellten, woher man denn jetzt Waffen besorgen könne. Und dies, wie sie schreibt, obwohl in diesem Moment Waffen an jeder Straßenecke aufgelesen werden konnten. Es ist eine komische Szene, die sie schildert, komisch durch die ironische Distanz, die dennoch der Wirklichkeit des damaligen Momentes treu zu bleiben versucht. Ihr damaliges Selbst ist wahr, aber keine Folie für heutige Identifikation. Das Narrativ schreitet voran: „Würde ich mich mit meinem damaligen Selbst identifizieren, bräuchte es keine Ironie.“ Die Ironie der Geschichtsschreibung entwickelt sich aus dieser Situation. Es gibt keine histoire ohne mémoire oder, wie Heller in der „Theory of History“ begrifflich genauer argumentiert, es gibt keine wertfreie Historiografie. Aus diesem Grund ist das Theater – das immer die Subjektivität des Sprechens und Erinnerns vor Augen führt – ein privilegierter Ort geschichtlicher Reflexion.
Schluss, Folgerung, Alltäglichkeit
Man mag Ágnes Heller letztlich als antimoralische Ethikerin verstehen. Es ging ihr nicht darum, eine begrifflich oder biografisch gefundene Einsicht zu verwirklichen, sondern um die Ethik der Distanz zu jedem Projekt der Verwirklichung des Guten: „Ich sage nicht nur, dass ein gerechter Staat nicht möglich ist, ich sage eher, dass er nicht wünschenswert ist.“ Und weiter: „Dystopien sind realistischer“, sagte sie in einem Deutschlandfunk-Interview. „Es tut mir leid“, hört man sie sagen. Und sie wiederholt: „Es tut mir leid“. Diese Wiederholung klingt erkennbar apologetisch und wehmütig. Wehmütig im Gedenken an eine Zeit, in der sie als Georg Lukács’ Schülerin und später als Vertreterin des Neo-Marxismus selbst mit an der Vorstellung gearbeitet hatte, dass Philosophen die Zukunft verändern, ja sogar herbeiführen könnten. „Diese leidenschaftlichen jungen Menschen. Ich gehörte auch zu ihnen. Ich weiß, worum es geht.“ In der Jetztzeit des Interviews zieht sie hier die Bilanz einer jahrzehntelangen philosophischen und engagierten Vita, die sich im Rückblick um zwei zentrale Fragen gruppierte: „Was ist Gerechtigkeit?“ Aber auch: „Wie kann ich richtig leben?“ Das Denken und Leben der vielgewanderten Frau wird so zu einer Odyssee, an deren Ende der Ethik des Vermeidens der verführerischen Klarheit idealistischer Handlungsmaximen eine stärkere Wirksamkeit in der realen Welt zugeschrieben wurde als der Moral der Verwirklichung.
Das letzte Wort
„Mein Denken entsprach der aufkommenden Neuen Linken, bevor sie sich selbst etabliert hatte. 1968 habe ich als Bestätigung meiner Ideen erlebt. Insbesondere bestätigte sich für mich die Überlegung, dass wir keine politische Revolution brauchen. Wir brauchen eine Revolution des Lebens, des Alltagslebens. Das Leben muss selbst transzendiert werden, dies schien mir der entscheidende Punkt. Wir müssen nicht ‚die Macht erringen‘ und brauchen keine proletarische Revolution. Wir müssen unsere Leben ändern.”