Theater der Zeit

Auftritt

Potsdam: Politisches Theater

Teatr Pokoleniy / Die Zimmerwädler / Raum 4

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Brandenburg

Die Puppe öffnet den Raum zwischen der filmischen Vorlage und der auf aktuelle Einsichten zielenden Inszenierung: „M – Mörder unter uns“ von Mikhail Schischkin und Matto Kämpf in der Regie von Eberhard Köhler vom Teatr Pokoleniy und Die Zimmerwäldler.
Die Puppe öffnet den Raum zwischen der filmischen Vorlage und der auf aktuelle Einsichten zielenden Inszenierung: „M – Mörder unter uns“ von Mikhail Schischkin und Matto Kämpf in der Regie von Eberhard Köhler vom Teatr Pokoleniy und Die Zimmerwäldler.Foto: raum4/Teatr Pokoleniy/Die Zimmerwäldler

Anzeige

Anzeige

Nach der Premiere in Bern im September 2019 und einigen Schweizer Aufführungsorten, gefolgt von der Corona-Pause, war dies nun die erste Aufführung in Deutschland und die erste seit Beginn des Krieges. Die bereits gebuchten Flugtickets über Helsinki zu nutzen, war für die russischen Schauspieler nicht mehr möglich. Die Transportkosten aus Sankt Petersburg für die Dekoration hatten sich vervielfacht. So war es fast ein Wunder, als der Regisseur Eberhard Köhler, der das freie Teatr Pokoleniy (Theater Generation) zusammen mit dem Bühnenbildner Danila Korogodsky an der Newa über Jahre aufgebaut und ein weiteres Mal für diese Produktion mit Schweizer Partnern zusammengeführt hatte, das Publikum vor der Vorstellung begrüßte und über all diese Schwierigkeiten informierte, deren Ursachen somit greifbar im Raum standen.

Das Stück schrieb der in der Schweiz lebende russische Dissident Mikhail Schischkin (zusammen mit Matto Kämpf) nach dem Filmklassiker von Fritz Lang aus dem Jahr 1931. In Berlin wird ein Kindermörder gesucht, dessen Verfolgung wegen mangelnder Ergebnisse der Kriminalpolizei schließlich vom organisierten Verbrechen in die Hand genommen wird, das sich in seinen Geschäften gestört fühlt und die aufgeheizte Atmosphäre in einer traumatisierten Bevölkerung für sich nutzen will. Für Schischkin eine Vorlage mit Blick auf das heutige Russland, ohne dass er seine Adaption nun extra dorthin hätte verlagern müssen. „Mörder unter uns“, so der ursprünglich von Lang vorgesehene Titel, meint eben nicht nur den gesuchten Kindermörder, sondern eine Gesellschaft, die in einen Ausnahmezustand hinein taumelt, in dem längst andere Kräfte des Zerfalls zu wirken begonnen haben.

Die theatralen Mittel für diese parabelartige Erzählung sind indes ganz verschieden und werden vor allem von der zuweilen an Kurt Weills „Dreigroschenoper“ erinnernden Musik von Simon Ho zusammengehalten, die er gemeinsam mit einem exquisiten Blas­instrumentalisten und einem Schlagzeuger von der Seite live orchestriert. Suse Wächter tritt mit einem Bauchladen voller Puppen wie eine Moritatensängerin für die Exposition auf, eine Rolle, die sie durch die ganze Inszenierung hindurch als überbrückende Erzählerin einnimmt und in einigen Szenen als Spielerin für die zur Puppe gedoppelten Mörderfigur Beckert erweitert. Ihre dem Hauptdarsteller des Films, Peter Lorre, mit seinen heraus­stechenden Augen nachempfundene Puppe ist für sich ein Meisterwerk und öffnet hier einen Raum zwischen der filmischen Vorlage und der natürlich auf aktuelle Einsichten zielenden Inszenierung. Beckert wird von Dominique Jann als qualvoll ängstlicher Mann ­gespielt, dessen Triebmorde – wie im Film als furchtbare Spaltung seiner selbst von ihm gestanden – zu einer hoffnungslosen Flucht und schließlich vor das Tribunal der Ver­brecher führen, wo er im letzten Moment vor deren Selbstjustiz von der Polizei gestellt, aber nicht gerettet wird. Dargestellt mit einem To­destanz zu Schlagzeugsolo. Die Szenen, die „Volksmeinung“ im erschütterten Alltag verängstigter Mütter spielen, werden von den russischen Schauspielerinnen aus Stoffbahngestellen heraus gesprochen, die bereits nicht mehr den ganzen Menschen erkennen lassen. Aber sie bekunden: „Verbrecher herrschen über uns!“ Der in die Tiefe gestaffelte Raum wird mit mehreren hoch und runter zu ziehenden Reihen von schwarzen Anzügen gegliedert – ein Bild dafür, dass sich vielleicht für diesen Fall alles noch anonym abspielt, aber auch schrecklich vervielfachen kann. Und genau das ist bei aller spielerischen Leichtigkeit die Assoziation für „Mörder unter uns“.

Die Inszenierung in russischer und deutscher Sprache verwendet überdies historisches Filmmaterial, das immer im Spiel mit der Bühne bleibt. Die Vielfalt der Mittel wie auch deren Interpretation im Einzelnen wirken geradezu überbordend, aber in keinem Moment unverständlich oder abwegig. Man kann nur hoffen, dass es nicht die letzte Produktion des Teatr Pokoleniy im Exil zusammen mit den Schweizer Theaterleuten Die Zimmerwäldler ist. Die benannten sich nach dem Ort nahe Bern, in dem 1915 eine Konferenz zur Neu­organisation der Sozialistischen Internationale stattfand, die mit ihrer folgenreichen Spaltung einiges zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und so schließlich sogar zu den abstrusen Argumenten für Russlands Krieg heute beigetragen hat oder haben könnte. Politisches Theater. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"