Gespräch
Überschreibungen
Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl
von Brigitte Schwens-Harrant und Natascha Gangl
Erschienen in: Recherchen 167: Dramatisch lesen – Wie über neue Dramatik sprechen? (05/2023)
Wir sitzen im schattigen Schottenhof in Wien. In den Wochen zuvor habe ich mich auf Natascha Gangls Spuren gemacht, die sich ihrerseits in den Jahren zuvor auf Unica Zürns Spuren gemacht hatte. Aus der Auseinandersetzung mit dem Werk und den Leben von Unica Zürn sind drei auch formal recht unterschiedliche Werke entstanden: Das dramatische Anagramm und eine Klanginstallation, ORAKEL UND SPEKTAKEL. Ein Fest für Unica Zürn, die Prosa DAS SPIEL VON DER EINVERLEIBUNG. Frei nach Unica Zürn (ein hinreißend schönes Buch mit Bildern von Toño Camuñas) und Die Revanche der Schlangenfrau. Ein Klangcomic frei nach Unica Zürn. Während ich schaute, hörte und las, wurde meine Neugier auf Unica Zürns Texte neu entfacht, aber auch auf Zeitgeschichte, Ästhetik und Formen und auf weibliche Künstlerbiografien. Für unser Gespräch habe ich Fragen und Stichwörter dabei, darunter finden sich Worte wie Biografie, Ordnung, Anagramm und Auseinandersetzung, Leben und Kunst, Schrift und ihre Auflösung, Manipulation durch Sprache und Klang …
Später werde ich dieses Gespräch abtippen und erneut die lebhafte Stimme von Natascha Gangl hören. Während ich die Aufnahme abspiele, höre ich aber auch andere Stimmen, laut und leise, von nah und fern, das Klappern von Geschirr und Besteck, das Tapptapptapp von Schuhen auf den Pflastersteinen, den Wind in den Bäumen. Während unseres Gesprächs hörte ich all das nicht, da gab es nur unsere zwei Stimmen. Und nun brandet sogar immer wieder Applaus auf. Als wäre einer der Tische zur Bühne mutiert.
Sie haben sich mehrere Jahre mit Leben und Werk von Unica Zürn auseinandergesetzt, daraus sind drei sehr unterschiedliche Werke entstanden. Was ist für Sie denn eine Biografie? Was kann sie sein, was soll sie sein, was soll sie nicht sein?
Ich antworte mit einem Beispiel: Zu Unica Zürn gibt es diese Sätze: Wurde geboren in. Hat geschrieben. Hat hier gelebt. Hat diese Diagnose. Hat dort gelebt. War die Partnerin von. Hat jene Diagnose. Hat Selbstmord begangen. Es gibt diese Fakt-Sätze zu einem Leben. Ist so. Ist so. Ist so. Und dann gibt es die Schlüsse, die daraus gezogen werden. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich die Fakten und die Schlüsse auseinanderziehe und diese Satzserien von »Das war, das war, das ist, das ist dir passiert, das ist dir passiert, das ist dir passiert« ausstelle, sie aber nicht werte. Das kann also eine Art sein, mit Biografie umzugehen. Eine andere: Aus diesen Sätzen Schlüsse ziehen, beginnen, sie auszuwählen, sie zu erwählen – das kann ganz schön anmaßend werden. Nähert man sich einer Künstlerin wie Unica Zürn, ist das Gewicht der Biografie schwer, die Biografie verschlingt, sie legt sich über alles und sie legt sich in alles. Bei Künstlerinnen, bei Schriftstellerinnen passiert das ja oft: Das Werk wird verwendet, um eine »schwierige« Biografie zu »illustrieren«, während bei den Künstlern die Biografie hinführt zum außerordentlichen Werk.
Das Werk einer Frau wird dann also nicht als das große Werk einer Künstlerin gesehen, sondern bloß als Illustration eines in diesem Fall vielleicht sogar »tragischen« Lebens?
Ja. Und was ist die Tragödie? Wo liegt sie? Und wer interpretiert die Tragödie wann? Je länger ich mich mit Unica Zürn beschäftigt habe und je aufmerksamer ich sie gelesen habe, desto deutlicher höre ich eine sehr starke, mutige Stimme, voller Witz, schwarzem Humor, lese eine so fabelhafte Künstlerin. Lese ich aber Texte über sie, bekommt das Bild etwas Diffuses, sie wird zum melancholischen, leidenden Opfer, das hinter einer Diagnose oder hinter einem dieser Männernamen steht, von der es scheint, ihre Kunst wäre ihr so passiert, nebenher. Sich da durchzuwühlen und bei den Texten selbst anzukommen, zu vergleichen: Was ist ein literarischer Text von ihr, was sind persönliche Briefe, wie schreibt sie in ihren Briefen, wie schreibt sie in ihren Texten? Welche anderen Texte haben sie beschäftigt, wie hat sie diese in ihr Schreiben hineinverwickelt? Wie kann ich zum Beispiel ihre Liebe zu Kriminalgeschichten, zu Abenteuergeschichten herauslesen? Was ist ein autobiografischer Text nach Unica Zürn? Es gibt autobiografisches Material im Text, mit dem sie umgeht, das sie variiert und das sie in immer neue Spannungsverhältnisse stellt. Sie schreibt eine Szene und schreibt sie im nächsten Text um, stellt sie an eine andere Stelle in einen anderen Kontext, und auf einmal heißt der Fakt, die Szene, etwas anderes, die Bedeutung verschiebt sich. Sie wird tragisch oder witzig oder surreal. Durch diese Umpositionierung von Szenen findet auch eine Ermächtigung statt.
Da sind wir beim Thema Biografie. Im Wort »Biografie« steckt das Schreiben drin und das Leben: das Leben schreiben. Und das Schreiben geht gar nicht ohne das Formen, ich forme etwas mit Worten, ich forme etwas mit Sprache und das allein ist schon ein ständiges Umbauen. Das geschieht immer, auch dort, wo es nicht thematisiert wird oder wo es aufgrund der Form besonders auffällt. Wo der Prozess durch die Form geradezu ausgestellt wird. In den Texten von Unica Zürn ebenso wie in Ihren Texten über sie wird etwas sichtbar gemacht durch die Art, wie geschrieben und gebaut wird. Sichtbar wird, dass es um ein Schreiben geht, dass es um ein Formen geht, dass man so formen kann, aber eben auch anders. Es ist auch ein Spielen mit den Formen, die Biografien gemeinhin ausmachen – Sie haben welche genannt, dieses Faktenaufzählen nämlich –, aber es hat auch etwas Erzählerisches. Mein Eindruck ist: Genau damit arbeiten Sie, sowohl in den beiden dramatischen Texten als auch in Ihrem Prosaband über Unica Zürn.
Ja, ganz stark. Und weil ich die Macht des Erzählerischen fassen wollte, war es für mich so dringend nötig, drei verschiedene Wege zu suchen, wie ich mich ihr nähern kann, eben weil ich zur Künstlerin, zu ihren Techniken wollte. Ich wollte es möglichst unterschiedlich probieren, um nicht, um nie zu endgültigen Schlüssen zu kommen, um immer wieder auszustellen: Es kann so, aber auch ganz anders gesehen werden. Ich wollte nicht etwas über sie sagen, sondern ihre Techniken verstehen und diese Techniken im Jetzt weiterarbeiten.
Heute hat man andere technische Möglichkeiten zur Verfügung. Was ist für Sie der größte Unterschied in Bezug auf die Technik im Vergleich zu damals?
Das kann ich schwer schnell beantworten. Das Schreiben hat sich bestimmt sehr verändert in einer digitalen Welt, entspricht sogar sehr viel mehr Zürns Montagetechniken. Die Frage ist vielleicht auch nicht schnell zu beantworten, weil unsere Techniken andere sind … Unica Zürn hat ja vor allem gezeichnet, anagrammiert, Prosa geschrieben, ich arbeite viel für Theater, Performance, Radio.
Das heißt, es geht hier auch noch um eine Übersetzung, um eine Übertragung in andere Genres. Wie kann ich mir das konkret vorstellen, wie Sie da vorgehen?
Ich kann das vielleicht am besten über konkrete Beispiele beschreiben. Alles hat begonnen mit dem Bedürfnis, das Buch Das Haus der Krankheiten zu dramatisieren, es war das erste Buch von Zürn, das ich in der Hand hielt, eine wunderschöne Publikation eines Heftes, in dem Zeichnungen und Text miteinander von einem Selbstheilungsversuch erzählen, erschienen bei Brinkmann & Bose. Ich dachte, das wäre ein ideales Stück für Julia Reicherts Kabinetttheater, denn Objekttheater kann ebendiesen surrealen Bildwelten gerecht werden: Es kann die Buchstaben herumfliegen lassen, der Kopf kann davonrollen. Text kann zu Bild werden als dramatisches Geschehen, da kann das »e« sich verziehen, Sätze können sich wie Schlangen winden. Also habe ich begonnen, mich vorzubereiten, habe mich durch die Gesamtausgabe gearbeitet und herausgefunden: Zürn schreibt nicht nur Anagramme, auch die Prosa funktioniert anagrammatisch. Es gibt Motive, Figuren, Schlüsselszenen, die kommen immer wieder, aber in anderen Variationen. Also kam die Lust auf, anstelle von Das Haus der Krankheiten zu dramatisieren, herauszuarbeiten, was diese – ich nenne das jetzt mal – »Archetypen« sein könnten, die da auftauchen, und ich erarbeite so Szenen mit meinen Kolleg:innen, die komponieren, entwerfen, bauen, spielen. Wir machen Orakel und Spektakel – geben ein Fest für Unica Zürn.
Während ich dieses dramatische Anagramm geschrieben habe, hatte ich am Literarischen Colloquium Berlin ein Stipendium und da lag es natürlich nahe, in den Grunewald zu fahren, den Ort, an dem Zürn aufwuchs, in die ehemalige Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, an den Bahnhof Jungfernheide, an all die Orte, die Zürn in ihren Texten nennt. Und aus dieser Gegenüberstellung von Zürns Beschreibung dieser Orte, die sich oft magisch oder surreal lesen, und dem, was ich an diesen Orten ablesen konnte, fast eingeschrieben in die Orte lesen konnte, wenn ich mich ihnen ausgesetzt habe – oder aus dem, was sich einfach durch irre Zufälle auftat –, ist das Buch Das Spiel von der Einverleibung entstanden – ein Spiel von Fiktion und Realität, das ich ganz schön lange, auch in Frankreich und Mexiko weiter gespielt habe.
Als ich dann das Gefühl hatte, dass ich dieses Spiel von Fiktion und Realität gut genug kenne, habe ich mit der Elektroakustik-Band Rdeča Raketa – das sind die Komponist:innen Maja Osojnik und Matija Schellander – beschlossen, noch mutiger zu werden, das Biografie-Thema noch weiter zuzuspitzen. Wir haben eine Performance und ein Hörstück mit dem Titel Die Revanche der Schlangenfrau. Ein Klangcomic frei nach Unica Zürn entwickelt, in denen wir sehr stark mit diesem Bedürfnis nach Fakten und linearen Geschichten spielen, mit hypnotischem Sound wie Techno und Madrigalen arbeiten, eine Sogwirkung durch Klang entstehen lassen und dann die Wahrnehmung flippen. Also kurz bevor der rote Faden sich an ein Ende zieht, die Fakten alle beisammen sind, der Spannungsbogen steht, kippt das Ganze und wird zu einer Art Ritus. Dabei verwenden wir einen Traum von einer Schlangenfrau, den Zürn in zwei unterschiedlichen Texten unterschiedlich beschreibt, wir legen ihn über die Fakten ihrer Biografie, verweigern schlussendlich die Wahrheit aus dem Ende, das bekannt ist, kippen es in ganz andere Wahrheiten.
Biografie wird ja oft mit Linearität verbunden, weil es naheliegend scheint, sich Leben als Linie zu denken von der Geburt bis zum Tod. Die Konstruktion der Linearität ist nach wie vor sehr gängig und beliebt, im Theater, in der Literatur. Sie ist aber eine Konstruktion, die etwas behauptet, was es im Leben so gar nicht gibt. Ihre Art der Auseinandersetzung bricht mit dieser vermeintlichen Linearität. Wie wichtig ist Ihnen die Auseinandersetzung damit?
Linearität zu verweigern, das begleitet mein Schreiben von Anfang an. Ich habe das Gefühl, sie verleitet dazu, absolute Behauptungen darüber aufzustellen, was Welt ist, besonders in der Prosa. Lineare Arbeiten bekommen für mich einen seltsamen Ganzheits-, einen Absolutheitsanspruch. Wieso muss ich so tun, als könnte ich irgendetwas jemals von A bis Z zu Ende erzählen? Ich will ja nichts unhinterfragbar festzementieren, sondern untergraben und auflockern!
Im Theater kommt es ja schon aus dem Arbeiten heraus, dass die Linie eigentlich nie wirklich da ist, mal wird eine Szene geprobt, mal eine andere Szene, hier wird gestrichen, dort montiert, die Sichtweisen werden in der gemeinsamen Arbeit ständig hinterfragt, das Stück ist an keinem Abend dasselbe, das es am Vorabend war. Am Theater wandert die Bedeutung ständig; wenn zwei Menschen auf der Bühne die Positionen tauschen und trotzdem den gleichen Text sprechen, heißt alles etwas anderes. Wenn jemand die Maske abnimmt, heißt es etwas anderes. Wenn das Licht sich ändert, heißt es was anderes. Wenn die Musik eine andere ist, ist die Bedeutung eine andere. Die Bedeutung verschiebt sich konstant und das Schieben kann ein demokratischer oder ein autoritärer Prozess sein.
Die Theaterarbeit ist im Unterschied zum einsamen Schreiben zudem immer eine gemeinsame. Da werden auch einmal die eigenen Konzepte umgeworfen. Was ist Ihnen denn lieber: zurückgezogenes Schreiben oder dieses gemeinsame Arbeiten, das dann womöglich vieles über den Haufen wirft?
Ich finde mittlerweile, dass beim Alleineschreiben auch ständig alles über den Haufen geworfen wird. Wenn ich mit Unica Zürns Der Mann im Jasmin in die Tauentzienstraße gehe, dann wird mir ja auch alles über den Haufen geworfen, wenn ich sechs Taschentücher finde und Zürn schreibt, sie verteilt sechs weiße Papiertaschentücher, als wolle sie ein Zeichen für jemanden hinterlassen, der nach ihr kommen wird. Ich habe das Gefühl, über den Haufen geworfen zu werden, ist so ein Grundprinzip, das alles erst reizvoll und interessant macht.
Aber noch zum Arbeiten im Kollektiv: Ich glaube, schreiben für Theater, für Performance heißt auch, dass das Schreiben nicht auf einer Seite aufhört, sondern zu einem gemeinsamen Schreiben, einer gemeinsam verbrachten Zeit wird. Also wenn dann der Inhalt in der Textform aufgeht und zu einer stimmigen Form der gemeinsamen Umsetzung – des Kollaborierens – wird.
Das Gemeinsame unterscheidet doch auch die Rezeption von Prosa – ich lese üblicherweise alleine – von der Rezeption eines Dramas, die üblicherweise gemeinsam mit anderen stattfindet, in einem Raum mit einer Bühne. Wenn man über den Unterschied zwischen Prosa und Drama, zwischen einem prosaischen und einem dramatischen Text spricht, müsste man wohl nicht nur das Kollektiv in den Blick nehmen, das den dramatischen Text zur Aufführung bringt, sondern auch das Kollektiv, das sich diese Aufführung gemeinsam in einem Raum ansieht.
Ja – der Text ist vielleicht erst dramatisch, wenn Lesen zu einer gemeinsamen Sache wird. Weiter: eine gemeinsame Sache, die in körperliche Handlungen in einem Raum übergeht, der gestaltet wird für wieder andere – also einfach: ein Text, der Gemeinschaft stiftet.
Alle drei Werke thematisieren den Zusammenhang von Leben und Kunst. Oft wird das wie getrennt dargestellt, da ist das Leben, da ist die Kunst. Mit dieser Trennung brechen Sie hier auch.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es jemandem gelingen soll, das zu trennen. So ein Text wie Das Haus der Krankheiten ist ja nicht nur Schreiben, sondern auch ein Heilungsversuch, eine Reise durch den eigenen Körper, den eigenen Verstand. Zürn versucht eine Zeit, in der sie im Krankenhaus liegt, so zu bearbeiten, dass sie da auch wieder rauskommt. Das geschieht natürlich mit sehr klaren künstlerischen Mitteln und mit einem großen handwerklichen Können. Aber trotzdem ist es auch ein Bearbeiten des eigenen Lebens, ein Sich-irgendwohin-Arbeiten. Es lebt eine ja auch die Kunst, die Arbeit, die sie macht, diese macht ja auch wieder etwas mit einer, bewegt eine auch wieder in ganz neue Felder, an neue Orte, zu anderen Menschen. Wer kann das losgelöst denken, diesen Knoten? Da gibt es die Erlebnisse, die zu Kunst werden, die aber auch Erlebnis ist, das wieder zu Kunst wird, das eine kommt ständig aus dem anderen. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich Projekte ganz schwer abschließen kann. Gerade im Theater, wenn man sich denkt: Okay, jetzt soll man ein Stück schreiben, dann machen wir sechs Wochen Proben, dann sagen wir alle Tschüss zueinander, das Thema ist abgeschlossen, das nächste Stück wird geschrieben, wir proben sechs Wochen, sagen Tschüss zueinander und dann steht überall »Uraufführung« drauf. Das ist eigentlich absurd. Ich glaube, für keine Autorin, keinen Autor ist das Thema jemals abgeschlossen mit der Uraufführung. Sondern es geht sowieso immer weiter. Aber wir behaupten, das wars, dass das jetzt dieses Stück war und dass wir jetzt ein neues machen. Ich traue mich zu behaupten, es zieht sich immer weiter, aus dem einen kommt das andere. Warum wir diese Verkettung oder diese Verbindung nicht als Qualität ausstellen dürfen – oder wollen –, verstehe ich nicht.
Sie haben den Eindruck, der Kulturbetrieb verlangt das abgeschlossene Werk?
Ja, das ist so ein Eindruck. Im Theater steht doch diese Gier nach Uraufführung, ein Stück, wenn es einmal gespielt ist, wird nicht mehr wiederholt, jeder will eine Uraufführung.
Das ist ein Denken, das Kunst als Produkt sieht. Sie hingegen denken Kunst als Prozess.
Ja!
Ihre Beschäftigung mit Unica Zürn hat ein Werk nach dem anderen hervorgebracht.
Ein Objekttheaterstück, ein Buch, ein Klangcomic, bald eine Platte, es entstehen grafische Partituren, Videoarbeiten, Ausstellungen, Installationen, ein Festival, bei dem wieder andere Leute eingeladen sind, sich mit den Arbeiten spielerisch auseinanderzusetzen, die weiterschreiben, improvisieren. Das hat viel mit den Menschen zu tun, mit denen ich diese langen Wege gemeinsam gehe, wie mit Maja Osojnik und Matija Schellander. Eigentlich die schönste Erfahrung, dass eine Arbeit ganz auf andere Künstler:innen übergeht, die sie weiterwachsen lassen, und es hört nie auf, wie ein Fackellauf. Das Feuer brennt weiter.
Das heißt aber auch, Autorschaft anders zu verstehen als im Sinne von: Das habe ich kreiert und ich will, dass es mit mir in Verbindung gebracht wird – Werk als Produkt, als Eigentum.
Für mich ist Sprache etwas, das uns gemeinsam ist. Wenn ich einen Text schreibe, sind ja auch in diesem Text alle Texte drin, die ich gelesen habe, und alle, die ich gehört habe. Ich verwende Worte, die nicht meine eigenen sind, die unser gemeinsames Material sind, das wir gemeinsam untersuchen, beleuchten. Und das Schönste: Wenn meine Bearbeitung jemand anderen dazu anregt, sie zu verwenden, zu bearbeiten, weiterzudenken. Unica Zürn hat das ja auch ständig gemacht, sie hat sich auf andere Werke bezogen und ist auch in anderen Werken aufgetaucht, hat in einem Geflecht gesponnen.
Diese Positionen werden mir nicht oft genug gezeigt. Es gibt diese extrem große, wunderschöne experimentelle Tradition, so viele Arten, dieses Handwerk zu betreiben, es nicht solitär zu denken; aber große Aufmerksamkeit bekommen nach wie vor Bücher und Stücke, die recht konservativ sind im Vergleich zu dem, was schon alles da war, zu dem, wo wir schon überall unterwegs waren.
Es wäre viel leichter für viele zeitgenössische Autorinnen, Autoren, wäre der Kanon der »experimentellen« Literatur etwas fester, sichtbarer, geschätzter. Manchmal sind die Punkte, auf die man sich bezieht und die man weiterdenken will, einfach so unbekannt, dass das, was man macht, auf Unverständnis, vielleicht sogar auf Angst stößt, und dann gibt es wenig Budget dafür, es kommt auf die kleine Bühne, in die Nachtsendung, ist automatisch woanders, weil die Art, vor allem die Form nicht gängig genug ist, obwohl diese Formenvielfalt schon so lange da ist, obwohl schon so viele Autor:innen so gearbeitet haben.
Dabei würde das Publikum vielleicht mehr verstehen, als man ihm gemeinhin heute zutraut. Das ist jedenfalls eine These, die ich als Journalistin immer vorbringe. Denn auch in den Medien gibt es ja die Tendenz, dem Publikum viel zu wenig zuzumuten. Dabei gibt es doch die Neugier, Lust auf das nicht immer Gleiche. Mir scheint, Sie trauen Ihrem Publikum einiges zu.
Ich bin überzeugt davon, dass das Publikum eine größere Lust hat auf Experimente, als die Kurator:innen, die Dramaturg:innen, die Gestalter:innen von Programmen ihm anbieten. Ich komme aus einem kleinen Dorf und es ist mir immer ein Anliegen, die Stücke auch dort zu zeigen, dort hinzugehen, wo vielleicht neue Musik oder diese Art von Literatur wenig bis gar keinen Platz hat – oft waren es die allerschönsten Begegnungen mit dem Publikum, lange Gespräche, eine große Offenheit.
Ich höre so oft von der Angst, nicht zu verstehen, oder nicht verstanden zu sein … Die Sängerin Friederike Harmsen hat mir einmal gesagt: Es gibt eben unterschiedliche Arten des Verstehens. Es gibt rationales Verstehen und Sinn, der anders erfahrbar ist. Ich glaube, andere Formensprachen können andere Arten von Wissen generieren. Und es gibt viele Leute, die wahnsinnige Lust haben auf diese anderen Arten der Ansprache, die Lust haben auf Reibung. Über Klang, Musik, Sprachmusik können Leute in vielleicht ungewohnte Denkräume geholt werden, vielleicht weil der Klang so verführerisch ist. Das ist noch einmal ein spannendes Thema: Wie manipulativ Sound ist, was passiert, wenn ein Text zu einem Madrigal oder zu Techno wird.
Ja, der Unterschied zur Prosa, die ich selber still lese, ist mir beim Klangcomic stark aufgefallen. Es gibt da diese verbalen Zuschreibungen im Sinn von: Du bist wahnsinnig, du Opfer. Zuschreibungen, die mehrmals wiederholt werden. Die Kombination von Klang und Sprache macht eindringlich hörbar, wie Sprache als Waffe eingesetzt wird. Das wird sie auch in den Sätzen, die ich lesen kann. Doch im Klangcomic bekommt es eine ganz besondere Kraft und Deutlichkeit. Das ist auch eine extrem politische Angelegenheit. Inwieweit sehen Sie Ihr Arbeiten mit Sprache als ein politisches?
Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wenn ich mit Sprache arbeite, ist das politisch. Weil sie unser Gemeinsames ist. Weil wir aus der Verantwortung mit ihr umzugehen ja gar nicht herauskommen können. Mir ist aufgefallen: Es sprechen so viele Autor:innen vom Eigenleben der Texte, vom Eigenleben ihrer Texte beim Schreiben. Und dieses Eigenleben von Sprache, dieses Eigenleben das Diskurse entwickeln, bestimmt ja stark unser Leben; gerade die vergangenen beiden Jahre haben besonders deutlich gemacht, wie sich Sprache verselbständigt, wie sich der Diskurs verselbständigt, was das mit dem eigenen Körper macht, wo der platziert wird. Wo keine Urheber:innen mehr festgemacht werden können, Themen plötzlich dominant werden und Körper zu den schrägsten Handlungen motivieren.
Bekommen Sie auch Rückmeldungen auf Ihre Stücke?
Ja, oft sehr starke und sehr unterschiedliche: psychedelische Flashs, völliges Unverständnis, Wut, Lachkrämpfe und totale Beglücktheit – alles dabei.
Ich komme auch hier wieder zurück zu Unica Zürn, die ja auch sehr heftige Reaktionen auslöst: Als ich mich mit ihr zu beschäftigen begonnen habe, haben mir viele gesagt, ich soll auf mich aufpassen. Oder mir wurde erzählt, dass jemand eine Vorlesung abbrechen musste, weil sich die Studierenden zu sehr mit Unica Zürn identifiziert hatten. Wer hat Angst vor Unica Zürn? Wer fürchtet sich wovor?
Sie findet für viele Themen, die gerade aus feministischer Sicht sehr wichtig sind, sehr treffende Worte, Sätze, die vielleicht erst surreal poetisch klingen, aber bei genauerer Betrachtung ein Weg sind, Probleme zu beschreiben, die sonst einfach nicht benannt werden oder für die es noch gar keine Sprache gab, so verdrängt waren sie. Das öffnet, glaube ich, sehr große Resonanzräume bei Zuhörer:innen, bei Menschen jeden Geschlechts, es sind Themen, die uns allen durch Mark und Bein gehen, wir finden uns wieder in den Texten.
Bei Ihrer Prosa kamen zur Schrift Bilder, die noch einmal eine andere Eindrücklichkeit haben als die Schrift. Beim Klangcomic ist es oft geradezu unheimlich, wie die Sprache auf einen einprasselt, manchmal peitscht; der Klang verstärkt, was in der Sprache da ist, er wirkt noch stärker als das Bild.
Ein Hörerlebnis lässt sich fast nicht auf Distanz halten, vor allem, wenn man drinnen sitzt und es Vierkanal-laut auf einen einprasselt. Dann hat dieses Stück etwas Tranceartiges und hat auch etwas sehr Kathartisches. Wir haben uns sehr bewusst dazu entschlossen, es so zu bauen. Nach so langer Zeit mit diesen Themen wie Gewalt gegen Frauenkörper, Gewalt der Psychiatrie, illegale Abtreibungen, Zwangssterilisationen – und je mehr eine recherchiert, desto klarer wird es, wie unendlich viele Menschen das zu ertragen hatten, auf wie viele Menschen die gleichen Fakt-Sätze zutreffen, wie viele ein ähnliches Schicksal zu ertragen hatten und haben! – Wem brennt nicht die Sicherung durch, der – die – das aushalten muss? Was heißt da überhaupt noch krank, was gesund? Ich glaube, es ist eine sehr gesunde Reaktion des Körpers, der Psyche, irgendwann zu verweigern, nicht mehr mitzukönnen. Also – es war an der Zeit für einen Empowerment-Ritus.
Die Brutalität der Sprache wird hörbar. Natürlich prägt die Zeit auch, in der man das hört. Ich dachte beim Hören nun: Ich bin im Krieg. Aber es ist ja auch Krieg.
Ja.
Sprache, Bild, Szenisches, Musik – es scheint darum zu gehen, ständig das eine ins andere zu transformieren. Die Schrift immer wieder aufzulösen in ein Bild. Das thematisieren Sie auch in der Einverleibung. Sinngemäß wird die Frage gestellt: Liest du Bilder, liest du Schrift? Was wollen Sie da knacken an der Sprache, an der Schrift?
Wenn ich das wüsste. Es ist oft schwer für mich, über die eigene Arbeit zu sprechen, sie zusammenfassen, weil es so viel Forschen ist, ich mittendrin stecke – es nicht einfach, sich hinzusetzen und smarte Sachen zu sagen über die Arbeit, die einen jeden Tag auseinandernimmt. Vielleicht hat es was von einer Tänzerin, die einen Raum erkundet. Schaut, was sie alles machen kann. Der Raum ist in diesem Fall die Sprache. Ich probiere aus, wie ist es, ein Stück zu schreiben. Dann probiere ich, wie ist es, das abzugeben, wie ist es, dabei zu sein, wie ist es, wenn die Regie wegbleibt, wie ist es, wenn die Schauspieler:innen wegbleiben, wie ist es, wenn ich meinen eigenen Körper hinstelle, wie ist es, wenn da nur mehr der Sound ist, wie es ist, direkt mit Sound und field recordings zu schreiben und wie ich diese Erfahrungen wieder aufzeichnen, wieder in Körper übertragen kann. Es ist ein ständiges Abtasten von dem, was möglich ist, was geht. Und dann gibt’s natürlich in diesem Raum immer Menschen, Beziehungen. Und es gibt immer dieses komische Ding, »den Markt«, »den Betrieb« mit seinen Forderungen, der lässt sich nicht vermeiden, also kommt dazu noch der Versuch, wie man dem spielerisch begegnen kann, sich nicht dominieren lässt. Es kommen trotzige Strategien dazu, wie zu sagen: Mein Stück ist nicht uraufführbar, denn es ist unendlich, das gibt es nur in Aktualisierungen.
Mir gefällt das Prozesshafte sehr. Werk im Sinn von werken, was kann ich mit dem Material herstellen; es ist performativ, indem ich etwas spreche, stelle ich auch etwas her. Sie sprachen bereits über Anagramme und das Anagrammhafte des Schreibens: Mir fiel auf, dass man das Wort »Auseinandersetzung« sehr oft verwendet, man setzt sich aber mit dem Wort nicht auseinander. Im Grunde ist das, was Unica Zürn tut und was Sie tun, eine wörtlich genommene Aus-einander-setzung.
Das ist schön! Ich habe das zum ersten Mal bewusst gemacht bei Die große zoologische Pandemie, einer Textfläche, die ich seit 2010 und bis zur Pandemie 2020 immer aktualisiert habe. Immer neue Blöcke, Module kamen dazu, kamen weg, wurden für jede Theateraufführung oder Installation oder Performance neu zusammengebaut, auseinandergesetzt, zusammengebaut, und zwar so, dass es etwas mit den Menschen und dem Ort, an dem die Aufführung stattfindet, zu tun hat. Seither denke ich dramatische Texte als Baukästen, als Montage-Spiel – ein Theatertext soll doch vor allem Spiellust entfachen!
Spiellust, ein wichtiges Wort! Wir haben schon über Gewalt durch Sprache gesprochen, aber das Anagramm zeigt ja auch eine Spiellust. Über die spielerischen und hellen Seiten dessen haben wir vielleicht noch zu wenig gesprochen.
Ja, ein sehr buntes Werken … Ich denke gleich an die Bilder von Toño Camuñas im Buch Das Spiel von der Einverleibung, die Brutalität immer auch mit Humor bewältigen. Die Dualität überwinden. Auch so ein Zürn-Thema: Was ist schon dunkel, was hell, was gut, was schlecht, was gesund, was krank, was weiblich, was männlich, was erwachsen, was kindisch – ah, da ist das Urteil?! Ich flipps über, na ist doch nicht mehr da, ist doch wieder anders. Das macht Spaß und ist befreiend!
Etablierte Einteilungen werden dadurch völlig aufgemischt.
Deswegen beginnen sich gerade so viele Menschen für Unica Zürn oder ihr verwandte Künstler:innen zu interessieren. Es gibt gerade viele Autorinnen und bildende Künstlerinnen, die ganz neu betrachtet werden, weil gerade eine gute Zeit dafür angebrochen ist, weil es jetzt gerade viel Bereitschaft gibt, außerhalb von Dualität zu denken.
Das wäre ja die Möglichkeit von Kunst, solche Denkschemata aufzubrechen, darin ist sie wohl auch stärker als Theorien. Sie haben Philosophie studiert, und ich habe mich gefragt – denn natürlich sieht man Spuren –, wie sehr Sie Theorien beeinflussen. Ich habe bei Ihnen den Eindruck, dass es bei Ihnen eher die Kunst ist, die Theorien generiert, nicht umgekehrt.
Ja, gerade war das für längere Zeit so, dass mich vor allem andere Künstler:innen angespornt haben. Vielleicht auch, weil ich die Form für mindestens so relevant wie den Inhalt halte, weil ich glaube, dass Bewusstsein sich gerade in Formen erzählt und die Form der Theorie oft ja sehr reguliert daherkommt … Letzten Herbst habe ich mit meinen Kolleg:innen EINSAME AMEISEN AMNESIE. Ein Klangcomic frei nach Anestis Logothetis entwickelt. Logothetis ist ein Komponist, der besonderen Fokus auf die Grafische Partitur legt, er stellt immer wieder das Lesen, das Interpretieren ins Zentrum. Er schreibt, durch die Einsicht in die Partitur kann eine dem Werk innewohnende Mehrschichtigkeit freigelegt werden. Es geht ihm darum, eine so reiche Aufzeichnung auf diesem armen Blatt Papier zu schaffen, dass ein unendlicher Strom an Interpretationen herauskommen kann.
Das verhält sich ganz entgegengesetzt zum alltäglichen Literatur- oder Theaterbetrieb, der oft zu fordern scheint, dass auf jeder Seite besonders verständlich und klar steht, worum es geht. Wo es fast als Zeichen mangelnder Qualität gelesen wird, wenn sich eine Polyphonie an Sinn ergibt, wenn Mehrschichtigkeit da ist. Aber auch bei der Literatur und der Prosa. Wie erleben Sie das?
Genauso. Leider. Am besten ein eindeutiger Plot und das Rezept, wie alles zu verstehen ist, ist auch schon dabei. Dabei ist Kunst für mich etwas anderes. Sie lädt doch gerade in ihrer Offenheit dazu ein, gegebenenfalls selbst Schlüsse zu ziehen. Die müssen mir doch nicht mitgeteilt werden, weder als Beipacktext noch von der Literatur selbst. Wenn es darum geht, eindeutige Botschaften und womöglich auch noch Anweisungen zu liefern: »Weswegen ein Roman und nicht ein Rapport und warum eine Erzählung und nicht eine Analyse? Weswegen quält sich einer mit dem Rhythmus im Vers ab statt mit Statistik? Und weswegen die Bühne und nicht direkt die Kanzel?«, fragte Hugo Loetscher schon 1999.
Spitzt sich das gerade auch weiter zu, der Wunsch nach Vereinfachung?
Es scheint so.
Es gibt zudem den Trend, vermehrt Romane auf die Bühne zu bringen, wie sehen Sie das?
Ja, und welche Romane, die linearsten Romane! Wieder diese Sehnsucht nach der Linie. Man weiß, es wird funktionieren, also warum etwas Neues machen. Anestis Logothetis wetterte immer gegen diesen konservativen Kulturbetrieb und irgendwann hat er geschrieben, es gibt beständige Neugier und gleichzeitig Altsucht. Das liest sich sehr heutig. Auf der einen Seite immer ein neues Stück, immer ein neues Stück, immer nächste Uraufführung, immer nächste Uraufführung, immer nächste Uraufführung, aber sie soll bitte nach Rezept funktionieren, gelungen, wie bisher, und den Roman soll schon zumindest jede zweite gelesen haben. Da ist eben Angst vor Risiko … Was ich auch verstehen kann, schaue ich auf die Arbeitsbedingungen und Beziehungen am Theater. Das sind Menschen, die sind für eine Zeit da und danach werden sie weiterziehen. Diese Zeit muss sehr erfolgreich sein, um danach das nächstbessere Haus zu bekommen. Es ist etwas sehr anderes, an einem Haus zu arbeiten, das von Menschen geleitet wird, die bleiben. Die haben aber dafür vielleicht die Angst, keine Förderung mehr zu bekommen, oder dass ihnen schlicht die Kraft ausgeht. Ich glaube, eine Dramaturgin, die in einem stark hierarchischen Betrieb arbeitet und weiß, sie hat ihren Vertrag für ein paar kurze Jahre, wird anders entscheiden als jemand, der sagt, ich mache jetzt mein Haus, an dem ich bleibe, in einer Stadt, einem Dorf – und jemand, der Teil eines stabilen Kollektivs ist, in dem die alten Machtspiele nicht mehr gespielt werden, wird wieder andere Entscheidungen wagen. Da hat sich ja auch viel getan …