Überlegungen
1986
Assoziationen: Dossier: Chile
Ich bin sechs Jahre alt, es ist Sommer.
Ich bin auf dem Land. Wir sind jeden Sommer auf dem Land.
Meine Mutter sitzt im Schatten auf einem Stuhl.
Ich liege im Gras, ebenfalls im Schatten.
Ich schaue in den Himmel durch die Blätter eines Aromo-Baumes.
Meine Mutter bittet mich, ihre Beine einzucremen.
Ihre Beine sind stachelig, und das gefällt mir.
Mein Vater, der eine Zeitung liest, nimmt seine Kamera und macht ein Foto von uns.
Meine Mutter ist jung und lächelt.
Meine Mutter ist jetzt nicht mehr jung und lächelt selten.
Ein Schuss ist zu hören. Vögel fliegen auf.
Meine Mutter verdeckt ihr Gesicht.
Mein Vater sieht meine Mutter an. Sie bewegt sich nicht.
Er geht ins Haus und kommt mit einem Radio zurück.
Er schaltet das Radio ein.
Niemand spricht über den Schuss.
Ich verstehe nicht, warum das Radio über den Schuss sprechen sollte. Ich frage nicht.
Ich fahre fort, sie einzucremen.
Meine Mutter weint, während ich ihr Creme auf ihre stacheligen Beine gebe.
Mein Vater geht wieder ins Haus.
Wir bleiben allein. Ich frage sie, warum sie weint.
Ich sage ihr, vielleicht jagt jemand.
Sie lacht. Sie nimmt die Creme und verschließt sie.
Der Sommer 1986 geht zu Ende.
Meine Mutter sagt mir, dass sie Kugeln nicht mag, da Soldaten vor fast einem Jahr einige Lehrer getötet haben.
Sie sagt, dass dieser Schmerz auch in fünfzig Jahren nicht verschwinden wird.
Ich weine, weil sie auch Lehrerin ist.
Weil ich auch Lehrerin werden möchte.
Erschienen am 28.8.2023