Theater der Zeit

Thema: Die Schaustörer – Spiel und Widerstand

Die Droge Spiel

Frontmann im Dostojewski-Blues – Der Schauspieler Alexander Scheer

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)

Assoziationen: Akteure

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Leben ist tödlich.“ So steht es in grell-bunter Leuchtschrift, die nicht ernsthaft Reklame sein kann, an einer Drehbühnenwand. Das ist sozusagen die finale Bestimmung menschlicher Existenz, an der nicht zu rütteln ist. Und davor?

Zu Beginn des fast fünfstündigen Dostojewski-Castorf-Marathons „Der Spieler“ springt Alexander Scheer als Alexei Iwanowitsch (alias Dostojewski in Baden-Baden) in Hochwasserhosen und weißen Socken auf Stühle, fällt auf den Rücken – das sieht dann ziemlich artistisch aus –, kriecht in die nächstbeste Schildkröte. Raus aus dem schlecht sitzenden Anzug der Bürgerlichkeit, rein ins animalische Chaos? Auftritt Krokodil. (Hieß so nicht auch eine sowjetische Satirezeitschrift von stalinistischem Biss?) Ist es selbiges, das Castorf in seinem Bayreuther „Siegfried“ (dort aber automatisch betrieben) über die Bühne (den Alexanderplatz) kriechen ließ, während Siegfried und Brünnhilde ihre Sexualität entdecken konnten? Ein Spiel mit Selbstzitaten. So hängt eben alles mit allem zusammen, nicht nur bei Castorf, auch bei Alexander Scheer, dem Frontmann im „Spieler“-Blues. Dessen reichlich surreale Frage am Rande der Casinowüste, wo die Drogen zu wirken beginnen, verhallt darum nicht ungehört: „Wo kommen jetzt diese verdammten Fledermäuse her?“

„Haben Sie da eben LSD geschrieben?“ Auch nachts um halb eins, als wir uns dann nach der Vorstellung in der Volksbühnenkantine treffen, sieht Alexander Scheer noch alles – und das, obwohl er mir gegenüber mitten im Lärm und dichtem Zigarettenqualm sitzt und meine kaum für mich selber entzifferbaren Hieroglyphen aus seiner Perspektive noch dazu auf dem Kopf stehen. Oder tanzen?

Eben ist er aus Köln gekommen, da spielt er in „Alarm für Cobra 11“ mit, das ist die preiswerte James-Bond-Variante des deutschen Fernsehens. Gerade haben sie eine Motorbootverfolgungsjagd auf dem Rhein gedreht. Für die technischen Effekte nahm man sich mehrere Tage Zeit, die Dialoge wurden dafür umso schneller abgedreht, Fernsehen eben. Scheer kann auf sehr sprechende Weise abwinken, es wirkt nicht einmal überheblich. Als er die Arme hebt, fällt mein Blick auf die großen Tattoos an den Armen, die so gar nicht zum „Spieler“ passen wollen. Sind die echt? Nein, die gehören zu „Cobra 11“, stöhnt Scheer, es geht wahnsinnig schwer wieder ab.

Als er heute auf dem Weg zur Volksbühne war, hat er sogar insgeheim gehofft, „Der Spieler“ könnte ausfallen. Bei der Aussicht fühlte er sich gleich viel besser. Eine merkwürdige Art, sich zu motivieren, finden Sie nicht? Doch, doch. Seine Gitarre lehnt an der Garderobe gleich neben dem Mantel. Scheer ist schließlich auch Gitarrist der Gruppe Der internationale Wettbewerb. Als Castorf ihn einmal einen Blues spielen hörte, sagte er sofort: „Gekooft!“ Nun ist die Gitarre im „Spieler“ dabei. Der „Spieler“ sei ja auch so etwas wie Blues, schicksalhafte Musik.

Das „Prinzip Castorf“ sei allerdings hart: Manchmal bekomme man erst drei Tage vor der Premiere die vollständigen Textbücher, es gibt keine Haupt- oder Generalprobe, die Premiere ist gleichzeitig der erste Durchlauf. Da hat man es dann selber in der Hand, dieses Fragment auf jenes Energielevel zu bringen, auf dem alles erst funktioniert. Aber Scheer gefällt diese Art Anarchie. Trotzdem: „Ich mag Profis.“ Solche wie Castorf also. Allergisch reagiert er, wenn ihn jemand zum Objekt machen will. Mit 17 brach er die Schule ab und hat dann nie mehr eine von innen gesehen. Er habe es in der Wendezeit erlebt, wie Lehrer innerhalb kürzester Zeit das Gegenteil von dem verkündeten, das sie gestern noch als unumstößlich gepredigt hatten. Diese Erfahrung in Sachen Wahrheit und Lüge reicht ihm bis heute.

Autodidakt aus Überzeugung, schlug er sich anfangs in der Off-Szene durch, wurde von Leander Haußmann für „Sonnenallee“ entdeckt und war plötzlich über Nacht bekannt geworden. Ein weit, weit ausgreifender Gene-Kelly-Tanzschritt, purer Übermut, grundiert von jenem unwiderstehlichen Rock 'n' Roll-Rhythmus, der Mauern (sogar die Mauer!) zum Einstürzen bringt, war fortan mit seinem Namen verbunden. Er hätte immer weiter nur solche Filme machen können, aber er wollte etwas anderes, Extremeres: Er wollte zu Castorf.

Doch wie ist das nun mit den Drogen, besonders wenn man völlig erschöpft ist, kommt man da nicht in Versuchung, sich irgendwie „aufzufrischen“? Drogen, sagt Scheer, nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und wiegt die Bierflasche in der Hand, seien Doping und solches Doping finde er „unsportiv“. Früher, bevor die Schauspielerei zum (anstrengenden) Beruf wurde, in den fröhlichen Neunzigern, da habe er auch mal LSD ausprobiert, doch mit jemandem auf der Bühne zu stehen, der auf Droge ist, erträgt er nicht. So einer wird dann tatsächlich zum Solospieler, aber Theater ist ein Zusammenspiel vieler.

Er bleibe nun mal das Kind der neunziger Jahre. Loveparade und grenzenlose Freiheit. Dann kam „Trainspotting“ ins Kino – und plötzlich war auch das Heroin wieder in Mode. Wie viele seiner Freunde habe er an die Drogen verloren! Aber darüber brauchen wir jetzt nicht zu reden, lacht Scheer, er habe da bei manchen ohnehin seinen Ruf weg. Kathrin Angerer kommt, sich zu verabschieden, dann noch eine junge Schauspielerin, Lilith Stangenberg, beide haben sie eine einzige drängende Frage: Spielt er nun mit in Balzacs „La Cousine Bette“, Castorfs neuer Produktion? Er muss sich in den nächsten Tagen entscheiden. Mittlerweile hat er so viele Drehtermine, dass es schwierig wird. Er möchte es gern, statt zwei Stunden Dreh und zehn Stunden Rumsitzen die Castorf’sche Intensität über Stunden. Dieses An-die-Grenzen-Gehen als Grundgefühl. Da wird Selbststeigerung zur Droge allein aus dem Spiel heraus! So macht man unerwartete Erfahrungen mit sich, mit seinen Mitspielern, mit dem Text.

Das stärkste Erlebnis dieser Art hatte er in Paris beim Gastspiel mit „Kean“ im Odeon. Eine in sich herrlich verdrehte Geschichte, aus Dumas und (Anti-)Heiner Müller gebaut. Seine erste Hauptrolle bei Castorf. Der Schauspieler Scheer spielt den berühmten englischen Shakespeare-Darsteller Kean, der die Welt in eine einzige Bühne verwandelt. Das ist so artifiziell, das schreit nach Realität.

Sechs Vorstellungen zu je fünf Stunden en suite. Vor der letzten konnten sie alle nicht mal mehr laufen, nicht mehr den Arm heben und nur noch matt flüstern. „Die Pariser lieben Castorf“, sagt Scheer, das ist eben jene Art Theater, die sie nicht haben, aber die sie anscheinend an etwas erinnert. Also war zur letzten Vorstellung das riesige Odeon völlig überfüllt, man hatte sogar noch einen sonst verschlossenen Rang aufmachen müssen. Es war diese flirrende Atmosphäre, die sie schließlich fliegen ließ. Woher die Kraft kam? Schulterzucken. Es war ein Rausch ganz ohne Drogen.

Theaterspielen ist eben etwas anderes als der Kick, den einem die Drogen geben. Man muss sich auf der Bühne wahnsinnig anstrengen, schwer arbeiten, um – vielleicht! – an den Punkt zu kommen, wo es wie von selbst geht und man den Schmerz und die Müdigkeit nicht mehr spürt. Theater so spielen wie Scheer es vermag, das ist Ekstaste und Kontrolle dieser Ekstase zugleich – ein eiskalter Rausch. Als er kürzlich in Baden-Baden zu einer Hörspielproduktion war, sei er auch in das Spielkasino gegangen, in dem schon Dostojewski war. Ein Roulettetempel aus längst versunkenen Zeiten, dabei jene Vornehmheit vortäuschend, die das schnöde Ziel kaschiert, möglichst viel Geld zu gewinnen. Nach zwei Stunden Gewinnen und Verlieren ging er mit den hundert Euro wieder heraus, mit denen er hereingekommen war. So zu spielen hatte Spaß gemacht. Aber das Interessanteste am Casino war etwas anderes, das ihn daran erinnerte, dass diese Carstorf’sche Giershow keine Erfindung ist: Ein Russe kam mit einem Anhang von Leuten wie ein Chefarzt zur Visite zum Roulettetisch. Er setzte immer zehntausend Euro auf einmal und hatte nach einer Stunde bereits zweihunderttausend Euro verloren. Dann ging er wieder, ohne das Gesicht verzogen zu haben. Da wusste Scheer, mit ihrer „Spieler“-Inszenierung haben sie den Nerv der Zeit getroffen.

 

PS: Für Castorfs Balzac-Projekt hat Alexander Scheer zugesagt. //

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