Was sollte „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm einem zeitgenössischen Publikum erzählen können? Ein Buch aus dem 19. Jahrhundert, die Handlung spielt sich gar Mitte des 18. Jahrhunderts ab – ist die Gegenwart dieser Vergangenheit nicht schon längst entwischt? 21. Jahrhundert, das klingt nach sogenannten neuen Medien, Digitalisierung, Hochgeschwindigkeit, Information, Innovation, Veränderung – eine sich absolut setzende Gegenwart, die mit der dunklen Vorzeit nichts mehr zu tun haben möchte. Aber nun ist das 21. Jahrhundert eben auch verbunden mit Religion und religiösem Fanatismus, Aberglauben, Dünkel, Vorurteilen, Irrationalismus. Der Fortschritt der technischen Naturbeherrschung ist nicht identisch mit einem Fortschritt der Gesellschaft als solcher, einem sozialen Fortschritt. Die Geschichte ist die in sich verworrene Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Aberglauben, Fortschritt und Religion. Dass die mit der Aufklärung einhergehende Säkularisierung in Aberglauben und Mythos umzuschlagen droht, indem sie von ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen abstrahiert, haben einst Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnet.
In Johan Simons’ Inszenierung des „Schimmelreiters“ am Hamburger Thalia Theater wird der Konflikt zwischen Religion und Aufklärung auf eine reduzierte, aber eindringliche Weise dargestellt. Der von Jens Harzer großartig gespielte Hauke Haien schult sich schon im frühen Alter an Euklid und macht Berechnungen zur Verbesserung des...