Theater, Krieg und die Erschütterung des Kapitalismus
Erfahrungen des ersten totalen Krieges
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die dunklen, zerstörerischen Dimensionen, die Spaltungen und die Gewalttätigkeiten der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft, die sich 1914 in einer bis dahin geschichtlich unvergleichlichen Massenschlächterei entluden, hatte der Naturalismus schon in Ansätzen thematisiert, der antinaturalistische Umbruch aber, auf die Kreativität des Individuums und die Produktivität des Kunstmachens konzentriert, gleichsam verdrängt. Nur in einzelnen Momenten schienen sie in der „ästhetisierten“ Theaterwelt auf wie 1896 in der skandalumwitterten Inszenierung von Alfred Jarrys KÖNIG UBU, in Reinhardts ELEKTRA oder auch in Sergej Diagilews SACRE DU PRINTEMPS. Die verblüffende Schnittstelle zwischen dem im Ästhetischen verkapselten Theater in der Linie Reinhardts und des russischen Balletts und dem militanten Futurismus könnte ein Zeichen größerer Aufmerksamkeit für die tiefgehende Gewalttätigkeit der scheinbar friedlichen bürgerlichen Welt gewesen sein. 1913 machte Siegfried Jacobsohn seine Wochenschrift DIE SCHAUBÜHNE, die die erste Phase des antinaturalistischen Paradigmenwechsels des Theaters als einflussreicher Ausleger begleitet hatte, zur WELTBÜHNE. Er habe angefangen zu bemerken, blickte er 1920 zurück, dass sich über den Soffitten seiner Theaterwelt „jenseits von ihren Kulissen ein ziemlich großes Reich dehnte“. Da er damit „weder die Entstehung des Weltkriegs noch Deutschlands Niederlage noch die Versumpfung der Revolution verhindert“ habe, bekomme er zu hören,...