Protagonisten
Nichts geht mehr?
Wie die Schwankhalle in Bremen unter der neuen Leitung von Pirkko Husemann die ersten Startschwierigkeiten meistert – auch dank eines außergewöhnlichen Solidarpakts der Stadt
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Sind wir nicht alle ein bisschen verrückt nach dem Glück? Bei „Neuropa-Roulette“ jedenfalls, einem Projekt des Performers Lajos Talamonti in der Bremer Schwankhalle, ist das Publikum ganz wild darauf, sein Glück zu versuchen. Der körperliche Einsatz auf dem bühnengroßen Roulette-Tableau ist beeindruckend. Immerhin geht es darum, ein neues Europa zu schaffen. Zwischen den Spielzügen werden Gewinner wie Verlierer von Talamonti befragt: Was man sich wünsche für das neue Europa, warum einige der Spieler innerhalb kürzester Zeit stinkreich seien, während andere bettelarm blieben. Casino-Kapitalismus, der Strukturen Europas greifbar macht – ein Abend, der in seiner partizipativen Form an diesen Aufführungsort passt.
Schwankhallen-Intendantin Pirkko Husemann, vormals Kuratorin für den Bereich Tanz am HAU Hebbel am Ufer in Berlin, ist hier vor einem Jahr angetreten. Neben einem klaren programmatischen Konzept für überregionale und internationale Gastspiele sollten lokale Künstler eine neue Form der Unterstützung durch dramaturgische Betreuung oder Förderanträge-Workshops bekommen: Entwicklungsarbeit für die lokale Szene – gepaart mit dem Anspruch auf überregionale Sichtbarkeit. Der Trägerverein Neugier e. V. traf die richtungsweisende Entscheidung für ein Team, das von außerhalb Bremens und mit einem klaren konzeptionellen Zugriff antrat.
Dann die Ernüchterung nach dem ersten Jahr: Die Zahlen blieben weit unter der erhofften Auslastung von 60 Prozent. Im Weser Kurier schrieb Kultur-Ressortleiterin Iris Hetscher von einem „Theater-Gau“, bezichtigt die Leitung des verantwortungslosen Umgangs mit den 755 000 Euro Zuschüssen der Stadt. „Wir haben jetzt ein Jahr hinter uns, und die Zahlen sind unter unseren Erwartungen geblieben“, so Husemann dazu. „Dennoch bemerken wir, dass in der Arbeit mit den Künstlern und auch mit dem Publikum ganz viel entsteht und wächst. Diese Ergebnisse sind meist qualitativ und lassen sich kaum quantifizieren. Man braucht einen langen Atem, bis sich das auch in Fördersummen, Veranstaltungs- oder Zuschauerzahlen niederschlägt.“
Die Fördersituation ist nicht üppig: Die Projektmittel der Stadt lagen im letzten Jahr bei 300 000 Euro für alle freien Künste. In der Senatorischen Behörde für Kultur war man sich des Problems bewusst – und rief kurzerhand einen Solidarpakt ins Leben. „Als der Kulturhaushalt 2016/17 trotz Haushaltsnotlage nicht beschnitten wurde, war das ein schöner Erfolg. Trotzdem war klar, dass die Projektmittel mit 300 000 Euro nach wie vor sehr gering ausfallen“, erläutert Alexandra Albrecht, Pressesprecherin des Senators für Kultur. „So entstanden die Überlegungen zum Solidarpakt: Woher können zusätzliche Mittel kommen? Können womöglich Bremer Institutionen, die erfolgreich gewirtschaftet haben, einen Teil ihres Geldes freiwillig an die freie Szene abgeben?“
Sie können. Mit zusätzlichen 300 000 Euro übernimmt das Theater Bremen den Löwenanteil des neuen Modells. Intendant Michael Börgerding macht sich seit Beginn seiner Intendanz für die freie Szene stark und kann auf wirtschaftlich erfolgreiche Spielzeiten zurückblicken. „Wir sind froh über die große Unterstützung für den Solidarpakt, die so nicht vorauszusehen war“, kommentiert Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz. Und Alexandra Albrecht sieht eine ungewöhnliche Verbundenheit zwischen den Institutionen: „Das Theater Bremen profitiert auch vom Solidarpakt, weil das Übersee-Museum die Abschlussarbeiten seiner Dauerausstellung etwas nach hinten verschiebt und damit Geld für die Sanierung des Trink- und Löschwassersystems im Theater frei wird.“ Eine unbürokratische Umschichtung, die einiges an Koordination zwischen den Behörden voraussetzt.
Für die Schwankhalle bedeutet das eine erweiterte Projektunterstützung für mehrere der dort geplanten Produktionen – und eine Chance für neue Konzepte. Künstler für Residenzen zu gewinnen, ist in der ersten Spielzeit bereits gelungen, allerdings oft unter dem Vorbehalt, dass die Premiere dann doch in einem anderen Bundesland stattfindet, weil dort höhere Förderungen winken. Das ist verlorenes Renommee von Ur- oder Erstaufführungen fürs Haus.
Husemann setzt auf Kooperationen: Sie stieß eine Zusammenarbeit mit der Hochschule der Künste und dem Klangpol-Netzwerk für Neue Musik an. Interdisziplinarität ist eine der ganz großen Chancen, die sie für das Haus sieht. Mit der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) spielt die Schwankhalle Pingpong: Künstler, die an der Grenze zwischen darstellender und bildender Kunst arbeiten, werden in einen Austausch gebracht – beispielsweise ist das Künstlerduo Hendrik Quast und Maika Knoblich mit „Trauer tragen“ im White Cube der GAK zu Gast. Das Publikum, das hier normalerweise Installationen, Foto- oder Klangkunst besucht, erlebt so ein performatives Event, das sich mit dem Trauerprozess auseinandersetzt.
Eine weitere Herausforderung ist der Zugang des Bremer Publikums zu im weitesten Sinne postdramatischen Theaterformen: „Performance ist hier in weiten Kreisen ein verschriener Begriff“, so Husemann. „Wir haben mit Theatermachern, auf die wir große Stücke halten, immer wieder Diskussionen darüber, ob ein Handeln auf der Bühne, das nicht darstellendes Spiel ist, denn überhaupt Handwerk ist. Wenn das bei den Künstlern selbst schon Thema ist, kann man sich vorstellen, was hier im Hinblick auf die Sehgewohnheiten oder Erwartungen des Publikums zu leisten ist.“
Das zieht sich bis in die Kommunikationsarbeit: „Uns wurde zurückgemeldet, dass man sich die Theatersituation aufgrund unserer Vorankündigungen nur schwer vorstellen könne. Zudem haben wir in Publikumsgesprächen bemerkt, dass oft nur die vordergründige Handlung einer Inszenierung, aber nicht deren Rahmung wahrgenommen wird.“ In dem Moment, wo die Form im Vordergrund des theatralen Verständnisses stehe, das Theatererlebnis eher atmosphärisch oder abstrakt ausfiele, sei die Irritation groß. „Aber politische oder soziale Themen werden hier sehr gut angenommen, dann gehen auch sperrige Formate oder nicht-repräsentative Bühnenhaltungen anstandslos durch.“
Hetscher vom Weser Kurier macht dem Schwankhallen-Team den Vorwurf, Aufführungen zu zeigen, die so verkopft seien, dass der Zuschauer ratlos zurückbliebe. Husemann ist weiterhin gelassen: „Wir sind dabei herauszufinden, was wir hier zeigen können, und müssen gegebenenfalls auch vom Programm her justieren, falls es für gewisse Veranstaltungen keinen Resonanzraum gibt. Gleichzeitig sind wir immer erstaunt, wer sich dann wider Erwarten als Fan unserer Theaterformen entpuppt.“
Um mehr zu den Sehgewohnheiten herauszufinden, ist der Zuschauerbeirat entstanden. Auf die Ausschreibung meldeten sich 15 Personen ohne professionellen Theaterhintergrund – vom Biologiestudenten bis zum Sparkassenangestellten. Gemeinsam besuchen sie Aufführungen, diskutieren aber auch über die Printprodukte des Hauses. Husemann nimmt eine große Neugier wahr – auch ein Unterschied zur Theaterroutine von Großstädten wie Berlin. Tatsächlich wird das beim Publikumsgespräch nach dem „Neuropa-Roulette“ bestätigt, die Zuschauer diskutieren eine Stunde intensiv mit den Performern.
Es wird auch in der nächsten Spielzeit spannenden Diskussionsstoff geben. Gerade hat Husemann mehrere Aufträge an die lokale Szene vergeben, um ein Haus auf dem Gelände einer alten Bremer Klinik von 1848 künstlerisch zu bespielen, bevor hier ein neues Klinik-, Wohn- und Gewerbegebiet entsteht. In Kooperation mit der Jungen Akademie Berlin sollen hier junge Künstler und Nachwuchswissenschaftler aller Disziplinen vier Wochen vor Ort gemeinsam recherchieren. Mediziner, Anthropologen, Historiker und Künstler treffen dort im Sinne eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Kunst aufeinander. //