Theater der Zeit

Protagonisten

Happy Birthday, Henry Hübchen

Zu alt für jedes Spielzeug – aber noch immer zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen

von Hans-Dieter Schütt

Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)

Assoziationen: Akteure Henry Hübchen Volksbühne Berlin

„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1997, mit Kathrin Angerer. Foto David Baltzer/bildbuehne.de
„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann, Regie Frank Castorf, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1997, mit Kathrin Angerer.Foto: David Baltzer/bildbuehne.de

Es ist grausam. Es ist eine Menschenrechtsverletzung. Denn er sitzt in der ersten Reihe, wird gepackt, auf die Bühne geschleudert. Wird geschlagen, zerbogen: ein bös Misshandelter. Jetzt noch ein Unterleibstritt – als Denkmalsturz. Und dort drüben liegt, ihm aus dem Leib gerissen: ein Bein. Das ist Henry Hübchen, in „Baumeister Solness“, in der letzten Ibsen-Inszenierung von Frank Castorfs Volksbühne.

Er wird an diesem Abend von Mitspielern behandelt wie eine Lumpenpuppe. Er ist tatsächlich eine Lumpenpuppe, im Smoking. Es sitzen viele Puppen in der ersten Reihe, und alle sind: Hübchen. Alle im Smoking. Von der Bühne aus wird ­Kathrin Angerer eine dieser Puppen anjaulen: Mensch, Henry! Als klagte sie: Wo bist du? Warum hast du uns verlassen? Alter Arsch! Immer klagt man die schönste Zeit des Lebens an – weil sie es wagte, eines Tages vorbei zu sein.

Dieser Schauspieler war eine lange schönste Zeit Blick- und Begeisterungsfang an Berlins Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Nach seiner Theaterzeit dann wurde er ein Star des deutschen Volksfilms und des deutschen Volksfernsehens – etwa als Commissario Laurenti oder als spielsüchtiger Ex-Sportreporter Jackie in Dani Levys „Alles auf Zucker!“. Er wirkt in seiner Kunst wie ein knurriges Schlachtschiff, das andere leck schießt, jedoch in unglaublicher Würde selber auf Grund läuft – aber: Noch an seinem Wrack erleiden die anderen Schiffbruch. Längst ergraut ist er. Ein Mann im Alter der Melancholie. Mit müd geschmerzter, aber ironieheller Lebenserfahrung in den traurig witzblinkenden Augen. Und den Tango hat er auch nicht mehr allzu kräftig in den Beinen – dafür aber (arrogant-charmantes Grinsen!) umso mehr in den Gesichtszügen. So jedenfalls sagte er es auftrumpflustig in Andreas Dresens Film „Whisky mit Wodka“ – in der Rolle jenes Schauspielers, der im Team so trotzig wie vergeblich um seine wacklig gewordene Star-Position kämpft. Ein Glanzpart.

Hübchen ist kein Verwandler. Er behängt sich mit nichts. Das hat was Unerschütterbares und könnte seinen Gestalten ­etwas auftrumpfend Schwerköpfiges geben – wenn er sie nicht so frech irdisch auf leichten Fuß stellte. Mit amüsiertem Überdruss. Die Trauerränder des Lebens – bei ihm sind sie mit Comic-Ein­lagen, mit jungenhafter Ruppigkeit wunderschön schillernd ­eingefärbt.

Der naive Junge Henry war einst nur bekannt aus der zweiten Reihe von DDR-Volksbühnenaufführungen und „Polizeiruf 110“-Filmen. In Frank Beyers großem DEFA-Erfolg „Jakob der Lügner“, in dem er den Judenstern trägt, blitzte plötzlich Tieferes bei ihm auf. Vorher hatte er über längere Zeit viel Zeit; und statt Theater zu spielen, surfte er sich lieber zum zweifachen DDR-Meister im „Brettsegeln“, komponierte für die Gruppe City den Hit „Casablanca“. Volksbühnen-Regisseure wie Heiner Müller und Fritz Marquardt misstrauten Hübchen stets ein wenig, sie benutzten hauptsächlich nur die Folie des romantisch wirkenden Jünglings. Zuvor, am Theater in Magdeburg, in den frühen Sieb­zigern, hatte er Schiller und Kleist gespielt. Auch bedeutende Komponisten versetzen damals die Bühnen in kräftige Schwingungen, Friedrich Goldmann komponierte für Volker Brauns „Kipper Paul Bauch“ in Magdeburg die Musik (Regie: Hans-Dieter Meves, Dieter Roth), und dem gefährlichen Satz von der DDR als „langweiligstem Land der Erde“ gewann Hübchen jenen typisch liebenswerten Schnodder ab, der traf und doch nicht vernichtete.

Geboren wurde er 1947 in Berlin-Charlottenburg. Sohn ­eines Konstrukteurs und einer Buchhalterin. Ahnenforschung betrieb er und vermutet Wurzeln in der Gilde deutscher Tagelöhner. Das ist er dann selber geworden, bei seinem Quälmeister Frank Castorf. Wurde in dessen Clan ein Jahrelöhner, wurde geschmeidiger Tänzer auf dem Wegbeiß-Pflaster der Volksbühne. War der Leitwolf, der nicht Figuren spielte – er spielte mit ihnen. Spielt so noch immer, auch im Film. Als werde im nächsten Moment etwas geschehen, das doch nie geprobt wurde. Das ist Kunst, die gran­dios verinnerlicht hat, wie das Leben irr- und querläuft. Und die sich also verbietet, wie geschmiert zu laufen.

Alles ganz so, wie er vor einiger Zeit in Robert Thalheims Film „Kundschafter des Friedens“ zu sehen war, als Boss dreier abge­takelter, nun aber recycelter DDR-Spione, die im BND-Auftrag ­ex-sowjetische Seilschaften aufmischen. Wie Hübchens MfS-Barde Falk sein Bierflaschen-Einkaufsnetz hütet, wie er dann in neu ­gewecktem Arbeitseifer außer Rand und Bond gerät, wie er die Räume durchstürmt, freilich nur noch wie ein schüchtern ge­führtes Rasiermesser – das ist die Tragödie eines Ausgemusterten wie die Komödie eines Illusionisten. Der meint, noch einmal sei seine Zeit gekommen. Aus der er doch längst herausfiel. Wieder der ganze Hübchen: schnoddrig, mürrisch, eine liebenswert­ ­verkrachte Existenz.

Er ist als chaplinesker Philosoph ein gelernter Ostler, gemacht also aus verhunztem genetischem Material, so wie es die Castorfianer vor vielen Jahren in „Golden fließt der Stahl / Wolokolamsker Chaussee“ vom arbeitsscheuen DDR-Menschen sangen: „Ich lieg um zehn noch auf der Matte / Und ratz mir einen weg / Draußen kommt der Westler / Und recycelt meinen Dreck / Er macht ’ne Menge Kohle / Und denkt, er ist hier King / Und wenn er abends umfällt / Hört er, wie ich sing// Er hört nicht auf zu schuften / Was für ein armes Schwein / Versuch’s doch mal mit Hungerstreik / Auch du kannst Ostler sein … “ Das war sie, die Lebens- und Arbeitsphilosophie an der Volksbühne, dem Berliner Sofa Oblomows.

Als Ostler rutscht man gefälligst auf Berliner Kartoffelsalat aus, nicht auf Bananen („Pension Schöller / Die Schlacht“). In dieser Rolle des Provinzlers Philipp Klapproth spielte sich Hübchen 1994 auf einen Höhepunkt jüngerer Theatergeschichte. Ärmstes aller deutschen Würstchen und doch auch Schmerzensmann; ein heiliger Märtyrer des Kleinbürgertums. Wenn er als Fabrikant Dreißiger in den „Webern“ oder als Professor in den „Dämonen“ ins plusternde, rotzige Philosophieren kam, dann schwang stets eine erzürnte Menschlichkeit mit, eine erniedrigte Sehnsucht. Der Parteichef in Sartres „Schmutzigen Händen“: Komm, wir spielen Revolution und Kompromiss. Komm, wir spielen Masse und Mensch. Komm, wir spielen Partei und Du-und-Ich. Komm, wir spielen Treue und Verrat. Komm, wir spielen Balkankrieg. Na los, schieß doch mal auf mich. Castorf erzählt eine traurige Geschichte, aber er erzählt sie so, wie Kinder früher gern mit Zündplättchencolts loszogen: Romantisch, und wer getroffen war, musste wirklich umfallen und spielte nicht mehr mit. Vorerst.

Hübchen verkörperte – von Schiller bis Dostojewski – am konturensichersten jenen Charme der Castorf-Riege. Der ja auf einer verhedderungsfreudigen Feier des Chaos beruhte. Der Volksbühnen-­Chef bewunderte an Hübchen dessen Schnelligkeit, die keine Furcht hat, oberflächlich zu sein. Und die nur eine einzige Hoffnung hat: spielend bloß nicht dort anzukommen, wo eine Rolle, eine Haltung richtig, wohlgefällig, eingängig sein könnte. Castorfs erste Arbeit mit Hübchen fand zu DDR-Zeiten in der Prärie statt, genannt Anklam, „die treuesten Zuschauer waren Stasispitzel, die immerhin den Mut hatten, ihre Dummheit dem Theater auszusetzen“. Hübchen spielte den Ehemann in „Nora“, da offenbarte sich, sagte ­Castorf, „was auch mich prägt, dieser ewige Spießer, der gern anders sein möchte, der alle Liebenswürdigkeiten dieser Welt hat, aber auch alle totalitären Veranlagungen, um anderes Glück zu zerstören“.

Der Charme der Castorf-Akteure beruhte auf einem schrägen Fest des Augenblicks, auf einer verhedderungsfreudigen Feier des Vorläufigen. Hübchen – das war und ist eine fortwährende Fluchtbewegung: Nur weg aus den Gefahrenzonen der Virtuosität! Aber so grell und grob die Regelverletzungen mitunter wirken mögen – es gab in dieser Partnerschaft von Regisseur und Darsteller kein stolzes, höhnisches Aufdrängen der Effekte. Im muntersten Chaos herrschte ein schöner, lässiger Ernst auf der Bühne.

Auch schon lange her: Castorf brachte mit der „Stadt der Frauen“ seine Liebe zu Fellini auf die Bühne. Dessen Lieblingsort Rimini als Hauptort allen Lebens: eine Provinzgeisterstadt – wer von hier weggeht, hat gewonnen. Aber keiner geht weg – die Physik der trägen Ohnmacht setzt die besten Energien frei. Es siegt, wer so sympathisch scheitern kann. Hübchen, der wehmutswitzige Zonen-Mastroianni. Man sah ihn und wusste: zu alt für jedes Spielzeug – aber zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen. Das stimmt noch heute, da er fünfundsiebzig wird. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"