Theater der Zeit

Report

Fortschritt zwischen Vorgärten

Wie das Chawwerusch Theater in Herxheim in der Pfalz seit 40 Jahren Gesellschaft gestaltet

von Thaddäus Maria Jungmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Puppen- und Figurentheater (06/2024)

Assoziationen: Rheinland-Pfalz Chawwerusch Theater

„Masken, Muskeln und Moneten – Jahrmarkttheater über Geschichten und Geschichte aus Pfalz und Odenwald“ von 1985
„Masken, Muskeln und Moneten – Jahrmarkttheater über Geschichten und Geschichte aus Pfalz und Odenwald“ von 1985Foto: Chawwerusch Theater

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Herxheim bei Landau: In der Jungsteinzeit Schauplatz für Kannibalismus-Rituale, heutzutage unschuldig in Weinreben gebettet. Der Umgang miteinander scheint mittlerweile so lieblich wie der regionale Wein, trinkt man doch gemeinsam mit fremden Menschen bei Weinfesten als verschwisternden Akt aus einem Dubbeglas. In dieser idyllischen Vorstellung von Herzlichkeit – ähnlich abgründig wie in einem Heimatfilm –, bin ich als queere Person aufgewachsen, suchte permanent von strafenden Blicken umgeben nach einem Ort der Akzeptanz und fand ihn im Chawwerusch Theater. Nun wird dieses progressive Stückchen Heimat in einer Landschaft von spießigen Steinvorgärten 40 Jahre alt. Die Rückkehr in das Dorf versuche ich zu vermeiden, umso beruhigender, das Gespräch mit den beiden Mitgliedern Ben Hergl und Miriam Grimm als virtuelles Wiedersehen zu gestalten.

Das Jubiläumsjahr steht unter dem Motto „Es ist an der Zeit“; doch wofür? Der Blick mit Visionen für das Theater ist klar in die Zukunft gerichtet, aber klar ist: keine Zukunft ohne Vergangenheit. Aus einem waghalsigen Vorhaben eines Kollektivs wurde ein freier, professioneller Theaterbetrieb. Begonnen hat alles mit politischem Straßentheater zu einer Zeit, als Mitte der 80er Jahre die Grünen in den Bundestag einzogen und Friedensdemonstrationen gegen den sich anbahnenden Atomkrieg organisiert wurden. Die damaligen und bis heute noch aktiven Gründungsmitglieder Ben Hergl, Felix S. Felix, Monika Kleebauer und Walter Menzlaw zogen gemeinsam als Wanderschauspieler:innen und Gaukler:innengruppe mit Traktor und Zelt durch den Odenwald. Inspiriert von Grotowskis Armen Theater, mit wenig viel zu erzählen, wendeten sie sich von den elitären Staatstheatern ab und prägten mit der Erzählung von regionaler Geschichte den Stil für den sie auch heute noch als Chawwerusch bekannt sind, berichtet Hergl: „Wir haben damit den Nerv der Zeit getroffen, weil Leute das Bedürfnis hatten, ihre eigene Geschichte zurückgespiegelt zu bekommen.“

Der Name Chawwerusch leitet sich von dem hebräischen Wort chawwer/Kompliz:in ab und besitzt den gleichen Wortstamm wie die pfälzische Bezeichnung „Kafruse“, was eine Bande rotzfrecher Kinder bezeichnet: eine rotzfreche Theaterbande also, die sich damals an verschiedenen Orten für Aktionen trifft und dann wieder auseinandergeht. Doch Ende der 80er Jahre suchte die Bande nach einer festen Spielstätte und stieß auf Herxheims früheren Tanzsaal, der von Hergls Großmutter betrieben wurde. Das Theater ließ sich geografisch im Dorf dort nieder, wo sie heutzutage mehr denn je hingehören: ins Zentrum der Gesellschaft. Doch damals warnte Hergl, dass sie als linksorientierte Menschen in dieser „stinkkatholischen Gemeinde“ nicht mit Freuden empfangen würden. Ein paar Tage später schon stand die Polizei vorm Haus, weil Anwohner:innen meinten, das mutmaßliche Fluchtauto der RAF im Herrhausen-Attentat vor dem Theater parken gesehen zu haben. „Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass wir nicht mit politischen Parolen einziehen können“, erinnert sich Hergl: „Orientiert an Brecht machen wir kein politisches Theater, sondern politisch Theater.“

Tradition des kritischen Volkstheaters

Das große Misstrauen der Einwohner:innen sollte mit dem Lai:innenprojekt „Starker Duwak“ abgebaut werden. Inhaltlich beschäftigte sich das Stück mit der lokalen Geschichte des Nationalsozialismus. Bisher wurde im Dorf diese Aufarbeitung verdrängt, sodass die Dorfverwaltung erst drei Jahre nach dem Vorschlag die Durchführung gewährte, weil sie einen Konflikt mit noch lebenden Zeitzeug:innen fürchteten. Chawwerusch blieb vehement, sah die Dringlichkeit, darin einen Kulturbegriff fernab von Saumagen und Fasching zu prägen, der zuließ, Unbequemes endlich anzusprechen. Wie mit der Anregung und Gestaltung einer Gedenkkultur setzten sie immer wieder Impulse für die Mitgestaltung des Dorflebens. Um ihre Arbeit systematisch zu vertiefen, gründeten sie den Verein Spurensicherung und Volkstheater, um ähnlich den heutigen Methoden des living archives, durch Interviews und Archivarbeit eigene Stücke zu entwickeln. Mir persönlich stößt der Begriff „Volk“ gerade im dörflichen Zusammenhang etwas auf, doch Hergl erwidert direkt: „Wir verstehen uns in der Tradition des kritischen Volkstheaters. Wir beschäftigen uns thematisch mit der Entstehung der Demokratie.“ Gerade für diese Stoffe, welche sie auch an Orten wie dem Hambacher Schloss als einem der wichtigsten Symbole der Demokratiebewegung aufgeführt haben, avancierte Chawwerusch zu einem Aushängeschild der Kulturlandschaft Rheinland-Pfalz.

Wie soll allerdings ein Theater weitergeführt werden, das mit dem Verlust der Gründer:innen droht, das Gesicht zu verlieren? Mit dieser Schwierigkeit sieht sich Miriam Grimm, Mitglied der zweiten Generation, konfrontiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Stephan Wriecz bekamen sie zum 30. Jubiläum – also vor zehn Jahren – den Auftrag, mit dem Pilotprojekt „Expedition Chawwerusch“ eine Sparte für junges Publikum zu leiten. Der Generationenwechsel wurde also schon in weiter Voraussicht eingeführt. Um generell das Publikum zu verjüngen, suchten sie nach Themen, die andere Personen als das bisherige Stammpublikum ansprechen sollen, aber gleichzeitig dieses mit neuen Themen zu sensibilisieren: „Wir wollen in erster Linie niemanden umerziehen, was Theater auch gar nicht kann. Aber aus unserer Sicht ist es dringend notwendig, Stoffe für Menschen zu erzählen, die sich in der Welt nicht vertreten sehen“, so Grimm. Mit dem aktuellen Stück der Expedition „Livename“ hinterfragen sie das binäre Geschlechtersystem. Obwohl selten ausverkauft, bleibt das Stück – obwohl das Theater anders als große Häuser auf die Einnahmen angewiesen ist – dennoch im Spielplan, um weiterhin relevante Themen zu behandeln.

Um in Zukunft dem Publikum einen anderen Zugang zu ermöglichen, konnte mit Celina Hellmann erstmalig eine Theaterpädagogin eingestellt werden. Außerdem sollen mit ihr noch mehr Jugendgruppen gegründet werden, „weil es für die Jugendlichen eine großartige Erfahrung sein kann, in verschiedene Rollen zu schlüpfen“.

Auch für meine persönliche Entwicklung war das eine Chance, die aufgezwungene Rolle eines heterosexuellen Jungen endlich abzulegen, neue Rollen anzunehmen, aber privat endlich ich selbst sein zu können.

Doch mit zunehmenden finanziellen Kürzungen im Kulturbereich von Land und Kommune drohen auch Sparmaßnahmen für das Theater, die solche Möglichkeiten verhindern. Chawwerusch stürmt als Reaktion das Rathaus, erlebt wie schon während der Pandemie eine starke Solidarisierung der Bevölkerung, was wiederum zeigt, wie enorm wichtig das Theater in diesen dörflichen Strukturen ist, weil sie mit ihren Stücken einen Diskurs ermöglichen und vor allem einen sozialen Ort der Begegnung schaffen.

Für Hergl heißt es so langsam Abschied vom Theater zu nehmen, was sich schwierig erweist, wenn sich die eigene Wohnung im gleichen Gebäudekomplex befindet. Für Grimm gilt es, wie mit dem neuesten Kollektivmitgleid Danilo Fioriti, neue Wegbegleiter:innen zu finden, Bewährtes weiterzuführen und dabei neue künstlerische Wege zu finden. Dabei geht es ihr nicht ausschließlich um ästhetische Entscheidungen, sondern auch um die Frage von Arbeitsrechten für eine zukunftssichere Work-Life-Balance. Bei all dem Wandel ist sie sich aber sicher: Die Marke von Chawwerusch, aus trockener Geschichte Theater zu machen, wird bestehen bleiben.

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