Auftritt
Mainz: Spiel mit Unbekannten
Staatstheater Mainz: „Nullen und Einsen“ (UA) von Philipp Löhle. Regie Jan Philipp Gloger, Bühne Franziska Bornkamm, Kostüme Karin Jud
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Jan Philipp Gloger Staatstheater Mainz
„Nullen und Einsen“ ist eine Verwechslungstragödie: Philipp Löhle, diesjähriger Hausautor des Mainzer Staatstheaters, stellt dem grau melierten Alltag den Traum eines besseren Lebens gegenüber. Nach Art eines Episodenfilms wendet er sich mal hierhin, mal dorthin, besichtigt Paare und Passanten, Arbeitstiere, Gescheiterte und Sehnsüchtige. Alle lechzen danach, aus ihrem Leben auszusteigen wie aus einem Omnibus. Dabei gerät ihnen ihr gesamtes Dasein zu einem wabernden Vielleicht, aus dem sie sich mehr als nur eine Wirklichkeit konstruieren dürfen. Wie etwa der ergraute Chef (Marcus Mislin), der als Direktor firmiert, und sein Untergebener Bär (André Willmund), ein Türsteher mit Auftragskillerqualitäten, der für Ordnung sorgen soll und macht, was man ihm befiehlt. Oder das vom Leben geplagte Liebespaar (Lisa Mies und Tilman Rose), welches das Schicksal aneinanderpresst, wie auch Jonas (Mathias Spaan) und Beck (Stefan Graf), zwei Rettungssanitäter mit Sehnsucht im versehrten Blick, denen die Unfälle der anderen zur Sinnkrise gereichen.
Das geheime Zentrum des Stücks aber pulsiert in Moritz, den Felix Mühlen in schlaksiger Uncoolness als jemanden wiedergibt, der die Grenzen des Normalen nicht zu sprengen vermag, auch wenn er es noch so sehr versucht. Das Verrückteste, was solchen Menschen einfällt, ist, den rechten Socken über den linken Fuß zu streifen und zu hoffen, dass es endlich jemand merkt. Moritz hat es auf Klara abgesehen, die nichts von ihm wissen mag. Johanna Paliatsou spielt sie als kecke Arbeitsnomadin, die auf der Straße Tom begegnet und ihn wiedertreffen möchte. Tom aber kümmert sich lieber um seine querschnittsgelähmte Freundin Jule, die später in die Hände eines Professors fällt, der als Vagabund daherkommt. Lorenz Klee spielt ihn als verwahrlostes Bündel Mensch mit unsicherer Grazie. Einer der schönsten Momente des Abends gelingt ihm im Klammerblues mit Lisa Mies als Jule. Doch erst einmal führt er Moritz an der Nase herum, womit wir beinahe wieder am Anfang wären. Am Ende muss dieser Moritz seine Identität nämlich teilen, wobei Löhle es schafft, ein Spiel um Leben, Fiktion und Biografie aufzubauen, das an Paul Austers grandiose Versteckspiele mit der eigenen Identität erinnert.
Kein Zufall ist es wohl, dass einmal vom angeblichen Seelengewicht von 21 Gramm die Rede ist, was auf den gleichnamigen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu verweist. Dessen Erzählkunst, mehrere Handlungsstränge parallel ablaufen und ineinanderfließen zu lassen, macht sich Löhle in seinem Stück zu eigen. Nach allen Regeln der Mengenlehre überschneiden sich bei ihm die Leben seiner wie zufällig aufeinandertreffenden Existenzen. Was sich als reiner Stücktext noch verwirrend liest, entfaltet in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger den Zauber der Zeitgenossenschaft. Die Bühne erscheint bei ihm als ordnergraues Großraumbüro: neun Schreibtische, neun knittrige Lebensentwürfe, die abwechselnd im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.
Drei Akte lang begleiten wir diese Antihelden, die ihrer eigenen Sinnhaftigkeit hinterherhecheln wie Hunde ihrem abgenagten Knochen. Als zum Schluss dann ein leibhaftiger weißer Hund die Bühne betritt, wird das Gespensterdasein dieser traurigen Gestalten vollends offenbar.
Vor jeden Akt hat Löhle wissenschaftliche Ausführungen gestellt, die von der Berechenbarkeit unserer Existenz künden. In Mainz werden sie eingelesen und mit entsprechenden Illustrationen verdeutlicht, bevor sich der Vorhang hebt. Da erfahren die Zuschauer, was es mit der Fibonacci-Folge auf sich hat oder mit dem binären Zahlensystem. Regeln und Regelmäßigkeiten, an die sich auch der Analyst Moritz klammert. Regeln und Regelmäßigkeiten, die ihm freilich nicht beim Leben helfen, die das Chaos um ihn herum weder erklären noch lichten. Während eines Autounfalls verliert er seine Papiere und kann von da an noch nicht einmal mehr beweisen, dass er wirklich Moritz ist und nicht doch ein anderer. Seine ohnehin brüchige Identität manifestiert sich in den Doppelleben, die er seinen Mitspielern ermöglicht. Gloger inszeniert dieses ernste Spiel als launigen Reigen, der durch die große Frage „Was hilft?“ zusammengehalten wird. Der Unordnung der Dinge und des Lebens rückt der Abend dabei ebenso unaufdringlich wie zwingend zu Leibe. //