Magazin
Bilder gegen den Terror
Internationales Kinder- und Jugendtheater beim Festival Schöne Aussicht in Stuttgart zwischen Poesie und Politik
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Europa Baden-Württemberg Akteure
In einem Netz von Zündschnüren sind die zwei Akteure in Carly Wijs’ Tanztheater „Wir/ Die“ gefangen. Verzweifelt versucht die junge Frau, sich von einem Sprengkörper zu befreien. Ihr Sprung in die Freiheit gelingt, jedenfalls auf der Bühne. In der Produktion für das Brüsseler Kinderkunsthaus Bronks erzählt Regisseurin Wijs in anschaulichen Bildern, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene ihre Angst vor Gewalt und Krieg verarbeiten. Sensibel denken sich die Künstler mit leidenschaftlichem Körpertheater in die Psyche von Menschen in Extremsituationen hinein. Ausgangspunkt ist ein realer Akt des Terrors – die Geiselnahme von 1200 Kindern, ihren Eltern und Lehrern am 1. September 2004 im Kaukasus. Plötzlich war für die unbeschwerten Jungen und Mädchen nichts mehr so, wie es gewesen war.
Diesen Kampf um die nackte Existenz übertragen die Künstler in eine packende Choreografie. „Wir/Die“ ist eine der Produktionen, die beim biennalen Festival Schöne Aussicht des Jungen Ensembles Stuttgart (JES) zu sehen war. Für Regisseurin Wijs, die im Brüsseler Stadtteil Molenbeek lebt, ist der islamistische Terror mitten in Europa sehr nah. In ihrer Nachbarschaft sind Männer verhaftet worden, die an den Anschlägen in Paris beteiligt waren. „Wir wollen euch einen Weg zeigen, mit der alltäglichen Furcht umzugehen“, sagte die Schauspielerin Gytha Parmentier im Gespräch mit Stuttgarter Schülern.
„Die Krise in Europa mit Flüchtlingsströmen, Gewalt und Armut prägt das Kinderund Jugendtheater stärker als vor Jahren“, sagt JES-Intendantin Brigitte Dethier. Das beobachtet die temperamentvolle Festivalleiterin bei ihren Reisen. Bei der Auswahl legten sie und der Dramaturg Christian Schönfelder nicht nur Wert auf ästhetische Vielfalt: „Der Terror rückt näher, da müssen wir uns positio- nieren.“ Der Querschnitt, der bei der zehnten Auflage des Festivals zu sehen war, zeigt, dass junge Bühnen die verstörten Kinder und Jugendlichen nicht alleinlassen.
Engagiert, leidenschaftlich, manchmal auch wütend diskutierten deutsche und internationale Künstler über die Zukunft des Theaters für junge Menschen. Auf den bunten Sitzkissen im Lichthof des JES kamen die Gäste aus Baden-Württemberg und der Welt ins Gespräch. Mit hervorragend moderierten Talkrunden stieß das Team einen inspirierenden Austausch an. Dieser streitbare Dialog freute Yvette Hardie, die Präsidentin des Kinderund Jugendtheater-Weltverbands ASSITEJ. Die Südafrikanerin war nach Stuttgart gekommen, um Perspektiven einer politischen Kunst auszuloten. Theater helfe Kindern und jungen Menschen, eine Haltung zu gesellschaftlichen Problemen der Zeit einzunehmen. Diesen „Transformationsprozess“ habe sie als Sechsjährige selbst erlebt. „Aber nicht in allen Ländern gibt es junge Bühnen.“ Daher ist es das Ziel ihrer Verbandsarbeit, möglichst vielen Jungen und Mädchen in aller Welt den Zugang zu performativen Projekten zu ermöglichen.
Neuland betrat etwa Agon Myftari, künstlerischer Leiter des Kosovo-Nationaltheaters in Prishtina. Ihn faszinierte beim Festival „die Vielfalt der Formen“ im jungen Theater. Der innovative Regisseur will in seinem Land, das nach wie vor um politsche und ökonomische Stabilität ringt, Kinder- und Jugendtheaterstrukturen etablieren. Dabei unterstützt ihn sein deutscher Kollege Stefan Schletter, der bis Juli die junge Sparte BOXX in Heilbronn leitete. „Der Austausch befruchtet uns gegenseitig“, findet der Theatermacher, der ein multikulturelles Publikum im Blick hat. Deshalb hat er den kosovo-albanischen Theaterautor Jeton Neziraj engagiert, das Auftragswerk „Windmühlen“ zu schreiben, das im Januar 2017 Premiere hat. Da geht es um ein deutsches Mädchen, das mit seiner Familie in den Kosovo zieht.
Theaterchef Myftari knüpfte am Rande des Festivals weiter an seinem internationalen Netz. Im politischen Diskurs beim gemeinsamen Essen auf den rustikalen Bierbänken im JES-Foyer mit Lasagne und grünem Salat mischte er rege mit. In seinem Land müsse er noch viel Aufbauarbeit leisten, sagte er mit Blick auf fehlende Gelder. Was nimmt der experimentierfreudige Regisseur vom Austausch mit? „Ich will schon kleine Zuschauer mit einer auf sie zugeschnittenen Theatersprache abholen, sie begeistern“, antwortete der Vater zweier Kinder.
Wie das auch ohne Worte gelingen kann, zeigten die jungen Schauspieler des Magnet Theatre in Kapstadt mit „Tree/Boom/ Umthi“. Da geht es um einen Mann, der einen Baum pflanzt, weil er einen Pfirsich essen will. Mit schönen, poetischen Bildern ziehen die Schauspieler Kinder ab drei Jahren in ihren Bann. Am Ende stehen die Knirpse selbst auf der Bühne. Sie tanzen und lachen mit den Akteuren, die eine andere Sprache sprechen. Mit Künstlern, die sie selbst ausgebildet hat, zeigt die Südafrikanerin Jennie Reznek anspruchsvolles Körpertheater. Viele von ihnen kommen aus armen Verhältnissen, sind sozial abgehängt. In den Townships haben die meisten Schwarzafrikaner kaum Chancen. Da bietet ihnen das Theater mit seinen Bildungsprogrammen eine Perspektive. In den Produktionen für Ältere geht es auch um die Lage in Südafrika. „Unsere Theaterarbeit ist poli- tisch“, sagt Reznek, die Menschen mit ihrer Kunst zum Umdenken bewegen will. „Es muss sich in die Gesellschaft einmischen, Veränderungen in Gang bringen.“
Vom Gespräch mit den jungen Künstlern aus Südafrika profitierten die badenwürttembergischen Theatermacher, die im Rahmen des Festivals ihre Preise vergaben. Ausgewählte Produktionen ihrer lebendigen Szene waren zu sehen. „Wir haben den Bogen bewusst weit gespannt“, sagt Kuratorin Brigitte Dethier. Sie ist fasziniert, „wie sich die junge Szene an Grenzen heranwagt“. Wie weit dieser Mut reicht, zeigt das Ensemble der belgischen Bühne Kopergieterey in Gent mit „Fußball in Stilettos“. In der atemberaubenden Show mit Tanz und Musik rennen die Schauspieler Randi De Vlieghe und Jef Van gestel gegen Vorurteile an. Die Männer tragen Frauenkleider und jonglieren mit Geschlechterklischees. Sie berühren ein Thema, das in vielen Familien tabu ist – das Recht auf eine selbstbestimmte sexuelle Identität. Schrill und schräg ist die Performance, doch das Thema birgt den Stoff einer politischen Kontroverse.
Auf eine klassische Dramaturgie setzte dagegen der norwegische Regisseur Kjell Moberg mit seiner Uraufführung „The Emigrants“. In dieser Koproduktion mit dem international vernetzten NIE-Theater aus Oslo erzählt das JES betörend schön und mit ausdrucksstarker Sprache die Geschichte von Deutschen, die im 19. Jahrhundert das Land verlassen mussten. Acht Millionen flohen vor Hunger und Not übers Meer. Moberg zeigt die Geschichte in Einzelschicksalen. Poesie und Musik kommen gut zum Tragen. Unprätentiös wecken die Schauspieler Sensibilität für die Flüchtlinge, die heute nach Deutschland kommen. In internationalen Kooperationen wie dieser, auch jenseits des Festivalbetriebs, sieht Brigitte Dethier die Zukunft der Kinder- und Jugendbühnen. „Gerade jetzt müssen wir gemeinsam auf das reagieren, was in der Welt passiert, näher zusammenrücken.“ Das weltweite Netz biete da eine einmalige Chance, fremde Kulturen einander näherzubringen. //