Retzhofer Dramapreis 2023
Laudatio von Jurymitglied Brigitte Korn-Wimmer für Marisa Wendt (Auszug)
Assoziationen: Dossier: Retzhofer Dramapreis Marisa Wendt
„Ich heiße Emily. Ich bin neu hier. Mein größtes Hobby ist: bauen. […] Außerdem habe ich keine Gefühle.“
So stellt sich die Protagonistin Emily in ihrer neuen Schule im Klassenzimmer vor. Gefühlsblindheit, Alexithymie oder Gefühlskälte gibt es wirklich. Aber die Autorin benutzt dieses Konzept der psychosomatischen Krankheitslehre nur als Folie, auf der sie Emilys Geschichte erzählt. Wie Emilys Innenleben zu etwas Kommunizierbaren wird, das führt uns die Autorin meisterhaft vor, indem sie sich auf die Suche nach Worten, dem Ausdruck ihres Zustandes begibt. Das ist immer nur eine Annäherung, ein Umkreisen. Je genauer sich Emily dem annähert, was ich ihre Erfahrung nennen würde, desto fremder wird es einem zwischendurch. Durch eine gefühlsblinde Figur erfahren wir viel Nachempfindbares, weil diese sozusagen ihr Leben selbst sprechen lässt.
Es wird uns eine Vorstellung davon vermittelt, dass Menschen unterschiedliche Realitäten leben, und es stellt sich die Frage: Wie gehen wir damit um, wenn sich unsere Lebenswirklichkeiten und Wahrnehmungen nicht überschneiden, wenn wir nicht von uns auf den/die andere:n schließen können und annehmen müssen, dass wir nicht verstehen und keine Antwort erhalten?
Erschienen am 29.9.2023