Auftritt
Köln: Abschiedsgesänge
Schauspiel Köln: „Die Troerinnen“ nach Euripides. Regie Karin Beier; „Oh it’s like home“ (UA) von Sasha Rau. Regie Christoph Marthaler
von Sebastian Kirsch und Hanna Höfer-Lück
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Schauspiel Köln
Karin Beier verlässt das Kölner Schauspiel mit einer großartigen Inszenierung von Euripides’ „Troerinnen“. Der Spielfassung liegt die Bearbeitung Jean-Paul Sartres zugrunde, die um Ausschnitte weiterer Texte, wie Georges Batailles 1967 erschienenem „Le Mort“ („Der Tote“) und Samuel Becketts „Texte um Nichts“ (1947 – 1952), erweitert wurde. Was häufig genug schiefgeht, gelingt hier grandios: Euripides wird nicht mit aktuell scheinenden Texten modernisiert, denn das braucht es gar nicht. Die Themen des antiken Dramas sind Themen der Gegenwart, darauf verweisen bereits die von Karin Beier und Dramaturgin Ursula Rühle im Programmheft zusammengestellten Texte, u. a. von Giorgio Agamben, Hannah Arendt und Hans-Thies Lehmann. So handelt es sich bei dieser Inszenierung nicht um eine Reise zurück in andere, vergangene Zeiten, sondern um eine zu uns: „Die Troerinnen“ ist ein politisches Stück über die Eroberung von Wegerechten und Land, die Inbesitznahme von Gütern und Arbeitskraft, und auch über die Frage, welche Bedeutung Religion und Götter haben. „Denn als Euripides ‚Die Troerinnen‘ schreibt“, so Sartre, „ist der Glaube zu einem mehr oder weniger verdächtigen Mythos geworden.“
Euripides erzählt die Geschichte der Frauen Trojas, die nach dem verlorenen Krieg gegen die Griechen darauf warten, was mit ihnen – Kriegsbeute, Überlebende und Übriggebliebene – geschehen wird. Sie werden zu Sklaven, zu Objekten, über die bestimmt werden kann. Im besonderen Fokus stehen die Schicksale der Frauen, die Teil der Herrscherfamilie waren. Hekuba, gespielt von Julia Wieninger, ist Mutter von Hektor und Paris, Frau des Priamos und gestürzte Königin. Ihre Tochter Kassandra (Rosalba Torres Guerrero) sieht den Untergang Agamemnons schon jetzt voraus. Andromache (Lina Beckmann), Ehefrau Hektors und Schwiegertochter Hekubas, wird ihren Sohn Astyanax opfern müssen. Und das alles, weil Helena (Angelika Richter) ihren Mann Menelaos (Yorck Dippe) zugunsten von Paris verlassen hat?
Beier und ihr Bühnenbildner Thomas Dreissigacker nutzen den Raum 1 in der EXPO XXI sehr geschickt. Die Zuschauer sitzen dem Bühnenbereich gegenüber. Hinter dem Bühnenraum ist eine Hallenwand mit einem großen Rolltor zu sehen, durch das die Schauspieler auf- und abtreten. Der dahinterliegende Raum – er erinnert an die Skene, das Bühnenhaus des antiken Theaters – ist nicht einsehbar, Licht und Nebel lassen es nicht zu. Der Bühnenbereich wird wie bei einer Open-Air-Bühne durch unverkleidete Alutraversen gebildet. So entsteht eine Offenheit des von allen Seiten einsehbaren Raums, auch wenn das Prinzip des Guckkastens vorherrscht. Der Bühnenboden ist mit Erde aufgeschüttet. Gleich zu Beginn der Inszenierung wird deutlich, wie wichtig Klang und Musik sind. Ein Gewitter ist zu hören, es grollt. Poseidon (Robert Dölle) steht im bewegten Meer aus drei blauen Tuchbahnen. Ein Raunen liegt in der Luft, Vögel kreischen. Sie werden am Ende des Stücks, wie Poseidon auch, wiederkehren. Im Hintergrund haben sich Musikerinnen aufgebaut, die mit Schlaginstrumenten und einem Cello den Rhythmus der Inszenierung, des gesprochenen Texts und der Bewegungen nicht nur begleiten, sondern ihn mitbestimmen.
Eine Gruppe Troerinnen (u. a. Rosemary Hardy, Sachiko Hara, Anja Laïs), die für eine Weile übergroße weiße Masken vor ihren Gesichtern tragen, tritt auf. Immer wieder werden sie sich einzeln oder zu mehreren auf die Stühle setzen, die am rechten Bühnenrand eine Reihe bilden. Im linken Bühnenbereich steht ein Tisch, an dem Talthybios (Nikolaus Benda) sitzt. Er weist die Frauen über ein Megafon an, Säcke von einer hinteren Ecke nach vorne zu bringen. Erst danach teilt er ihnen mit, dass sie inzwischen verlost wurden, „eine jede erhält ihren Herrn“.
Im Vordergrund der Inszenierung stehen Text, Rhythmus und Bewegung. Die Regisseurin lässt ihr Ensemble tanzen, die Choreografie der Klagegesänge ist beeindruckend. Zu den intensivsten Momenten der Inszenierung gehört der, als sich hinter den Zuschauern leise der Klagechor (After Work, Koreanischer Frauenchor Köln, Stimmfusion) aufbaut und zu singen beginnt. Die Frauen auf der Bühne und der ihnen gegenüber positionierte Chor ergänzen sich, antworten einander und wechseln sich ab. Es entsteht ein dichtes Klangnetz, das die Zuschauer zu Zuhörern werden lässt, sie nicht nur räumlich umgibt, sondern sie Teil der Klagenden werden lässt.
Völlig anders geartet, wenn auch ähnlich musikalisch, nimmt sich Christoph Marthalers Uraufführung des Stückes „Oh it’s like home“ von (und mit) der Schauspielerin Sasha Rau aus: Marthalers erste Arbeit in Köln ist ein leises Kammerkonzert im Zeitlupentempo, wobei die Kammer in diesem Fall ein aufgeschnittenes Wohnhaus ist. Zwar stammt der Raum diesmal nicht von Anna Viebrock, sondern von Duri Bischoff, doch mit seiner ausgesucht hässlichen Durchreiche, seiner schiebbaren 70er-Jahre-Schrankwand und seinem braunen Fliesenboden fügt er sich in die Reihe der tristen Wartesäle ein, die für die Bühnensprache des Schweizer Regisseurs so kennzeichnend sind.
Fünf Gestalten bevölkern das Haus, das weniger ein „home“ als vielmehr „like home“ ist: Neben Rau, die auf langen Beinen und in hohen Schuhen umherstakst, versammeln sich Bettina Stucky, Silvia Fenz sowie Josef Ostendorf, dessen füllige Statur von einem karierten Pullunder überspannt wird und auf dessen Nase eine große Hornbrille (nicht) sitzt. Dazu gesellt sich ein Pianist (Bendix Dethleffsen), der im Hinterzimmer zwischen Chopin, Schubert und Weihnachtslied wechselt und ab und an nach vorne kommt, um die mit schöner Routine durchbrennende Glühbirne der Deckenlampe auszutauschen.
Raus Text bleibt auf der diskursiven Ebene beziehungslos, verliert sich in Andeutungen und Erinnerungsfetzen, die niemand zu teilen vermag, Bruchstücke von Monologen. Ein umso dichterer (chorischer) Zusammenhang ergibt sich allerdings, wie so oft bei Marthaler, in winzigen Gesten und sinnlosen, aber akribisch ausgeführten Kleinstritualen. Meist verströmen sie gerade in ihrer Tristesse eine große, berührende Zärtlichkeit: Der Pianist deckt den sorgsam ausgeklappten Esstisch mit acht Tellern und bestückt sie mit Kuchen, um sie dann reihum mit Sprühsahne zu verzieren. Die Frauen versuchen, Ostendorf eine Wollweste anzulegen, und verheddern sich selbst hoffnungslos darin. Manchmal trägt jemand ein kleines Modell des Hauses auf die Bühne, aus dessen Schornstein man Rauch aufsteigen lassen kann. Nach und nach schärft sich an diesem Abend die Aufmerksamkeit für Partikel und Fragmente, die unterhalb der Ebene spielen, auf der wir normalerweise Bedeutungen auszutauschen glauben, und die doch in Wahrheit die Ordnungen zusammenhalten, in denen wir uns bewegen. Dabei kann man Raus Text sicher als manieriert kritisieren – doch Marthalers leise Inszenierung hält glücklicherweise genügend Momente bereit, die darüber hinwegsehen lassen. Auch in diesem Fall zeigt sich die besondere Kraft chorischer Theatersprachen, die Karin Beiers Intendanz insgesamt sehr stark prägten. Es bleibt daher zu hoffen, dass das Kölner Schauspiel dieser ästhetischen Entscheidung auch nach ihrem Weggang treu bleiben wird. //