Theater der Zeit

IV Jelinek / Abfall von der Rolle Frau und von allem

Die Rolle verwerfen

von Ulrike Haß

Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)

Assoziationen: Theatergeschichte

Modernes Hospital um 1800
Modernes Hospital um 1800Achille Galant, Modell für einen Bettensaal in Form eines Panoptikums, 1792Foto: Privatsammlung

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Mit Jelinek geht es um das Verwerfen der Rolle Frau, mit dem die relativ junge Epoche der Rollen überhaupt zu Ende geht. Jelineks Schreiben öffnet sich für Räume ohne Vordergrund, in denen jedwedes einzelne und lokal beschränkte Ereignis mit einer Vielzahl von technischen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Implikationen und deren Wechselwirkungen in Beziehung tritt. An die Stelle von Rollen treten wandernde Figurenamen, die als Verkehrsknotenpunkte von Außenbezügen fungieren (Moderne Frauen). Jelinek radikalisiert das Chor-Werden der Einzelfigur in extremis (Sportstück). Ihre Dichtung entfaltet sich als ein schier endloses chorisch-monologisches Sprechen. Es schmiegt sich einer Wirklichkeit an, um diese bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein zu demaskieren und der Lüge zu überführen. Das Sprechen der Wahrheit (parrhesia) ist stets ein riskantes Spiel nach beiden Seiten hin, der Sprecherin und der Wahrheit. Jelinek vollzieht dieses Spiel inmitten des öffentlichen Lügengeschreis, im Schreiben gegen die verheerende Zwei der Geschlechter und allen daraus folgenden Dichotomien (SCHNEE WEISS).

In seiner Rede über Elfriede Jelinek zum Büchner-Preis 1998 erinnert Ivan Nagel an ein Vorkommnis bei den Salzburger Festspielen im Sommer 1998.313 Als Leiter der Festspiele hatte er Jelinek eingeladen, als „Dichterin zu Gast“ das Literaturprogramm der Salzburger Festspiele zu bestimmen, den Gesamtentwurf wie jeden einzelnen Text. Zudem stand die Erstaufführung ihres Theatertextes er nichts als er (zu, mit Robert Walser) auf dem Programm. An der Fassade des Festspielhauses hingen vier Meter hohe Bildnisse der Verfasser aller aufzuführenden Opern und Theaterstücke, darunter Portraits von Verdi, Mozart, Büchner und Jelinek. Mit einem Leserbrief in den Salzburger Nachrichten eröffnete der Salzburger Erzbischof Dr. Andreas Laun das Feuer: Er meide das Festspielhaus, denn dort würde ihn „das überlebensgroße Bild von Frau Jelinek an ihre Klosetts auf der Bühne des Burgtheaters erinnern und daran, wie unflätig sie sich über Christen äußert und wie sie über Salzburg schimpft (statt abreist!).“ Die Debatte tobte zehn Tage lang, eines Sonntagmorgens war das Jelinek-Portrait abgerissen. Die Festspielleitung beschloss, dass es der Sturm gewesen sei („der sonst nirgends in der Stadt Schaden angerichtet hatte“, fügt Nagel in Klammern hinzu). Bühnenarbeiter wurden angewiesen, die Restfetzen und damit die Spuren, die eine Anzeige ermöglicht hätten, zu beseitigen. Wenn es also der Sturm war, der unter 13 Bildern, die an derselben Fassade hingen, nur das Bild der Jelinek abriss, dann – so folgert Nagel – war in jener Nacht in Salzburg offenbar ein Wunder geschehen. Die höchste Stelle hatte sich eingeschaltet und mit ihrer Einmischung offenbart, „welche universale Breite von Verdammung Elfriede Jelinek hatte und verdiente: von der Boulevard-Schlammpresse bis zum Himmel“314. Weshalb solcher Hass kirchlicher Potentate, fragt Nagel. Weshalb solche Shitstorms, die bislang noch jedes öffentliche Ereignis im Leben Jelineks begleiteten, ob es sich nun um Premieren, Preisverleihungen oder runde Geburtstage handelte? Weshalb solche Wut, dass sie als Kunst- und Kulturschänderin angeprangert und manchenorts zum Ziel wöchentlicher Hetztiraden der größten Billigblätter wird? Dazu unzählige Drohbriefe, die so lange schon und immer noch in ihrem Postfach landen, woher dieser Hass? In seiner Rede lobt Ivan Nagel Jelineks Werk als ein „Werk des Befremdens“, das mit dem Befremdlichsten umgehe: „Es gibt Mann und Frau; den Menschen gibt es nicht.“315

Die Rolle als das letzte Hemd

Nagel weist auf den Zusammenhang von Menschenbild und Zweigeschlechtlichkeit hin. Dieser Hinweis soll in seiner Reichweite skizziert werden, denn er erlaubt, einen Bogen zurück zu jenen Überlegungen zu spannen, die hier eingangs mit Aischylos und Sophokles formuliert wurden. Mit der Verwerfung der Rolle Frau bewegen wir uns am stärksten auf jenen Gattungs-trouble zu, der in den Stadtgesellschaften der griechischen Antike zugunsten eines inklusiven Gattungsbegriffs entschieden wurde. Die Geschlechterdifferenz erfuhr in der Doppelgliederung von pólis und oikos eine nachhaltige Institutionalisierung, während die kaum einzuordnenden, heterogenen und vielgeschlechtlichen Chorkörper allmählich einer Verdrängung anheimfielen und wiederum vordringen, wenn die verheerende Zwei der Geschlechter aufgekündigt wird. In Jelineks „Werk des Befremdens“ scheinen diese Zusammenhänge sukzessive auf.

Neuzeitlich gesehen, ist der Zusammenhang von Menschenbild und Zweigeschlechtlichkeit mit der Lüge vom Menschen im Singular verknüpft, die sich in Europa namentlich in der Renaissance festigte. Das „Ein-Geschlecht-Modell“316, das noch bis in das 16. Jahrhundert hinein von der Zugehörigkeit aller zu einem geschaffenen Geschlecht ausging, unterliegt einem neuartigen, binären Modell der Geschlechter, das trennt in Mann oder Frau. Ebenso unterliegt der weltoffene, unabgeschlossene Körper, wie ihn noch Paracelsus dachte, dem neuen Begriff eines entlang seiner sichtbaren Konturen begrenzten und eingeschlossenen Körpers. Vor diesem Hintergrund können sich Humanisten und Aufklärer im 18. Jahrhundert auf eine gefestigte Dichotomie der Geschlechterrollen in der gesellschaftlichen Praxis stützen und arbeiten an der Innenausstattung einer Epoche der Rollen, die sich der Menschenbildnerei verschreibt. Im Namen des Menschen verfährt die zweipolige Alternative einer männlichen oder weiblichen Rollenzuweisung und Rollenannahme selbst alternativlos. Die Ahndungen von Regelverstößen, die das Schema unter- oder überbieten, erfolgen gnadenlos. Sie tun es deswegen, weil die Rolle das letzte Hemd ist, das für die binäre Ordnung der Geschlechter in strenger Entgegensetzung, Hierarchie und Arbeitsteilung zur Verfügung steht.317 Wie jedes letzte Hemd lässt es sich daher entsprechend leicht abstreifen. Leicht heißt hier jedoch nicht einfach.

Da es den Menschen nur solange gibt, wie die Rollenzuschreibungen funktionieren und in tagtäglichen Routinen praktisch hingenommen und ausgefüllt werden, ist das Ende des Menschen absehbar. Angesichts dieser Verknüpfung setzt Ivan Nagel seine Überlegungen zu der verlogenen und seit Ibsens Nora schon unzählige Male quittierten Rede von dem Menschen mit folgenden Anmerkungen fort: „Das Ende des Menschen ist nicht der Triumph der Frau – sondern ihr Sturz ins Ungewisse. Jelineks Romane, Theaterstücke führen es beweiskräftig vor: Wird die Rolle der Frau abgeworfen, verworfen, dann ist die Frau erst einmal nichts. Kein erwachtes Wesen, keine neue Wahrheit, nur eine ausgelöschte, vakuumgewordene Rolle.“318

Die ausgelöschte Rolle ist unfähig, Ich zu sagen. Anders als Autorinnen, die ein weibliches Ich zu installieren suchten und dafür weibliche Blicke, Perspektiven und Ästhetiken zu erfinden trachteten, geht Jelinek davon aus, dass die Instanz der Autorschaft nichts mehr autorisiert. „Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg.“319 Die ausgelöschte Rolle ist kein Ich, keine Autorin, kein Mantel, kein Weg. Sie ist weggeworfen und weil sie das letzte Hemd war, ist da jetzt einfach nichts, kein Mensch. Nur solange sie ihre Rolle ausfüllte, uns sei es wie im Fall des Textes Über Tiere eine pornografische, ließe sich von ihr „als Mensch“ sprechen: „Aber sie ist als Mensch in Ordnung. Als Mensch. Sie ist offen denkend. Ist sie offen denkend? Sie ist offen. Sie denkt. Sie ist offen denkend. Ja. Sie ist offen denkend genug für Golden Shower“.320 Wird die Rolle Frau weggeworfen, mag sich aus dem Rest noch eine „Herrin“321 ableiten, doch auch als solche besteht sie nur aus Beschädigungen, Zurichtungen und Zumutungen. Erst vom Punkt der durchgestrichenen Rolle aus wird die Rolle in ihrem verheerenden Umfang wahrnehmbar. Denn die ausgelöschte Rolle wirkt als ein Vakuum, das von Wirkungen zu Wirkungen führt. Jelinek geht ihnen nach und führt sie vor, als Schreibende und in ihrem Werk.

Kl. Geschichte des Rollenbegriffs

Was heißt es, die Rolle Frau wegzuwerfen? Um den Komplex anzudeuten, der durch eine konsequente Verwerfung der Rolle Frau tangiert wird, sei hier kurz von der Historie des Rollenbegriffs die Rede, der in der Neuzeit und Moderne zwischen Personenkonzepten, Theater und Gesellschaft eine seltsame Karriere durchläuft und schließlich in die Epoche der Rollen mündet. Rolle, lat. persona, engl. part, person, role, frz. personnage, rôle: Es ist bemerkenswert, dass der Begriff der Rolle zunächst in Kanzleien auftritt, wo er im 15. Jahrhundert Urkunden, Verzeichnisse, Schriftrollen jeglicher Art bezeichnet. Etwa zweihundert Jahre später zieht der Begriff in das Theater ein und bezeichnet im Wortbarock die Papierrollen mit den Texten für die Darsteller, die sie im Sprechen während der Aufführung entrollten. Erst im 19. Jahrhundert bezeichnet Rolle im übertragenen Sinn die Figur in einem Bühnenstück. Erst von da an übernehmen Schauspieler eine Rolle und spielen die damit gekennzeichnete, darzustellende Figur. Der Begriff Rolle verdrängte den älteren Begriff Persona, der zunächst die den ganzen Kopf bedeckende Maske des Schauspielers bezeichnet. In der Renaissance löst sich die Persona aus ihrer Verklammerung mit der antiken Theatermaske und wird zum Synonym für das moderne Individuum im Sinne einer Persönlichkeit, der individuelle Eigenschaften zugewiesen werden: als Person wurde sie juristisch fixiert und als rechtsfähiges Einzelwesen bestimmt. Im Theater hingegen wird die Persona auf vielfach gebrochenen Wegen und gleichsam widerstrebend allmählich vergessen, bis an ihrer Stelle schließlich die Rolle installiert wird. Sie gilt dem modernen Bewusstsein in solch selbstverständlicher Weise zur Theatermetapher sui generis, dass man meint, die Rolle gehöre zu den Essentials des Theaters seit jeher. Das Gegenteil ist der Fall. Die Rolle hat die antike Maske, die in der Persona nachlebte, auf dem Weg der Naturalisierung nur vollständig verdrängt.

Für die antike Maske ist zunächst ausschlaggebend, dass die antike Tragödie in allen Punkten, wie Aristoteles verdeutlicht, in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zur mythischen Überlieferung steht. Daher geht es im antiken Theater nicht um den Anschein einer Verlebendigung, sondern um die Vergegenwärtigung eines tragischen Konflikts, der mit überlieferten Namen verknüpft und durch diese bezeichnet wird. Ödipus, Philoktet, Medea usw. sind keine Rollen, sondern Chiffren tragischer Konstellationen. Die durch Melodik und Rhythmik in ihrer Wirkung gesteigerte Sprache dient nicht der wechselseitigen Aussprache, sondern ist wesentlich eine Veröffentlichung von Sprache im Beisein anderer und gleichzeitig unabhängig von ihnen. Schauspieler leihen sich die Sprache, mit der Dichter eine (mythologisch) vorausliegende Konstellation kunstvoll nachbilden. Sie leihen ihre Körper einer Maske, die gleich einer Spielmarke eine namentlich hervorgehobene, besondere Position im Spiel markiert. Bis in das mittelalterliche Theater hinein haben Theatertexte wesentlich die Funktion von konstellativen Texten. Sie sind Choreografien vergleichbar, die auf einen außerordentlichen Zustand abheben, in dem ein außergesetzliches Lachen oder eine Öffnung statthaben können: ein Offenwerden für etwas, das sich nicht sagen lässt. Dieses Offenwerden für etwas gilt bis hin zu den Visionen, die das Fegefeuer im mittelalterlichen Hinrichtungstheater oder das himmlische Paradies in den Osterspielen imaginieren.

Die neue komische Maske entsteht mit der Gleichsetzung von irdischer und sichtbar gegebener Welt, die in der Renaissance eine entschiedene Hingabe an das alltäglich Sichtbare bewirkt. Die Komödien von Ariost, Bibbiena, Machiavelli oder Aretino entdecken im Schema der zwei Geschlechter das Potenzial für das Spiel der Wechselrede, der ungleichzeitigen Blicke, Verkennungen und Täuschungen. Figuren, als Typen aufgefasst, werden einander auf diese Weise zum sozialen Umfeld und bilden ihre eigene Welt, die von der Komödie als reines Reflexionsgefüge erfasst wird. Soziale Typen scheinen vom Komödienmechanismus wie aufs Rad geflochten, das wie eine ganze Welt im Kleinen rotiert. Die neue Komödie arbeitet an der Innenausstattung der Welt, in deren Zentrum die Aufmerksamkeit für das Schema der Geschlechter steht. Dabei wird die Geschlechtlichkeit eines Typs nicht durch die Körperlichkeit des Schauspielers mimetisch hervorgebracht, sondern durch das austauschbare Kostüm bezeichnet. Das Kostüm wird als Form begriffen, innerhalb derer ein Schauspieler stereotyp oder improvisierend agiert. Ihre höchste artifizielle Verdichtung erreicht die komische Maske in der Commedia dell’arte, die sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts auf allen europäischen Bühnen durchsetzt. Die disparaten Herkünfte, die in der komischen Maske zusammenfließen, parodieren die soziale Welt als verkehrte Welt. In der Commedia dell’arte streift das Komische alles ihm äußerlich Soziale ab und wird autonom. Es gibt hier keine sozial differenzierende oder kennzeichnende Kleidung, sondern das Kostüm. Kein Spiegelbild von mir im anderen, sondern das Prinzip der Verkehrung. Kein Wechselspiel von Blicken, sondern den auf sich selbst gestellten autonomen Blick. Keine sozialen Figuren, sondern die Maske.

In polemischer Wendung gegen die Äußerlichkeit bloß kostümierter Deklamation arbeiten Theaterreformer ab Mitte des 18. Jahrhunderts an einem Modell der Rolle, das auf die Darstellung innerlich organisierter Individuen abzielt. Unter Maßgabe der Naturalisierung des Geschlechts werden Rollen geschlechterkonform besetzt: Schauspielerinnen und Schauspieler geben fiktive Figuren, die mit einem ‚natürlichen Geschlecht‘ ausgestattet sind. Sie sollen diese Figuren individuell, wahrhaftig und emotional in einer Weise mit Leben erfüllen, die für Zuschauer unmittelbar verständlich ist und sie menschlich rührt. Geschlechterrollen und Menschengeschlecht werden eng miteinander verschränkt. Das Menschengeschlecht, dessen Erschaffung vormals dem Gott oblag, wird zu einer Aufgabe der „Erziehung“322, die nun, gleichsam autofiktiv, Menschen obliegt (die es nur als Mann oder Frau gibt).

Die Rolle wird von Beginn an auch als eine Struktur begriffen, die in der Lage ist, die Grundzüge mimetischen Handelns in modernen Gesellschaften allgemein anzugeben. Diese Auffassung stützt sich wesentlich auf Diderots Schrift Paradox des Schauspielers (1773), in der Diderot die empfindende ‚menschliche Natur‘ zum zentralen Anliegen und Gegenstand der Rolle erhebt. Diese Natur müsse in ihrer jeweiligen ‚exemplarischen Allgemeinheit‘, wie Diderots exakte Umschreibung für den Begriff der Individualität lautet, von Schauspielern durch das Studium von Modellen und genaue Analyse ermittelt werden. Schauspieler seien also kühle Beobachter, die mit Erfahrung, Geschmack und Urteilsvermögen eine exemplarische menschliche Kunstfigur (modèle idéale) erschaffen, die sie als Künstler auf der Bühne so präsentieren, dass die Wirkung einer Rührung bei den Betrachtern entsteht. Auf diese Wirkungsdimension legt Diderot das größte Gewicht, indem er festhält, dass es keinesfalls um Gefühle ginge, die Schauspieler überwältigen und ihr Spiel zunichtemachen, sondern um gespielte Empfindungen, die Schauspieler darstellen, während sie ihre Wirkung innerhalb der Szene und gegenüber den Zuschauern stets im Auge behalten und kontrollieren. Diese innere Distanz, die Schauspieler gegenüber den von ihnen in größtmöglicher Geschlossenheit dargestellten Figuren wahren sollen, führt Diderot zu seiner berühmten Formulierung: Il est double. Diese doppelte Verfasstheit des Schauspielers ist späterhin als Modell für die Differenz von ‚Schein und Sein‘ in der Gesellschaft überhaupt aufgefasst worden.

Die Wirkungstheorien Diderots und Lessings bahnen eine Praxis der sozialen Rolle an (die erst in der Soziologie zu ihrem Begriff kommt). Sie gehen davon aus, dass öffentliches Leben von den Rollengestaltungen der Schauspieler lernt. Die vom Theater hervorgebrachten „Muster“ (Lessing) wirken auf ihre Betrachter und stiften diese zu einer reproduktiven Nachahmung an. Betrachter produzieren demnach mit anderen Mitteln noch einmal, was sich in den Rollen sinnlich-konkret und bildhaft zeigt. So jedenfalls spekuliert die moderne Ästhetik der Rezeption in der Kultur- und Bildungsrevolution um 1800, die den Rezipienten mit Einbildungskraft, Einfallsreichtum und Interpretationsmöglichkeiten ausstattet: Moderne Leser, Betrachter oder Zuschauer „verstehen“ auf eine neue, „viel innigere, nämlich geistige Art“323. Sie akkommodieren sich ihren Vorbildern nicht maskenhaft, sondern ganz, das heißt individuell. Gleichzeitig binden sie sich jedoch gerade dadurch umso ‚inniger‘ an die genuine ‚Menschenschöpfung‘ durch den originalen Künstler, der für sich genommen niemals zu wiederholen, sondern nur zu bewundern und zu vergöttern ist.

Nehmen wir die Frage von Vorhin wieder auf: Was heißt es nun, die Rolle wegzuwerfen?

Wegwerf-Szenarien

Wird die Rolle weggeworfen, dann wuchern im Hohlkörper der ausgelöschten Rolle die Umrisse dessen, was sie einst erfolgreich zu verschlucken trachtete. Aber sie hat es nicht verschluckt, es fehlen ihr dafür ja sämtliche Organe. Es ist nur in ihr verschränkt, vernäht und verschaltet worden, was durch sie unkenntlich werden sollte. Im Moment der verworfenen Rolle, in ihrem Vakuum, trennt sich das in ihr Vernähte zwangsläufig wieder auf. Es taucht wieder auf. Niemals in ‚alter Größe‘, sondern versehrt und verzerrt. Immer sind die Stückchen zu klein, zu hässlich, zu verrückt, zu flüchtig, zu extravagant, weder Haben noch Sein. Dennoch erkennen wir sie in den Theaterstücken von Jelinek wieder, die nicht nur hochbewusst, sondern auch vollkommen aussichtlos mit ihnen spielt (es ist ja nichts anderes da). Es handelt sich um Partikel der komischen Maske, die Jelinek wieder und wieder zusammenfegt, grotesk verkehrt und neu aufmischt, Stück für Stück, bevor sie mit ihren rollenlosen Theatertexten noch einen anderen, reicher orchestrierten Weg einschlägt, der immer entschiedener die Reste antiker Masken zu ihren Trittbrettfahrern und Schrittmachern zählt.

Wenn Jelineks frühe Theatertexte eine Rollenaufteilung suggerierten, dann um klar zu stellen, wem hier die Luft zum Atmen genommen werden sollte. Der Angriff erfolgt breitseitig und kujoniert mit den Geschlechter-Zwangs-Rollen zugleich den Popanz des Menschlichen. Stücke wie Burgtheater (1985), Krankheit oder Moderne Frauen (1987) und Raststätte oder Sie machens alle (1994) verkünden ihren komisch maskierten Angriff auf die Rolle als Posse, als Komödie oder auch als Passepartout Wie ein Stück. Im Fall von Krankheit komplettiert der Verlag unfreiwillig komisch: 2D / 2H. Zwei Damen, zwei Herren, das reicht. Das ist reichlich spaltbares Holz, denn wir sind nach dem Menschen: „Wir sind nicht unter Brüdern und Schwestern, schminken Sie sich da ab.“324 Wenn wir den Ausgangspunkt der weggeworfenen Rolle ernst nehmen, dann handelt es sich in Jelineks frühen Stücken um viel mehr als nur um eine Dekonstruktion personaler Darstellung. Ginge es nur darum, den hierarchisch-dualistischen Denk- und Wertungsmustern ihren Weg in die Einheit einer Figur und ihrer Darstellung zu versperren, brauchte es diesen Aufstand gesammelten Zorns nicht, der von weiter herkommt.

Von der weggeworfenen Rolle ausgehen, heißt vom Vakuum der Rolle, von ihrer genuinen Leere auszugehen. Das ist der Ausgangspunkt, der an andere Szenarien abgeworfener Rollen erinnert, vor allem an die paradigmatische Szene einer Selbstentlassung, die den Gegenstand von Shakespeares Richard II. bildet, oder an das Szenario der sich in einen Schatten verwandelnden Eurydike. Anhand dieser Beispiele lässt sich die Problematik der Rolle über die Vorstellung einer bloßen Normerfüllung oder -verweigerung hinausführen, denn häufig wird die Rolle als etwas nur Supplementäres wahrgenommen, als etwas, das sich wahlweise annehmen oder brechen ließe. Aber sie sitzt tiefer auf als gedacht. Im Fall von Richard II. geht es um den politischen Körper des Königs, der verworfen wird. Der Fall Eurydikes scheint noch rätselhafter, da es sich um eine Entkörperlichung handelt, sozusagen um ein ganzkörperliches Schatten-werden. Die Rolle ist mit der Dimension einer körperlichen Materialisierung verknüpft, und beide sind Darstellungsprobleme, wenn auch auf unterschiedlicher Ebene.

Zunächst zum Fall Richards. Sein Vetter Bolingbroke beansprucht mit militärischer Übermacht die Stelle des Königs, und Richard will für ihn diese Stelle räumen. Es hat kein Kampf stattgefunden, niemand ist ermordet worden. Es handelt sich um eine zeremonielle Abgabe. Nach und nach legt Richard die Insignien seiner Königswürde beiseite und nimmt sich zuletzt selbst die Krone ab. Was ist dieser abgesetzte und seiner öffentlichen Würde entkleidete Körper nun? Shakespeares Szenario zeigt, dass der politische Körper kein Mantel ist, unter dem der König in einem eigenen, intimen Leib zu Vorschein käme. Es gibt hier keinen Körper, der für sich alleine stehen könnte, denn der sterbliche, natürliche Körper ist nur in der Zweieinheit mit dem juridisch-politischen Körpers des Königs als solcher bezeichnet. Eine Auftrennung dieser aus guten Gründen dogmatisch gehüteten Einheit der beiden Körper des Königs zieht zwingend eine Zerstörung des Platzes des Königs nach sich. Der Fall des Königs zeigt, dass der natürliche Körper kein ganzer Körper ist, der sich extrahieren ließe. An seiner Stelle erscheint nur ein Rest, der er ist. Der abgesetzte Richard ist damit konfrontiert, dass ihn der Tod und etwas erwartet, das „zugleich mehr und weniger als der Tod“325 ist, wie Kantorowicz formuliert. Der Vorgang stößt auf die Rätsel der Inkorporation. Wie kann etwas überhaupt aus dem Nichtähnlichen in die Zone einer Ähnlichkeit übergehen? Richards Blick fällt auf jene „öde Erde, die als Kleister und Hülle für unsere Knochen dient“ (III.2,152 f.)326. Denn „nichts außer dem Tod und dem kleinen Abbild (dieser) öden Erde, können wir unser eigen nennen" (ebd.).

In drei großen Monologen fällt Richard über drei Stufen, die in umgekehrter Reihenfolge den Stufen seiner zeremoniellen Einsetzung als König entsprechen: Vom geweihten Königskörper über den ewigen Namen des Königs (das Gesetz) in die Reste „abgesetzter Körper“ (III.2,150) samt „Gräbern, Würmern“ (III.2,145). Richard begegnet auf der dritten Ebene diesem „nichts außer dem Tod und“ einem Rest. Dieser Rest ist vielfältig und nicht einfach tot, sondern dynamische Materie, die in Verbindung mit Vitalprozessen aller Art zu denken ist. Einst hielt Richard seinen geweihten Königskörper für unverletzlich. Nun treibt ihn diese Begegnung mit dem Rest in die Hellsicht. Der ewige, politische Körper des Königs ist bloß scheinhaft, eingebildet und hohl. Für diese Hohlform erfindet Shakespeare großartige Bilder (III.2,160-165): Richard spricht davon, dass „in der hohlen Krone, die die sterblichen Schläfen eines Königs umgibt,“ ein Gegenhof herrscht. Hier haben Narr und Posse, Tod und Mätzchen das Sagen. Ein Narr erlaubt dem König „einen Atemzug“ lang, „einen kleinen Auftritt, den König zu spielen“. Die Hohlform der Krone taucht in ihrer Übergabe an Bolingbroke erneut auf, wenn Richard sagt: "Hier, Vetter, ergreift die Krone. Hier, Vetter, auf dieser Seite meine Hand und auf jener Seite deine. Nun ist diese goldene Krone wie ein tiefer Brunnen, der zwei Eimer enthält, die einander füllen, der leerere immer in der Luft tanzend, der andere unten, ungesehen und voll Wasser. Jener Eimer unten und voll Tränen bin ich, meinen Kummer trinkend, während ihr hoch nach oben steigt." (IV.1,181-189). Zwei Eimer in einem hohlen Brunnen. Sie füllen einander, während sie auf- oder absteigen. Der leerere, Bolingbroke, steigt auf und übernimmt die Krone. Es folgen im vierten Akt die unter Rollenträgern üblichen "jämmerlichen Schauspiele" (IV.1, 323): Lügen, Beteuerungen, Schwüre, Verdacht und Verrat. Die Szene spielt im Oberhaus, in Westminster Hall.

Von der vakuumgewordenen Rolle aus, erscheinen Rolleninhaber stets als „leerere“ Gewinner. Ihnen gegenüber sinken die, die „Kummer trinken“, auf der Verliererbahn ungesehen nach unten. Am Ende der Bahn stellt sich Hellsicht ein, die im Wechselspiel der binären Pole die Regiehandschrift des Narren erkennt. Mit diesem Schritt über die Dichotomien hinaus, wird ein anderes Sprechen möglich: Das Wahrsprechen, die parrhesía. Mit ihrer Ausnahmekraft wird die Krone, die es erlaubt „einen kleinen Auftritt, den König zu spielen“, als Hohlform erkannt. Ähnlich verhält es sich, wenn die Rolle Frau weggeworfen wird. Bei Jelinek stellen sich die beiden einander füllenden Eimer mit den Rollennamen Mann und Frau vor. Da die vakuumgewordene Rolle Frau ihr Wechselspiel nicht mehr erlaubt, stehen die beiden alsbald im Adam- und Evakostüm da, und dann wird auch dieses verworfen. Ihre Häutung kommt jedoch, anders als gedacht, keiner Hinrichtung gleich, sondern bewirkt eine Transition.

Gehäutete begegnen dem Tod und etwas. In Schatten (Eurydike sagt) hat Jelinek diesem ‚etwas‘ ein eigenes Stück gewidmet, das an ein anderes berühmtes Wegwerf-Szenario anknüpft. Die Nymphe Eurydike entzieht sich als Jungvermählte körperlich, während ihr Mann, der berühmte Sänger, sie als ‚seinen‘ Schatten zurückhaben will. Die mythologischen Erzählungen sind realistisch genug, für ihr Entschwinden keinen besonderen Grund anzugeben. Ein einfacher Schlangenbiss tut das seine, und Eurydike übertritt die Schwelle ins Schattenreich. Der Übergang vollzieht sich beiläufig, nicht als Sturz in ein klaffendes schwarzes Loch, sondern als morphologische Auflösung der Konturen. Eurydike sagt: „ich werde glauben, mich gehäutet zu haben, und auf einmal werde ich selbst meine abgeworfene Haut sein. Schatten.“327 In Schatten flehen bilder- und körperlose Schatten darum: „Nur nicht den Körper ranlassen, nur mich nicht in den Körper reinlassen“ (17). Schatten wie Eurydike sagen – „es fließt, auf ein weißes Blatt Papier, ich rinne aus“ (3) – und werden zum Schreiben. D.i. kein Vorschlag, alles, unter anderem auch „materielle Körper“328 in Wörter zu verwandeln, sondern umgekehrt zeigen ein vielfältiges Sagen, Fließen, Rinnen, Werden eine Performativität an, die jeden sprachlichen Monismus entmachtet. Schatten sind ohne Ort und Geschichte, ohne Chronologie. Sie können nicht bei sich bleiben und vervielfältigen sich in steter Bewegung. Bei Jelinek werden sie zum Teppich: „Wir sind ein Schattenteppich, der nie gereinigt werden muß, denn keiner tritt sich auf uns die Füße ab. Wir sind einfach da. […] hier blutet niemand […] auf unseren Teppich, der wir sind, nicht den wir haben, der wir sind und bleiben“ (15). Nachdem „meine gefestigte Existenz“ (3) sich entzogen hat, gelingt in der Berührung mit einer äonischen Dynamik ein eigentümliches Bleiben, das allerdings von einer Bedingung abhängt: „Wir sind nicht.“ (16)

Es geht nicht um Ikonoklasmus, sondern um eine Lösung aus dem repräsentationalistischen Glauben an die Gestalt (morphē), die einen Körper abgrenzt und beendet. Es geht um die Ent-Festigung dieser Gestalt und ihre Überführung in die kontinuierliche Variation, in ein Patchwork („Teppich“) von Über- und Untertreibungen. Wenn ein Körper unbeteiligt und inert wird, wird seine Hülle sinnlos. Er häutet sich. Er wird Schatten und dehnt sich zu einer Zone, in der Oppositionen unwirksam werden und Relationen sich von ihren vorausgesetzten Relata lösen. Sie beginnen zu fließen, zu rinnen wie das Sagen der Eurydike. Im Sagen und Schreiben (und Denken, fügt Hannah Arendt hinzu) sind wir alterslos. Im Fall von Eurydike ergibt sich dieser Übergang durch den Biss einer Schlange, dem Profi für Häutungen schlechthin. Jung und uralt zugleich, ist die Schlange verbündet mit der Erde, mit dem Wahrsprechen und der Zirkulation der Gifte. „Es tut weh, da rinnt, glaube ich, ein Gift […]. Jetzt ist die Frage: Werde ich jetzt Schatten, oder bleibe ich, wie ich bin, und gebe vielmehr den Schatten her? Nein, ich ergebe den Schatten, ich ergebe ein Stück Schatten, und ich ergebe mich den Schatten.“ (4) Die Metamorphose macht im „Übergang von Ichweiß zu Ichweißnicht“ (6) aus dem Ich ein „knisterndes Etwas, dessen Uhr stehengeblieben ist“ (4) und leitet es auf eine nicht feststellbare Ebene unzähliger Übergänge. Die Darstellung wechselt von einer Ebene der Nachrichten (aus dem Patriarchat) auf die Ebene von Botinnen, die, dem Beispiel antiker Boten folgend, mit ihrer Botschaft selbst übereinkommen. Das heißt, dass sie als Boten in einer Botschaft aufgehen, die nicht ihre ist und die sie, sofern die Geschichte gut erzählt wird, stets sterbend überbringen, und dass sie außerhalb ihrer Spur der Übertragung nichts sind. Gestaltwerdungen (wie Botschaften) vollziehen sich immer konflikthaft und niemals vollständig. Stets erscheinen sie in Konfigurationen mit Schatten, diesen flüchtigen Mit-Erscheinenden schlechthin. Mit ihnen treten die Nicht-Gegebenheit des Raums und der Körper hervor und werden zu Fragen. In ihrem poetologischen Text Sinn egal. Körper zwecklos (1997) hat Jelinek dieses Hervortreten der Nicht-Gegebenheit als „Herausforderung“ für Schauspieler beschrieben, die „aufgehängt […] im Schacht einer anderen Dimension, die nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist, uns etwas bestellen sollen, eine Nachricht die Anfänger, eine Botschaft die Fortgeschrittenen.“ Diese „andere Dimension“ entzieht sich der Einfältigkeit einer intuitiven Evidenz. Sie ist „nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater“, sondern beides: Wahrheit und Schein in ihre gegenseitige Denunziation verbissen, bis alles scheint und eine Wahrheit miterscheint, die sich anders nicht einstellt. Es gibt keine ‚dahinterliegende‘ Wahrheit. Jelinek setzt die Bewegung fort, die Kunst aus den Dichotomien zu lösen, die aus jahrhundertelang errichteten Systemen resultieren. Diese Bewegung gewinnt bei Jelinek tumultartig an Fahrt, weil sie bei einem Kernstück der Dichotomien ansetzt: der Zweigeschlechtlichkeit, die von ihrem heterosexualisierten Sinn verlassen wird. Vollständig ausgeprägt findet sich diese Bewegung schon in Krankheit oder Moderne Frauen (1987).

Verlassene Rollen, verlassene Anblicke

Rollen und Anblicke werden verlassen, indem man sie obsessiv behauptet und übertreibt oder mit widersprüchlichen Anweisungen füttert. In Krankheit werden Anblicke durch die pure Vielzahl einander widersprechender Referenzen verunmöglicht. Übergangs- und Mischwesen wie „Emily“ und „Carmilla“ lassen sich sagen, aber nicht zeigen. Namentlich werden sie gefüttert aus der Literatur: mit Emily Bronte die eine, Carmilla als Titelfigur einer Vampirgeschichte von Le Fanu die andere. Ihre ‚Rollen‘ werden wie folgt ausgewiesen: die eine als Schriftstellerin und Krankenschwester, die andere als vielfache Mutter, die eine als Vampir, der zubeißt im Moment als die andere bei der Geburt ihres sechsten Kindes stirbt, die eine als lesbisch, die andere als „österr.“ usw. Ähnlich widersprüchlich verhält es sich mit dem vorgeschriebenen szenischen Ort, der „links“ eine Praxis der Zahn- und zugleich Frauenheilkunde vorstellt, welche „rechts“ in eine wilde Heidelandschaft mit Felsbrocken übergeht. Übertriebene Anblicke sprengen das Bild und werden durch treuherzig daherkommende Handreichungen der Autorin noch verschärft: „Auf kleinen Bühnen kann die Landschaft durch ein Kinderplantschbecken dargestellt werden.“329

Die Bildsprengung gilt in Krankheit nicht nur dem Bild der Bühne, sondern resultiert in einem strengen Sinn aus der verlassenen Rolle Frau. Die Frau als Anblick ist der blinde Fleck, über den sich die moderne, bildhafte Sichtbarkeit der Szene einst einrichten ließ.330 Er bildet den unaussprechlichen, unvorstellbaren und daher von der visuellen Kultur in der Renaissance realisierten Ausgangs- und Knotenpunkt für die modernen Konventionen sowohl der Bühne als auch der zwei Geschlechter, die sich weder spiegelbildlich, noch symmetrisch zueinander verhalten. Gehen wir von diesem blinden Fleck aus, der das Kompositum ‚die Frau als Anblick‘ und die modernen Visualisierungsstrategien zugleich grundiert, so ergibt sich, dass diese Strategien der Bildgewinnung zwingend nur von einer Frau aufgegeben werden können, die ihre Rolle wegwirft. Wird die Rolle Mann aufgekündigt, bleibt er immer noch Standard, der sich einen „Fensterplatz ergattert. Stadtmitte!“ (71) Der Mann müsste schon dem Standard entsagen, wollte er gründlicher verfahren. Die Rolle Frau wegwerfen heißt indessen zwangsläufig, die Frau als Anblick aufzukündigen, sich aus dem Wechselspiel von Blick und Anblick zu entfernen und mit der Schwärze des Grundes sowie der hier unvermeidlich herrschenden Blindheit in Berührung zu kommen. Der Blick selbst wird hier täuschend. Er beschert weder Wissen noch wirkliche Blindheit, nur die Berührung mit der Unmöglichkeit der eigenen Lage. Am Punkt der weggeworfenen Rolle Frau heißt es in Krankheit: „Carmilla: Ganz tot möchte ich persönlich nicht sein. Ich möchte, daß man meinen Spuren noch lang im Tiefschnee folgen kann. Ich möchte sichtbar sein. Wie ein gelbes Pißloch mitten auf einer Abfahrtpiste. Ich möchte sehr tief in den gefrorenen Boden hineinreichen.“ (70 f.)

Nehmen wir die Konventionen der Bühne und der beiden Geschlechter von diesem blinden Fleck aus wahr, der hier die Farbe eines gelben Pisslochs im Schnee angenommen hat, dann können wir zumindest festhalten, dass sich die zu ihrer einseitigen Sichtbarkeit gezwungene moderne Bühne nicht länger als Bildbühne verteidigen kann. Sie kann nicht länger behaupten, dass das Bild den Raum der Bühne macht. (Das Umgekehrte ist der Fall.) Und sofern Darstellungen von Geschlechter- und Rollenfiktionen abhängig sind, wird von diesem blinden Fleck aus nicht nur das asymmetrisch zusammengeschusterte Geschlechterverhältnis entgleisen, sondern auch das Verhältnis, das die Bühne und alle ihre Nachfolger wie Film, Funk, Fernsehen etc. zur Darstellbarkeit überhaupt unterhalten.

„Wo war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“

Mit dem Thema des Vampirs wechseln wir in Krankheit auf eine Ebene, die ‚tiefer in den gefrorenen Boden‘ der Geschlechter hineinreicht. Es geht um die Frage: „Wo, meinst du, Heidkliff, war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“ Und um die Replik: „Die Klinik ist geboren. Und das Geschlecht ist dann auch irgendwann einmal geboren.“ (53) Mit der Anspielung auf den Titel der Schrift Foucaults Die Geburt der Klinik verweist die Replik auf das ausgehende 18. Jahrhundert. Das ist der Zeitraum, den Foucault in den Blick nimmt und zugleich der Zeitraum der modernen Definition und Indienstnahme der zwei Geschlechter. Jelinek entdeckt diese Parallelen: Aussagen, die Foucault auf die moderne Definition von Krankheit bezieht, lassen sich präzise auch auf die Neudefinition des Geschlechts in diesem Zeitraum anwenden. Im Titel Krankheit oder Moderne Frauen ist das oder absolut wörtlich zu nehmen. Es zielt auf eine Reihe analoger Befunde zu den modernen Begriffen von Krankheit und Geschlecht bzw. der zwei Geschlechter Mann und Frau. Foucault notiert: „Der Abgrund unter der Krankheit welcher die Krankheit selber war, kommt nun ans Licht der Sprache“331. Die gedankliche Bewegung und sprachliche Gestalt des Satzes beibehaltend, lautet es für den modernen Begriff der Geschlechter entsprechend: ‚Der Abgrund unter den zwei Geschlechtern, welcher das Geschlecht selber war, kommt nun ans Licht der Sprache‘. In beiden Fällen lässt sich der Satz mit einer Parenthese fortsetzen wie bei Foucault: „jenes Licht, das eben damals Die 120 Tage, Juliette und die Desastros de la guerra grell erleuchtet.“ Die Bewegung dieses Satzes trägt die Analytik, die Jelinek ihrem Stück zugrunde legt.

Es geht um „das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat“, um seinen Ort, bevor es im 18. Jahrhundert zu einem ersten Gegenstand der medizinischen, pädagogischen, literarischen usw. Diskurse gerät. Für dieses ‚bevor‘ müssen wir vor allem zwei Register in Betracht ziehen, in denen das Geschlecht jeweils in völlig anderen Bezugsrahmen erschien und gedacht wurde. Zum einen das Register ‚Natur‘: Bevor die Sozialisierung zweier Geschlechter und ihre frühbürgerliche Vergesellschaftung als Mann und Frau im 16. Jahrhundert einsetzt, wurde das Geschlecht im Bezugsrahmen einer Natur gedacht, die das Geschlecht, mikro- und makrokosmisch verknüpfend, bald hier und bald da anbrachte, sodass das Geschlecht nur auf Umwegen und vor einem sich ständig verschiebenden Hintergrund zu fassen war. Es tauchte also als vieldeutige Chimäre auf, gegen die der Kampf um Eindeutigkeit nicht zu gewinnen war. Zum anderen das Register ‚Religion‘: Parallel zur Sozialisierung der Geschlechter mit ihren immer feineren Verästelungen in bürgerlichen Kontexten erhält sich noch geraume Zeit die Annahme der Zugehörigkeit zu einer geschaffenen Gattung. Im Bezugsrahmen der Theologie gilt, dass das Geschlecht der einen oder der anderen Art unterschiedslos verliehen wird wie ein Leben. Das Geschlecht gilt als Geschick, das von der Kirche mit dem Auftrag der Zeugung von Nachkommen verknüpft wird. Der große Einschnitt ereignet sich um 1800.

Einhergehend mit dem neuen ärztlichen Blick, der die Körper seziert und den Tod aus der Unsichtbarkeit des Übels in die Sichtbarkeit der Krankheit befördert, öffnet sich auch die Sprache einem neuen Bereich. Fortan heftet sie ihre Aussagen strikt an das, was sich sichtbar zeigt und unterscheiden lässt. Was Foucault für die Krankheit feststellt, gilt auch für das Geschlecht und für dieses vielleicht vor allem: Die Einsetzung einer konstanten und angeblich objektiv fundierten Relation zwischen dem Aussagbaren und dem Sichtbaren identifiziert die einzelnen Körper in ihrer sichtbaren und gegen ihre Umgebung verschlossenen Kontur. Was in der Renaissance das Tafelbild und die Komödie geleistet haben, verschärft sich auf der Aussageebene um 1800 zur definitiven Festlegung und sprachlichen Codierung. Ab jetzt muss über den Sex gesprochen werden. Dabei stehen sich diskursive und materielle Praktiken nicht als beschreibende und erduldende gegenüber, sondern sind ineinander verschränkt. Sie materialisieren sich in dynamischen Phänomenen. Nicht in etwaigen ‚natürlich verkörperten Tatsachen‘, sondern in der fortlaufenden Überarbeitung und (Re-)Konfiguration von Körpern. In diesem Sinn spricht Foucault von einer ‚Verkörperung‘, die er mit epistemischen Praktiken verschränkt darstellt. Foucault schreibt: „Nur weil der Tod in die medizinische Erfahrung epistemologisch integriert worden ist, konnte sich die Krankheit von ihrem Status als Gegen-Natur befreien und sich im lebenden Körper der Individuen verkörpern“.332 Wiederum parallel dazu könnten wir hinzufügen, dass aus demselben Grund sich auch das Geschlecht von seinem Status als Chimäre mit kirchlich gedeutetem Auftrag befreien konnte, um sich im lebenden Körper der Individuen zu verkörpern, das heißt dynamisch zu materialisieren.

„Wo war das Geschlecht, bevor man darüber gesprochen hat?“ Was zuvor als Gegen-Natur, als göttliche Natur, als Totenreich, als ewiges Leben oder als Chimäre des Geschlechts galt, wird nun über die Einreihung des Todes unter die Gegenstände des Wissens vom Menschen, inkorporiert. Nicht das Nahliegende, sondern das Äußerste gilt es zu inkorporieren, das heißt, das weibliche oder männliche Geschlecht überhaupt zu lokalisieren und an sich selbst, restlos und im Detail, zur Darstellung zu bringen. Ab jetzt geht es nur noch um die Differenz, aber in materiell-diskursiven Praktiken, die restlos verfahren und vor lang gehüteten Trennungen wie die von Natur und Kultur nicht Halt machen. Um noch einmal einen Satz von Foucault zu paraphrasieren: ‚Im Bezugsrahmen des Todes wahrgenommen, sollen Krankheit und Geschlecht fürderhin erschöpfend lesbar werden und sich restlos der sezierenden Arbeit von Sprache und Blick öffnen.‘333

Ineinandergefügt erscheinen Tod und Verkörperung im „Licht der Sprache“, in einer Sprache also, die mit dem Blick amalgamiert ist. Foucaults Hinweise gelten Francisco de Goya und Marquis de Sade. Goyas Zyklus von 82 Aquatinta-Radierungen Die Schrecken des Krieges (1810-1814) handelt von den Leiden der Körper, die ihnen durch die Grausamkeit der Soldaten im Spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleons Besatzung widerfuhren. Die 120 Tage von Sodom (1785) handelt von vermeintlichen Libertins, die gemeinsam mit ihren Komplizinnen ein System mörderischer Sexualisierung errichten. Sie legen das neue Regelbuch der Menschenrechte als Selbstermächtigung aus und erteilen sich selbst jedes Recht zu jeglicher Übertretung. Da es sich um eine Nouvel Ordre Public handelt, muss die Gewalt ausgestellt werden. Es muss ‚vor den Augen der Welt‘ gelitten werden, damit sich auf Seiten der Schurken ein Genuss einstellt, der sich – wie der gleichnamige Spielfilm von Pier Paolo Pasolini (1975) zeigt – im Befehl zu einem gespenstischen, hohlen Lachen entlädt. Die epistemologische Neuorganisation von Krankheit und Geschlecht um 1800 macht Körper als tödlich versehrte und tödlich sexualisierte sichtbar.

Ebenfalls ab 1800 entwickelt sich im Theater ein personaler Darstellungsstil und die Rolle beginnt, im übertragenen Sinn die Figur in einem Bühnenstück zu bezeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung wird ‚Verkörperung‘ von der Ideologie des Schauspiels als Menschenschöpfung deklariert, um sich derart den Nimbus des Genius selbst anzumaßen. Unter dem Jubel des Schauspielernachwuchses heißt es zur ‚Verkörperung‘ in Burgtheater: „Mir derfen eine Rolle verkerpern! Mir derfen Menschenbildner sein!“334 Jede Idolatrie lässt sich kleinbürgerlich noch steigern: Je mehr sie das Theater zur Weihestätte von Gottbegnadeten stilisiert, umso ‚inniger’ stellen die ihre ‚hehre Kunst‘ in den Dienst ganzer Reiche und ihrer ganz Mächtigen.335 Diese Verehrung vergötterter Bilder begleitet das Gebot zur Aneignung eines Geschlechts, das sich im Doppelnamen von Geschlecht und Krankheit verallgemeinert und auf alle Individuen bezieht, wie die „Massenwesen“336 ab jetzt treffend heißen. Die Idolatrie bezieht sich auf Darstellung, das verallgemeinerte Gebot hingegen auf die Materialisierung eines Geschlechts, das alle, vermeintlich unteilbaren Individuen als dasselbe teilen oder besser gesagt, praktizieren. In Krankheit oder Moderne Frauen heißt es: „Wir sind total unterschiedliche Individuen. Wir sind total dasselbe. Wir sprechen nicht mit Unterschieden. […] Wir sind moderne Personen. Wir sind ungleich, aber ohnegleichen. Wir sind dasselbe. […] Wir sind unseresgleichen.“ (25)

Die individuelle und sichtbare Aneignung eines von zwei Geschlechtern und ihre Praktiken aktualisieren amorphe, chimärische und heterogene Komponenten, die vormals die Peripherie unterschiedlicher Bezugsrahmen des Geschlechts ausmachten. Diese Komponenten unterlaufen nicht erst schlussendlich, sondern von Beginn an ontologische Unterscheidungen von Leben und Tod, Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Natur und Kultur und stellen sie infrage. Im Vorgang der Aneignung eines Geschlechts brechen Materialien des Äußersten Körper, die keine Behälter sind, von innen auf. Blicke, die sich auf sie richten, sind wie Projektionen eines ‚Inneren‘ organisiert und machen die Anblicke, die sich ihnen bieten, erst sichtbar. Darüber stürzen Körper (Figuren) in entsetzliche Verwicklungen. Blicke und Anblicke spalten die Körper in Fragmente. Mitunter lassen sie vom Zwang zur Darstellung des Geschlechts nur den motorischen Zwang übrig. Splitter erscheinen auf Bildflächen, füttern Splatterfilme und lassen den Film hinter sich. Andere Splitter fräsen sich in die Sprache und lassen ihre diskursiven Milieus hinter sich. Die splitternden Materialien verhalten sich distributiv, sie streuen sich aus und überschwemmen die modernen Erfindungen von Rolle und Figur, die unter ihnen zusammenbrechen (das war nicht schwer). Das Stück Krankheit oder Moderne Frauen führt diesen Zusammenbruch vor und erhebt ihn im analytischen Sinn zu seinem zentralen Gegenstand.

Die moderne Reorganisation der Geschlechter entkleidet sukzessive nicht nur die zwei Geschlechter, sondern auch das „Menschengeschlecht“337, das in ihrem Namen aufgehen sollte in Mann und Frau. Es ist indessen nicht in ihnen verschwunden, sondern ganz anders aufgegangen, als gedacht. Das Geschlecht hat sich zwischen den beiden Geschlechtern, die es doch einhegen sollten, nur um so ungestümer vorgedrängelt. Im 20. Jahrhundert machen gouvernementale Regierungspraktiken und öffentliche Verwaltungen das Leben von ‚Massenwesen‘ zu ihrem ersten Anknüpfungspunkt, während die disziplinäre Überwachung des in seiner Sichtbarkeit konturierten Einzelkörpers nachlässt – zumindest in ihrem paradigmatischen Gewicht für die Gesamtheit normierender oder regulierender Regimes. Dabei geht es um Fokusverlagerungen, nicht um Ablösungen. Mikropolitisch arbeitet die Disziplinierung sexualisierter Körperwesen einer regierungstechnischen Erfassung von Gattungsmenschen entgegen, was vor allem mit dem Mechanismus ihrer Ausbreitung zusammenhängt. In der Welt des Sichtbaren, im grellen Licht der öffentlichen Sprache, der Blicke und Anblicke, können Krankheit und Geschlecht nicht damit aufhören, sich auszustreuen und auszubreiten. In Krankheit heißt es: „Die Welt des Sichtbaren ist wie ein Verwaltungsgebäude, in dem man die Duschen nicht abstellen kann: Etwas stimmt nicht, aber es ist einem egal!“ (36)

Nicht nur historisch und systematisch sind die Geburt des klinischen Blicks und die Disziplinierung sexualisierter Körper einander inhärent. Schon das Nachwort zur Geburt der Klinik impliziert diese Engführung von Krankheit und Geschlecht, die Foucault in Sexualität und Wahrheit (1977) explizit macht. Krankheit oder Moderne Frauen schreitet diese Bezugnahmen aus. Unter der Ägide der Krankheit verlässt das Geschlecht das Spiegelkabinett der zwei Geschlechter, die sich in ihrer Asymmetrie noch nie ineinander gespiegelt haben (nicht einmal die Komödie hat das behauptet). Dichotomien338 versagen, wenn es um Prozesse geht, die nur vermischte Beteiligungen kennen. Im Stück Krankheit geht es um solche Prozesse. Zitiert wird das Schema der Spiegelrelationen und Dichotomien, um es als Schema unter der Ägide des Vampirs auszuhebeln. Der Spiegel entfällt nicht, er zeigt nur kein Bild. Auch mit der Verkehrung ins Gegenteil wird nicht gespart, sie entgleist nur mit schöner Regelmäßigkeit ins Weder-noch. Das Stück Krankheit besagt, dass die Struktur krank ist, mit der das Menschengeschlecht in der Sichtbarkeit zweier Geschlechter abgestellt werden sollte. Aber es lässt sich dort genauso wenig abstellen wie jene zitierten maroden Duschen im Verwaltungsgebäude, die man auch nicht abstellen kann. Das Geschlecht dringt als Thema der schieren Pluralität, die sich als solche nicht zu bezeichnen weiß, immer wieder hervor.

Gattungs-trouble

Die Gattungsthematik wird in Krankheit mit „Carmilla“ verknüpft, die keine Rolle, keine Figur, sondern ein Name ist, der noch nicht einmal zum Stück gehört, sondern von woanders herkommt (natürlich auch nicht von Le Fanu). Daher die Frage an „Carmilla“: „Was für eine Gattung Mensch bist du überhaupt?“ (15) Carmilla ist ein Sammelname, unter dem hier die Wüste weiblicher Abhängigkeiten und Unterordnungen im Dienst der Reproduktion subsumiert werden: die Gattin, die vielfache Mutter, die junge Mutter, die bei der Geburt ihres Kindes sterbende Mutter, die Hausfrau, die Österreicherin, die Schöpferin leibeigener Kinder, die Arbeiterin am sexuierten Stammbaum, die Gebärende mit ihrem ‚Glück der Menschendarstellung im Kleinkind‘ (20), die Krankheit als modernes Sein. Carmilla als Ehefrau gebiert im Dienst des Ehemannes und Erzeugers. Sie ist das gynäkomorphe Gefäß, das seiner Zensur untersteht. Sie ist der studierte, öffentliche Unterleib auf dem Gynäkologenstuhl. Ihr Anteil am Erzeugnis ist die Sorge. „Carmilla spricht mühsam: Ich hoffe, du hast dir gestattet, diesem Kind ein menschliches Bild zu geben? Ich meine nur. Damit man es später, wo gewünscht, als Mensch erkennen kann. Damit man es nicht ausradiert oder mit Gas totmacht.“ (17)

Carmilla wird angesteckt von der „Krankenschwester“ und lesbischem Vampir Emily und erwacht als Vampir „Carmilla“, die mit allem bricht, was unter diesen Namen bislang subsumiert worden ist. Die Ansteckung bezeichnet einen Typus der Vermehrung, die nicht auf sexueller Reproduktion beruht. Carmilla bricht mit der Arbeit am Stammbaum und der Genealogie im Namen des Herren und Übervaters: „Vater, es wird vollbracht sein.“ (65) Die Vampire Carmilla und Emily leben im Doppelsarg, trinken das Blut der Kinder aus. Emily als Kindsmörderin und Carmilla als die mörderische Mutter („Medea“, 54). Sie werden zum „Säugetier“ (51), das selber saugend sich ernährt. Vampire, die sich nicht fortpflanzen, sondern anstecken, gehören den speziesübergreifenden Zwitterwesen zu.

Es lohnt sich, bei diesem Bild ein wenig innezuhalten. Es geht hier nicht um eine kämpferische Rücknahme der mütterlichen Produktion oder um die emanzipatorische Geste einer Mutter, die lieber saugt, als zu säugen und sich aussaugen zu lassen. Viel eher handelt es sich hier um eine Involution, mit der in der Medizin die natürliche Rückbildung eines Organs bezeichnet wird, das nur begrenzte Zeit aktiv ist, wie zum Beispiel die Gebärmutter nach der Entbindung. Der Entwicklungstypus der Involution ist nicht zerstörerisch oder regressiv, sondern aufbauend, er gehört einer Ordnung des Werdens zu. Jelineks Bilder in Krankheit sind völlig verschieden etwa von denen, die Heiner Müller am Ende der Hamletmaschine für Ophelia verwendet: „Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie mit meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.“339 Das sind die Worte des Aufstands, der versucht, das Schema der zwei Geschlechter zu vergiften und das Schema selbst umzukehren, ohne es jedoch antasten zu können. Das Ophelia-Modell wehrt sich gegen die Reproduktion, aber in ihren verzweifelten Verbalradikalismus sind die Regression und die Selbstauslöschung schon eingeschlossen. In diesem Sinn führt Heiner Müller das Bild auch zu Ende: „Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weißen Verpackung.

Die Bilder in Krankheit hingegen entfernen sich vom Schema der zwei Geschlechter. Das Vampir-Modell präferiert die Ansteckung anstelle von Abstammung und Filiation. Anstelle des schlichten Dualismus der Geschlechter, berührt es die heterogene Vielgeschlechtlichkeit und die Ungeschlechtlichkeit der Gattung in einem. „Auf einmal ist ihnen das Geschlecht nicht mehr tödlich und ernsthaft! Sie betrachten es nicht mehr als Körperhygiene. Es bricht aus ihnen hervor. Ein Springbrunnen. Plötzlich ist ihnen das Geschlecht nur eine Gefälligkeit unter vielen.“ (51) „Der Vampir ist geistig Kind“ (56) heißt es. Emily und Carmilla gehen vor die „Fruchtbarkeit“ (55) zurück. Wieder drängt sich eine Unterscheidung zwischen bloßer Regression und Werden dazwischen: „Ihr werdet wieder Jungfrauen. Ihr werdet rückläufig. […] Wo ist euer schönes Geschlecht?“ (55) Sie verkörpern es nicht mehr. Sie gehen einer Art des Werdens nach, die nicht zurückführt.

Von Vampiren behaupten Deleuze/Guattari in einer fiktiven historischen Notiz, dass sie um 1730 in aller Munde waren.340 Also etwa zu jener Zeit, in der sich die Definitionen des klinischen Blicks darauf vorbereiten, die Körper in ihrer Sichtbarkeit zu erfassen, Krankheitsbilder festzustellen und Geschlechteridentitäten feinmaschiger zu normieren, werden Vampire zu geflügelten Wesen und sammeln, was sich zwischen Mann und Frau sonst noch an nicht feststellbaren Geschöpfen tummelt. Als Zwitterwesen korrespondieren sie mit älteren Schwellenwesen. Krankheit weist auf subkutane Korrespondenzen mit weit zurückliegenden Schwellenzeiten hin, indem auf die griechische Tragödie, auf die Kultanhängerinnen des Dionysos und deren Unwahrnehmbar-Werden angespielt werden. Emily und Carmilla nehmen die Züge einer „Mänade“ (61) an. „Carmilla: Wir verbergen scharfes Heidentum. Wir sind leidenschaftlich. Wir leiden nicht. Furchtlos haben wir Mitleid, müssen uns verstecken. Wir sind machtlos.“ (61) Im letzten Bild verschmelzen Emily/Carmilla zu einem monströsen, unbeweglichen „Doppelgeschöpf“ (72), das von zwei Jägern, die sich gestern noch als ihre Männer vorstellten, abgeschossen wird. Im Doppelgeschöpf, das als „Landschaftsauswuchs“ (74) erscheint, geht die Thematik sexueller Identität und Reproduktion zu Ende. Das Doppelgeschöpf ist ein Tier oder ein monströser Säugling. Es spricht nicht, es trinkt, isst und verdaut. Das Thema der zwei Geschlechter wechselt in das Thema einer amorphen, anonymen Vitalität nicht des Lebens, sondern des Lebendigen. Mehr geht nicht, das Stück muss ein Ende haben. Es handelt sich indes um ein Ende wie im Fall der Parabel, deren Enden ihrerseits kein Ende haben.

Eben noch hat eine „Frauenstimme vom Band“ das Stück im Stakkato für uns zusammengefasst: „Das Bild muß ins Innere. Die Frau muß ab. Trennen Sie den Körper vom Land. Der Vollzug tagt.“ (69) Das heißt, es hat uns erwischt und wir sind mittendrin. Jelineks Stück rührt an den Gattungs-trouble aus archaischer Zeit und berührt die offenen Fragen der sozialen Reproduktion, die in der Antike mit der Leitidee einer Wiederholung des Menschen durch je zwei Menschen einer hochproblematischen Lösung zugeführt wurden: „Trennen Sie den Körper vom Land.“ Körper haben sich im symbolischen Milieu der Polis und im Rahmen ihrer genealogisch gehüteten Fortsetzung vom Land getrennt. Sie haben sich damit auch von jenem ungeschlechtlichen Gattungskörper getrennt, der den sexuierten, genealogisch orientierten Körpern als Werdensgrund vorangeht. Die differenziellen Bewegungen dieses Werdensgrundes gehen den codierten Körpern voraus und übersteigen sie. Das ist eine andere Formulierung dafür, dass die in den Polis-Kanälen organisierten Körper in die ereignishaften Bewegungen jenes Werdensgrundes eingefaltet bleiben. Auch wenn diese Bewegungen unwahrnehmbar werden, auch wenn sie sich jenseits der Sichtbarkeiten zutragen, auch wenn sie sich auf das Somatische verlegen, bleiben Körper mit den sich ereignenden, amorphen Werdenskräften verwoben, während die sexuelle Reproduktion dem oikos zugeschlagen wird, der Ökonomie eines Hauses und seiner Produktion. Unlösbare Asymmetrien wie diese erlauben es nicht, dass eine Trennung des Körpers vom Land jemals abzuschließen ist. Die Trennung wird angeordnet. Das Bild muss ins Innere, dahin, wo es die Blicke projiziert haben. Die Frau geht ab. Eine derartige Trennung wird vollzogen, indem der „Vollzug tagt“.

In Krankheit oder Moderne Frauen entwickelt Jelinek einen Gestus, der geeignet ist, die Einrichtungen der geometrischen Optik der Widerspiegelung mit ihren Bühnen, Rollen, Figuren, Entitäten, Geschlechtern, Repräsentationen, Reflexionen etc. wirklich einstürzen zu lassen. Und zwar deshalb, weil ihr Gestus darin besteht, etwas zu lassen, zu verlassen, zu verwerfen, wegzuwerfen, zu entfernen und sich zu entfernen und dies alles zu vollziehen. Es geht nicht mehr um die Produktion mit großem P und den Aufstand dagegen. Es geht nicht mehr um den Bruch, die Überwindung, den Anti-Diskurs und die Anti-Produktion, sondern um das Verlassen des Musters. Sich entfernen und den Menschen dort zurücklassen, wo er hingehört: ins Bild. Von der Behauptung übergehen in eine Tätigkeit, die enthauptet.

313 Ivan Nagel, „Lügnerin und Wahr-Sagerin, Über Elfriede Jelinek zum Büchner-Preis 1998“, in ders., Schriften zum Drama, Berlin 2011, 301-311. Ich halte mich eng an die Beschreibung Nagels, die auch das folgende Zitat aus den Salzburger Nachrichten ausweist, hier 304.

314 Ebd., 305.

315 Ebd., 303.

316 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Eine Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M./New York 1992. Ich folge der Hauptthese Laqueurs trotz der Kritik, die eine wesentlich ältere Geschlechterbinarität einklagt: Es ist jedoch ein paradigmatischer Unterschied, ob die Geschlechter in einer geschaffenen Gattung unterschieden werden oder ob sie das Gattungswesen selbst darstellen sollen.

317 Slavoj Žižek bestätigt die hier vertretene These vom ‚letzten Hemd‘ auf seine Weise, wenn er schreibt, dass die Geschlechterdifferenz „der letzte Bezugspunkt bleibt, der das kontingente Abdriften der Sexualität verankert“. Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, bes. 363-385, hier 376.

318 Nagel, „Lügnerin und Wahr-Sagerin“ ebd., S. 305.

319 Elfriede Jelinek, „Nachbemerkung“, in dies.: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek bei Hamburg 1999, 85 - 90, hier 90.

320 Elfriede Jelinek, Über Tiere. in: stets das Ihre. Elfriede Jelinek, hrsg. von Brigitte Landes, Berlin 2006, S. 115-128, hier S. 125.

321 Erika als „Herrin“, in: Elfriede Jelinek, Die Klarvierspielerin, Reinbek bei Hamburg 1986, z.B. S. 63.

322 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung zum Menschengeschlecht, Berlin 1780.

323 Friedrich Balke, Mimesis zur Einführung, Hamburg 2018, 121.

324 Elfriede Jelinek, Raststätte oder Sie machens alle, Programmbuch Nr. 130, Burgtheater Wien (Hg.) 1994, 15.

325 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie der politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, 56.

326 William Shakespeare, King Richard II / König Richard II., Englisch/Deutsch, Stuttgart 1976. Zitate werden im Fließtext mit Akt/Szene/Verszeile in Klammern ausgewiesen.

327 Elfriede Jelinek, Schatten (Eurydike sagt), in: Theater heute 10/2012 (Beilage), 4. Folgend werden die Zitate durch die Seitenzahl (in Klammern) im Fließtext ausgewiesen.

328 Siehe hierzu Karen Barads posthumanistische performative Auffassung materieller Körper, sowohl der menschlichen als auch der nicht-menschlichen. Vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2012.

329 Elfriede Jelinek, Krankheit oder Moderne Frauen. Wie ein Stück, Köln 1987, 6. Folgend werden die Zitate mit der Seitenzahl (in Klammern) im Fließtext ausgewiesen.

330 Paradigmatisch ist der Auftritt der Frau als Anblick auf den Bühnen der neuen Komödie in La Mandragola (1524) von Niccolò Machiavelli gestaltet worden. Ihr Anblick/Auftritt bilden Fabel und Struktur der ganzen Komödie. Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, 245-255.

331 Michel Foucault, „Nachwort“, in ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963), aus dem Französischen von Walter Seitter (1973), Frankfurt a. M. 1988, 206-219, hier 206.

332 Foucault, ebd., 207 (kursiv i.O.).

333 Bei Foucault heißt es: „im Bezugsrahmen des Todes wahrgenommen, wird die Krankheit erschöpfend lesbar und sie öffnet sich restlos der sezierenden Tätigkeit der Sprache und des Blicks.“, ebd.

334 Elfriede Jelinek, Burgtheater. Posse mit Gesang, in dies., Theaterstücke, hg. von Ute Nyssen, Köln 1984, 102-150, hier 107.

335 Paula Wesselys Bekenntnis zum ‚volksdeutschen Reich‘ 1938, ihr Einsatz für den NS-Propagandafilm und deren groteske Verdrängung in der Nachkriegszeit sind mit Jelineks Stück Burgtheater (1985) neuerlich und nachdrücklich ins Bewusstsein gehoben worden. Vgl. Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens, München 2005, 59-135.

336 „Das Massenwesen wird jetzt entkleidet“, Elfriede Jelinek, Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek 1999, 20.

337 Das Menschengeschlecht, Frankfurt a. M. 1987. Der Bericht von Robert Antelme, der 1944 als Résistance-Kämpfer in das KZ Buchenwald deportiert wurde und überleben konnte, wurde 1947 als L’espèce humaine veröffentlicht und erst vierzig Jahre später erstmals ins Deutsche übertragen von Eugen Helmlé.

338 Die Schwarz-Weiß-Logik der Dichotomie bezeichnet eine Struktur aus zwei Teilen, die einander ohne Schnittmenge gegenüberstehen. Die dreiteilige Anforderung – einander konfrontiert, gegenüber und sich nicht überschneiden – ist nach dem Bild zweier Einzelwesen modelliert und zitiert nicht von ungefähr auch die moderne Bühnenform mit ihrer konfrontativen Anordnung von Akteuren und Publikum. Diese Anordnung ist außerhalb der geometrischen Optik der Widerspiegelung (als Spiegel- und Bildlogik) undenkbar und versagt völlig, wenn Paare wie Singular/Plural in das binär-hierarchische Schema eingetragen werden sollen.

339 Heiner Müller, Hamletmaschine, in ders., Werke 4. Die Stücke 2, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001, 543-554, hier 554.

340 „Von 1730 bis 1735 wurde nur noch von Vampiren gesprochen … Es ist offensichtlich, dass der Strukturalismus diese Art des Werdens nicht berücksichtigt, da er nur geschaffen wurde, um ihre Existenz zu leugnen oder zumindest herabzuwürdigen.“ Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, 317-422, hier 232 f.

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