Dieser Abend ist wie der neueste Film von Quentin Tarantino. Man glaubt zu wissen, wie die Geschichte ausgeht, aber dann kommt alles anders. Oliver Frljić eröffnet mit „Anna Karenina oder Arme Leute“ nach Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski die Spielzeit auf der großen Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters. Dort sind Schienen auf Schwellen verlegt, eine kleine Gleisanlage mit Kreuzung, Spurwechsel unmöglich (Bühne Igor Pauška). Das Leben verläuft auf vorgegebenen Bahnen, wobei auch manche unter die Räder geraten. Anna Karenina ist es an diesem Abend nicht, so viel sei verraten.
Frljić nimmt die beiden Klassiker der russischen Literatur, um deren Personal in einer neuen Anordnung auftreten zu lassen – als Vertreter des Widerspruchs der Klassen und der Geschlechter. Zwei sich kreuzende Logiken, die in der Überschneidung nicht ineinander aufgehen. Der Regisseur, sowieso nicht als ein Meister der feinen Nuance bekannt, demonstriert mit „Anna Karenina oder Arme Leute“ einmal mehr, wie man mit dem Holzhammer inszeniert. A girl and a gun, auf diese einfache, aus dem Film bekannte Formel verlässt sich am Ende auch Frljić. Und die von Lea Draeger gespielte Anna Karenina als Angehörige der oberen Klassen darf sich entscheiden, ob sie mit ihresgleichen sterben oder lieber gemeinsam mit...